Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Süddeutsche Zeitung
18.07.2002
Halb-Outsider

Marina ist hübscher: Mirko Bonnés Roman „Ein langsamer Sturz“

„Noch in der Luft, bevor seine Maschine sicher landete, sah er durchs Bordfenster, dass auf dem Nachbarrollfeld ein Unfall passiert war.“ Ein guter erster Satz, eine sofort vorstellbare Situation. Das große Propellerflugzeug, das der Mann sieht, liegt halb auf dem Grasstreifen, halb auf der Piste: „Über die Rumpfunterseite schlängelten sich silberne Furchen, mächtige Kratzer, Spuren vom Schlittern.“ Anschaulich beschrieben. Wie reagiert der Mann? „Kein Grund zu jubeln. Unverletzt besah er sich das Wrack wie einer, der vom Himmel gefallen kommt. Er konnte Arme und Beine bewegen, doch gerade das kam ihm unwirklich vor. Als lande er in einem Zwischenreich.“ Die zuerst etwas gesucht wirkende Identifikation liest sich überzeugender, wenn man weiß, dass Mario Ries, der Held von Mirko Bonnés neuem Roman „Ein langsamer Sturz“ in der verunglückten Maschine hätte sitzen sollen.

Das Motiv des eben noch seinem Schicksal Entkommenen ist gut bekannt. Wie auch das Spiel mit dem Buchtitel, das schon auf Seite 15 verdeutlicht wird: „Sein Sturz hatte wie ein gewöhnliches Straucheln angefangen.“ Statt also auf dem Flughafen Izmir Bruch zu landen, wie sein tödlich verunglückter Kollege Hakan, der ihm in seiner Hamburger Agentur in letzter Zeit vorgezogen worden war, darf Mario Ries, der für das Dreihafenstädte-Programm Hamburg-Marseille- Izmir Kultur-PR macht, das ganze Buch hindurch trudeln, schlittern, stürzen.

Kränkliche Misanthropie

Schon hier wird deutlich, dass dieser Mario kein Heros ist, sondern eher ein Würstchen, ein Angestellter eben, der in einem allenfalls halb befriedigenden Organisationsjob immer unglücklicher agiert, dem selbst zum heldischen Loser-Dasein jede Begabung fehlt: In Hamburg lebt Mario unglücklich getrennt von seiner Freundin und seiner kleinen Tochter. In Marseille fängt er betrunken mit der Frau vom Fremdenverkehrsamt etwas an, die wie Hakan in der verunglückten Maschine saß, aber verletzt überlebt hat. All das bereitet Mario Magenschmerzen.

Nicht nur durch seine Nähe zur Tourismusindustrie ist Bonnés Figur verwandt mit Michel, dem Helden von Houellebecqs jüngstem Roman „Plattform“. Auch dessen kränkliche Misanthropie, dessen Tendenz zu sozial nicht korrekten Gedanken und Verhaltensweisen teilt er: In Südfrankreich verzichtet Mario gern auf den Mont St. Victoire-Trip; statt dem „Landesinneren“ hat er sich beim ersten Izmir-Besuch mit Exfreundin Rebecca lieber Schuhe angesehen; und, nein, „er wusste nicht, worin sich Kurden von Türken unterscheiden und wollte es auch gar nicht wissen.“ Mario ist allerdings kein offener Anti-68er-Pöbler wie Michel, wirkt gemäßigt apathisch, kennt, wahrnehmungsschwach, das überall angepriesene Fremde aus „den Medien“.

Die Parallele zu Houellebecqs Michel bedeutet nicht Kopie. Eher zeigt sie eine wachsende soziale Relevanz dieses Typus von Misanthrop, des nicht unintelligenten Halb-Outsiders unter sich gern glücklich gebenden Funktionären der Dienstleistungsindustrie. Mario wie Michel sind keine Hirngeburten, sondern platt wirklichkeitsgetreue Figuren in platt realistischen Romanen. Der heutige kleinbürgerliche „Fremde“ weiß leidlich funktionierende Sozialversicherungen hinter sich. Sein Absturz erfolgt per Flugzeug oder durch Depression aufgrund verarmter sozialer Kontakte, trotz laufender „Meetings“.

Abstöpseln

Wie verheerend die Gesellschaft als öde Reisegruppe wirkt, hat schon Michel, aber auch sein Schöpfer Houellebecq erlebt. „Plattform“ scheitert unter anderem an der Trostlosigkeit, die sich ergibt, wenn einer das ebenso trost- wie beziehungslose Milieu des Massentourismus in aller Breite realistisch darzustellen versucht. Und einen ähnlichen Fehler begeht auch Mirko Bonné (der in diesem Jahr beim Klagenfurther Bachmann-Wettbewerb den dritten, den Ernst-Willner-Preis erhielt). Nach einem geglückten Anfang, den man sofort als Beitrag zum in der deutschsprachigen Literatur bekanntlich seltenen Genre des ebenso intelligenten wie realistischen Unterhaltungsromans akzeptiert, verliert er sich nach einem guten Drittel des Romans in die kleinteilige Darstellung eines Milieus, dessen Erbärmlichkeit man schon nach drei bis vier einfallslosen Dialogen begriffen hat.

Ähnlich gelangweilt wie Ries seine Papp-Kollegen aus der europäischen Kultur-Event-Produktion wahrnimmt, wirkt auch Bonnés Präsentation seiner vielen Nebenfiguren. Keine beansprucht das Interesse des Lesers, aber brav müssen einmal in Gang gesetzte Handlungen abgestöpselt werden. Eine selbst auferlegte Verpflichtung, in der sich Bonné verheddert, in der seiner Sprache, die anfangs einiges leistet, schnell die Luft ausgeht: „Walter machte ein Nickerchen, kam jedoch rechtzeitig zu sich, um Zeuge zu werden, wie Udo Grün auf dem Platz des Reiseleiters sitzend zu großer Form auflief und durchs Mikrofon ausgedachte Sehenswürdigkeiten schilderte. Silke mit Schweißhalbkreisen unter den Achseln chauffierte den Bus geduldig durch die Vorstadtstaus, nur ab und an hörte man sie keuchen (...).“ Silke, genau, das ist die Frau, die über das Kurden-Problem Bescheid weiß. Marina heisst die Hübschere.

 


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