Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Spiegel Online
24.06.2002

Die Radfahrer

16 Autoren, 7 Juroren und 100.000 Fernsehzuschauer - am 30. Juni wird der Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt vergeben. Die Schriftstellerin Katrin Askan war im vergangenen Jahr bei dem Wettbewerb dabei und beschreibt, was die Kameras nicht zeigen.

Es beginnt schon beim Einsteigen in die Maschine der Tyrolean Airways in Wien, spätestens aber nach der Landung in Klagenfurt im Bus, der die Passagiere zum Flughafengebäude befördert. Taxierende Blicke: Wer gehört dazu? Wer wird lesen, wer richten, wer später berichten über die Veranstaltung, die im Jahr 2001 "25. Tage der deutschsprachigen Literatur" heißt? Dicht vor mir stehen zwei, die sich nicht interessiert umblicken wie alle anderen, sie diskutieren über einen Film. Die Frau verteidigt ihn lautstark, der Mann, nicht minder wortreich, aber leiser, wendet Vorbehalte ein, die jedoch seltsam belanglos bleiben. Ich könnte mitreden, ich kenne den Film. Ich halte ihn für misslungen.

Einige Minuten später stehe ich mit meiner Reisetasche vor dem Flughafen. Taxifahrer warten auf die Autorinnen und Autoren. Wir treffen uns fast alle zum ersten Mal. Einige sagen sehr gern ihre Namen und sind auch sonst äußerst gesprächig, andere eher zurückhaltend, sie wirken irgendwie verschreckt. Ich fühle mich ein bisschen wie im Ferienlager.

Der Wettbewerb findet im ORF-Theater statt, ich kenne den Ort bereits, das ist ein Vorteil, den ich mit einer anderen Autorin der diesjährigen Runde teile: Wir waren schon einmal in Klagenfurt zum "Literaturkurs" eingeladen, der so genannten "Häschenschule". Hier werden, einige Tage vor dem eigentlichen Wettbewerb, junge Autorinnen und Autoren außer Konkurrenz von Tutoren betreut (und mit etwas Glück von Verlagen "entdeckt"). Sie können dann noch bleiben und die Hauptveranstaltung mitverfolgen. Wenn sie später einmal dafür nominiert werden, wissen sie bereits, dass am ersten Abend im vollen Saal vor laufenden Kameras die Reihenfolge der Lesungen ausgelost wird. Dazu müssen die Autoren einzeln auf die Bühne, und das ist für viele, die in zerknitterten Reisesachen und ungekämmt erschienen sind, ein Schock. Es sind mindestens zehn Meter bis nach vorn, wo die Juroren schon im Halbkreis sitzen. Die erste und die letzte Startnummer bedeuten schlechte Gewinnchancen, das ist Statistik, und die Auslosung ist der einzige Moment, an dem das Glück allein regiert. Sie ist wie ein Initiationsritus, und wer von den 16 Autoren wieder auf seinen Platz im Auditorium zurückgekehrt ist, kann zunächst ausruhen; zurücklehnen darf er sich auf den rückenfreien Bänken nicht.

Der "schönste Betriebsausflug der Literatur" hat begonnen. Es gibt zu essen, zu trinken, man ist unter sich am ersten Abend im Park vor dem ORF-Theater. Die Stimmung ist fröhlich, noch ist alles offen, keiner verletzt, jeder wird wie der künftige Sieger behandelt, selbst die Bedienung. Inzwischen habe ich die beiden aus dem Flughafenbus wiederentdeckt. Es sind zwei Juroren. Die Art, wie sie über diesen Film debattierten, wird sich in den nächsten zweieinhalb Tagen nach jeder der 16 Lesungen wiederholen. Nur, dass sie dann noch mit fünf anderen diskutieren.

Der Wettbewerb ist eine Art Nachmittags-Talkshow für Intellektuelle. Es gibt Tränen, kein Blut, manchen reicht das nicht. Notorisch sind die Klagen über Klagenfurt: Das Niveau der Veranstaltung werde von Jahr zu Jahr schlechter. Da wird an Erinnerungen die Messlatte gelegt, die längst durch ihren phantastischen Eigenwert schillern. Dabei muss die fehlende Leidenschaft der Kritiker nicht unbedingt ein Indiz für einen schlechten Text sein. Übrigens gilt für das Gegenteil dasselbe. In jedem Fall wird der Text eher durch die Diskussion als durch die Lesung publikumswirksam. Eine Diskussion, in die sich nicht einmal der jeweilige Autor einmischen darf.

