Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt |
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Der Standard | |||
06. März 2002 | |||
Lots verlassene Töchter proben den Aufstand | |||
Bei der Veranstaltungsreihe "Literatur im März" gastieren unter dem Titel "Frauen - was nun?" Schriftstellerinnen aus aller Welt in der Kunsthalle. Unter ihnen Christine Angot, deren Bekenntnisroman "Inzest" für einen Skandal sorgte. Cornelia Niedermeier Wien - Inzest als literarisches Thema ist annähernd so alt wie die Geschichte des Schreibens selbst. Man muss nicht eigens an Ödipus erinnern, selbst das Alte Testament weiß von Lots Töchtern zu berichten, die sich zu ihrem Vater in die Höhle legten. Zumal im sexuell bis zur Abgeklärtheit aufgeklärten 21. Jahrhundert dürfte das Thema kaum für moralische Entrüstung sorgen. Es mag also an der dem Pariser Literaturbetrieb eigenen Begabung zum alljährlichen Skandal liegen, dass im Herbst 1999, dem Jahr nach Michel Houellebecqs Elementarteilchen, just der siebte Roman ei- ner bis dato durchaus unskan- dalösen Autorin, der 1959 geborenen Christine Angot, Inzest, medienwirksam zum Skandal ausgerufen wurde. Es mag aber auch am ungeschriebenen Gesetz der Literatur liegen, das gebietet, den realen Gehalt der Dichtung durch ein Mindestmaß an poetischer Tarnung zu verrätseln. Fiktionaler Inzest ist Tat als Metapher. Realer Inzest - Verführung Minderjähriger - ist Verbrechen: Ist die schriftliche Offenlegung des zurückliegenden Verbrechens in der Sprache des Opfers per se Opferprosa? Christine Angot weigert sich dezidiert, das poetische Ich der Erzählerin von dem eigenen abzuspalten. Die Parallelen sind biografisch rückzuverfolgen: Als 14-Jährige trifft sie erstmals auf den Vater, dessen Eleganz sie betört. Er beginnt die Jugendliche sexuell zu missbrauchen: sein Fleisch der entfremdeten Tochter einzutätowieren, wie es die deutsche Autorin Dea Loher in ihrem Drama Tätowierung ins blutige Bild fasste. Dem Wahnsinn nahe In Frankreich sorgte Angots Zwang zum Bekenntnis - mehrfach erklärte sie, allein das Schreiben habe sie vor dem Wahnsinn bewahrt - durch ihre mangelnde Schonung realer Personen für Entrüstung. Im Publikumsmagazin Paris Match verstieg man sich gar zu der Meinung, das eigentliche Verbrechen läge nicht im sexuellen Missbrauch an der Autorin, sondern in ihrem Schreiben darüber. Heilige bürgerliche Doppelmoral. Dass man sich im deutschen Sprachraum selbst ein Urteil über das Buch bilden kann, ist dem kleinen Tropen-Verlag in Köln zu danken. Der vielseitig begabte Verleger, Übersetzer und Dramaturg Christian Ruzicska übertrug gemeinsam mit Colette Demoncy den Text, sorgsamst Christine Angots getriebenen Rhythmus nachvollziehend. Der Band erschien im vergangenen Sommer und verkaufte sich auch hier, ohne Skandal, 15.000-mal. Nun erscheint dieser Tage bei Tropen Angots nächstes Buch, gewissermaßen die Fortsetzung von Inzest: Die Stadt verlassen beschreibt die biografische Konsequenz der Enthüllung. Die Aggression in Montpellier, der Stadt, in der sie gelebt hatte, ließ sie ins größere, anonymere Paris ziehen, wo sie heute mit ihrer Tochter lebt. Öffentlicher Mut Weibliches Schreiben als bewusstes Veröffentlichen erlittener Traumata
in einer noch heute männerdominierten Gesellschaft - hierin liegt
der Skandal Angots. Weshalb die Autorin konsequent auch keinen öffentlichen
Auftritt scheute. Heute Abend (21 Uhr) wird Christine Angot in Wien in
der Kunsthalle im Museumsquartier aus ihrem neuen Buch lesen, im Rahmen
der Eröffnungsveranstaltung der diesjährigen "Literatur
im März", die heuer unter dem Motto Frauen - was nun? die weibliche
Seite gegenwärtiger Literatur auszuloten verspricht. Wie viel sich in den letzten Jahren hinsichtlich der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Liebe gesellschaftlich getan hat, ist in den Romanen der 15 Jahre jüngeren, 1974 in Potsdam geborenen Antje Rávic-Strubel zu erspüren. Beide Romane, die Rávic-Strubel bisher bei dtv veröffentlicht hat, Offene Blende und Unter Schnee, erzählen Liebesbeziehungen unter Frauen mit einer Selbstverständlichkeit, die keines Coming-outs mehr bedarf. In klarer, strenger Prosa, für die sie 2001 beim Klagenfurter Wettlesen mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet wurde, schreibt sie Szenen der Fremdheit, der Unmöglichkeit, ins Innere der anderen vorzudringen. Beide Romane waren ursprünglich als Ost-West-Liebesgeschichten gedacht: In Offene Blende trifft Christiane, die Ostdeutsche, die Staat und Vergangenheit noch vor dem Fall des Vorhangs floh, in New York auf Lea; im kurzen Episodenroman Unter Schnee verbringen Evy und Vera Ferien im tschechischen Schnee. Die äußerliche Fremde jedoch tritt in den Hintergrund vor der grundsätzlichen Unmöglichkeit von Nähe. Fremd bleibt Antje Rávic-Strubel bis heute auch in der Berliner
Literaturszene, wenngleich sie seit Jahren in Berlin lebt. Die Popliteratur
in ihrer Widerspiegelung medialer Welten ist ihr fremd geblieben. Geradezu
altmodisch wirkt ihre unsentimentale Ernsthaftigkeit im hektischen Trubel
der Wiedervereinigungshauptstadt. |
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