Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Saarbruecker Zeitung
21. Dezember 2001
Das Nadelöhr im Erleben und die Folgen

Seit dem Fall der Mauer vor zwölf Jahren wird in periodischen Abständen "der Wenderoman" von den Feuilletons ausgerufen. Da sich aber all die "Wenderomane" von Thomas Brussig bis Ingo Schulze ganz und gar nicht ähneln, dürfte einem unterdessen aufgegangen sein, dass es ihn auch gar nicht geben kann. Ebenso wenig wie "den Liebesroman", sondern dass es allenfalls viele individuelle Wende-Erlebnisse und künstlerische Verarbeitungsweisen gibt. Eine junge Autorin aus Potsdam, Julia Schoch (Jahrgang 1974) verwebt die politische Wende sozusagen als Stimmungsmalerei im Hintergrund mit den persönlichen Umbrüchen im Leben ihrer Protagonisten.

Ihre Erzählungen sind im Niemandsland angesiedelt, sie spielen nicht jetzt und nicht damals, nicht hier und nicht dort, sondern in dem schmalen Grenzgebiet, das die Fantasie bewohnt. Julia Schoch ist eine Grenzgängerin zwischen Realität und Traum, der wirklichste Ort ist der des poetischen Augenblicks im Alltag. Gleichwohl sind die realen Orte der Erzählungen genau benannt: Bukarest, die Havel-Seen um Potsdam und die berühmte Glienicker Brücke, der unpassierbare Steg zwischen Ost und West. Julia Schoch ist auch Grenzgängerin der politischen Systeme. Den Zusammenbruch der DDR hat sie als Jugendliche erlebt, in einem Lebensabschnitt, in dem bereits die Bahnen für ihren zukünftigen gesellschaftlichen Platz festgelegt wurden. Ihre Eindrücke in der Ruderinnen-Riege im Potsdamer Sportinternat, der Olympionikenschmiede der DDR, hat sie in der Titelerzählung "Der Körper des Salamanders" verarbeitet. Konkret und in ihrem Falle auch autobiografisch beschreibt sie die Qualen des Trainings in der Februarkälte, die leider wiederum nicht kalt genug ist, um die Havel zufrieren zu lassen und damit das Training zu verhindern.

Kälte und Nässe, Trostlosigkeit der Umgebung und unbarmherziger Drill lassen die Ich-Erzählerin verzweifeln; sie möchte schreiben, doch es kommt keine Zeile zustande. Stattdessen bricht das Fantastische in ihren Alltag als Steuerfrau herein: Sie träumt sich als Forscherin im Urwald, im Gebüsch tauchen Wilde auf . Durch ihre Tagträume bringt sie mehrmals ihre Ruderinnen und das Boot in Gefahr, und schließlich lässt sie es durch einen Zusammenstoß mit einem Dampfer kentern. Der Augenblick des Unterganges wird zum Moment der Befreiung: Das Gedicht, das schon lange in ihr schlummerte, nimmt Form an. Es ist der Mut zum Spielen, der Schochs Prosa neben der sehr schönen Sprache auszeichnet. Gedankenspiele erweisen sich als wirksamer als jede noch so schnöde Realität.Immer wieder in den Erzählungen gibt es dieses Nadelöhr im Erleben, das eine Uminterpretation des Geschehens bewirkt, von Verlieren zu Gewinnen, von Gefahr zu Amüsement, von Unglück zu Glück. Immer setzt Julia Schoch in eine melancholische Betrachtung einen grotesken Kontrapunkt - eine talentierte Sprachspielerin.

Elisabeth Richter

Julia Schoch: Der Körper des Salamanders. Erzählungen. Piper Verlag, 172 Seiten. 29,80 Mark.

 


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