Als ich endlich an der Reihe bin und gelesen habe, komme ich mir vor wie eine Patientin, deren Krankheit jetzt gleich diagnostiziert wird. Öffentlich. Ich sitze im Scheinwerferlicht, inmitten der Experten, sie sind sich nicht einig. Schlimmer als jedes Urteil, so vernichtend es auch gemeint sein mag, ist das Wissen, dass Fernsehkameras noch das geringste Wimpernzucken aufzeichnen und weitergeben an eine Menge, die echte Gefühle sehen will. Das finde ich draußen vor den Bildschirmen bestätigt, auf denen die Veranstaltung übertragen wird: Die Konzentration der Zuschauer lässt bei den halbstündigen Lesungen meist schon nach fünf bis zehn Minuten sichtlich nach. Wenn unmittelbar danach die Kritikerrunde zur Diskussion anhebt, rücken alle wieder dichter an die Bildschirme heran. Besonders aufmerksam wird zugehört, wenn ein Text verrissen wird. Dann sieht man auf den Gesichtern ein leuchtendes Interesse, und wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht, welchen Autor oder welche Autorin es jetzt gerade erwischt. Von da an haftet ihm oder ihr dieses Urteil an; manche können es gleich wieder abschütteln, bei anderen bleibt es lange hängen, einige tauchen nach Klagenfurt nie wieder auf.

Diejenigen, die hier öfter herkommen (das sind die Autoren normalerweise nicht), wissen bereits, dass sie sich so schnell wie möglich um ein Fahrrad kümmern müssen. Es gibt in der Stadt einige Ausleihstationen, die sind spätestens am zweiten Veranstaltungstag leer. Der gesamte Literaturbetrieb radelt. Nicht immer den Verkehrsregeln entsprechend, pendeln Lektoren, Verleger, Journalisten, Buchhändler, Agenten und Autoren zwischen ihren Hotels und dem am Stadtrand gelegenen ORF-Theater hin und her. In der Pause und nach den Lesungen stehen die Räder vor Restaurants oder am wenige Kilometer entfernten Wörther See. Es gibt nämlich auch eine gemeinschaftliche Badesession. Auf Freiwilligenbasis und ohne Fernsehkameras. Manche kommen deshalb gern, andere bleiben vielleicht gerade deshalb fern. Erst am Abend finden sich (fast) alle wieder ein im "Loretta", einem Restaurant am See. Es soll noch bessere Lokale hier geben, doch das Gemisch aus Gruppenzwang und Gemeinschaftsgefühl siegt. Man sitzt an langen Tischen und lässt Vorlieben erkennen: So wie sich die einen für Fisch entscheiden (der aus dem See stammen soll) und die anderen für Steak und Salat, bleiben neben manchen Plätze frei, während um andere herum Stuhlreihen aufgebaut werden. Aus diesen Ecken kommt das meiste Gelächter. Dennoch vergisst wohl keiner, ab und zu einen Blick auf die Autoren zu werfen. Die sollten sich nicht in unmittelbare Nähe eines Juroren setzen. Sie würden sonst den Verdacht auf sich ziehen, ihn irgendwie beeinflussen zu wollen. Im Übrigen versuchen auch die Juroren, den Autoren auszuweichen, was manchmal angestrengt wirkt. Die Ausnahme hiervon ergibt sich aus der Wettbewerbsordnung: Schließlich ist jeder teilnehmende Autor von einem Juror nominiert worden, und diesen beiden ist auch das vertraute Gespräch miteinander jederzeit erlaubt.

Am Samstagnachmittag, nach der letzten Lesung, gibt es einen anderen Wettbewerb: das obligate Fußballspiel der Fernseh-Mannen des ORF gegen die männliche Auswahl der Literaturszene. Das Feld wirkt ein bisschen zu weitläufig für die Spieler, doch das macht nichts, der Ball trifft ab und zu ein Tor, und schließlich gewinnen die Literaten zum ersten Mal gegen die Fernsehleute. Das ist ein viel versprechendes Omen.

Sonntag gewinnen die Literaten auch, vier jedenfalls, für mehr reichen die Preise nicht. Das öffentliche Abstimmungsverfahren ist spannend, aber ein wenig kompliziert. Auch ich bin, wie die vor mir Ausgezeichneten, bis zum letzten Augenblick verunsichert, ob ich denn nun wirklich gewonnen habe, ein eindeutiges Indiz dafür ist eigentlich nur, dass plötzlich die Kameras schwenken und die Objektive mir ins Gesicht zielen - und das in einem Moment, in dem niemand seine Freude oder seine Enttäuschung öffentlich preisgeben will.

Der eigentliche Wettbewerb endet auf dem Flughafen nicht. Er verläuft sich von hier aus zu anderen Austragungsorten, an die Schreibtische in Zeitungen, Verlagen und Privatwohnungen. Zwei Maschinen der Tyrolean Airways bringen die meisten Teilnehmer fast zeitgleich nach Frankfurt und Wien. Einige verabschieden sich herzlich voneinander, andere drehen sich nur den Rücken zu. Keiner beschwert sich darüber; verletzten Stolz kennen alle in diesem Geschäft.

 


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