Rückzug statt Neuland bei den26. Tagen
der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.
Von Christa Gürtler
Der Schweizer Autor Hugo Loetscher sprach in
seiner Klagenfurter Rede zur Eröffnung der 26. Tage der deutschsprachigen
Literatur von der neuen Rolle der Literatur in einer globalisierten
Welt. Worüber schreiben nun sechzehn Autoren aus Deutschland, Österreich
und der Schweiz in dieser Übergangszeit, in der die Geschichte
erst beginnt, wie Hugo Loetscher meint, während alles bisher
Geschehene nur Regionalgeschichte war?
Es sei das Jahr des Verwandtensterbens,
resümierte die Wiener Literaturwissenschaftlerin Konstanze Fliedl
bereits am zweiten Tag des Wettlesens angesichts einer Vielzahl von Texten,
die ihre erzählerische Aufmerksamkeit dem Privatleben widmeten. Offenbar
wenden sich viele Autoren und Autorinnen lieber von der Welt ab und dem
Mikrokosmos von Familien und Beziehungen zu. Und sie erzählen davon
zumeist traditionell und unambitioniert, ohne Risikos einzugehen. Einige
der sieben Jurymitglieder (Konstanze Fliedl, Pia Reinacher, Denis Scheck,
Robert Schindel, Burkhard Spinnen, Birgit Vanderbeke, Thomas Widmer),
die für die Einladungen verantwortlich sind, klagen dann vor laufenden
Kameras darüber, dass das Niveau der Texte in diesem Jahr
wie übrigens in jedem Jahr äußerst mittelmäßig
sei.
Und in der Tat war man froh über die wenigen herausragenden Edelsteine
in einer Literaturlandschaft, in der mehrfach das Motiv der Versteinerung
auftauchte, am beeindruckendsten in der Krankengeschichte von Raphael
Urweider, einem literarischen Requiem, das den 3SAT-Preis erhielt.
Publikum für komplexen Text
Wie man die Geschichte einer stagnierenden Ehe in einer höchst musikalischen
Sprache kunstvoll erzählen kann, bewies der Tiroler Autor Christoph
W. Bauer. Er war bisher mit seinen zwei Lyrikbänden nur wenigen Eingeweihten
bekannt und gewann zur Überraschung aller den heuer erstmals vergebenen
Kelag-Publikumspreis, der mittels E-mail-Votum ermittelt wurde. Dass sich
gerade die Fernsehzuseher für einen der sprachlich avanciertesten
Texte entschieden, sollte auch Fernsehverantwortlichen und Kritikern des
Wettbewerbs zu denken geben, die am liebsten lauter verkaufsträchtige
Pop-Literaten in Klagenfurt und am Bildschirm sehen möchten, die
sie für Garanten einer zeitgemäßen literarischen Auseinandersetzung
mit der Realität halten.
Auffallend oft wurde der Abschied von den Eltern inszeniert. In Mirko
Bonnés Auszeit erzählt ein Bruder über die
Krankheit seiner Zwillingsschwester, deren schubweise Anfälle allein
das System Familie stabilisieren und die Familienidylle erhalten. Für
seinen melancholischen und unaufgeregten Blick auf eine psychische Krankheit
erhielt er den Ernst-Willner-Preis. Als Görenprosa bezeichnete
einer der Juroren ganz treffend den Text Heul doch von Melanie
Arns, der mit 22 Jahren jüngsten Teilnehmerin am Wettbewerb, die
zwar nicht mit einem Preis bedacht wurde, deren literarische Talentprobe
aber überzeugte. Rotzfrech denunziert sie das Gruppenbild einer Familie
mit Oma und findet dafür eine knappe tragikomische Sprache: Freitags,
samstags, sonntags: Vater und Mutter saufen sich zu Tode, alles andere
würde sie umbringen. Ungewöhnlich und an Bilder von Edward
Hopper erinnernd beschreibt Annette Pehnt in ihrer Erzählung Insel
Vierunddreißig das Drama eines begabten Kindes. Sie wurde
dafür mit dem Preis der Jury ausgezeichnet. So präzise und glasklar
distanziert wurde selten vom Erwachsenwerden erzählt, und noch seltener
von einem Vater, der auf liebevolle Weise die Leidenschaft der Tochter
wecken möchte.
Geschichte von Nichts
Den mit 21.800 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis 2002 erhielt Peter
Glaser für seine Geschichte von Nichts, der einzigen
Geschichte, die paradoxerweise in die Zukunft weist. Der in Graz geborene
und in Berlin lebende Peter Glaser ist nach Gert Jonke und Franzobel erst
der dritte Österreicher, dem dieser Preis just an seinem 45. Geburtstag
überreicht wurde. Als einziger Autor reagiert Peter Glaser im Sinne
Hugo Loetschers in seinem Text auf die Welt im Zeichen der Globalisierung.
Für eine Beziehung kann das allerdings bedeuten, per SMS auf zwei
Leerzeichen mit drei Leerzeichen zu antworten, auf einer Reisebewegung,
die von Kairo über Athen und Italien bis nach Hamburg führt.
In diesem Panoptikum ist die Welt im Handlungszeitraum Herbst 2001 nicht
ausgeblendet, sondern im Bewusstsein der Protagonisten durch Vermittlung
der Medien eben auch präsent, vom Nahostkonflikt bis zum 11. September,
beiläufig und unspektakulär.
Warum allerdings so viele der eingeladenen
Autorinnen und Autoren lieber den Rückzug antreten anstatt Neuland
zu betreten, bleibt eines der Rätsel dieses Wettbewerbs. Man sollte
sich vielleicht an Ingeborg Bachmann erinnern, die für den Schriftsteller
ein Denken einfordert, das Erkenntnis will und mit der Sprache und
durch Sprache hindurch etwas erreichen will. Nennen wir es vorläufig:
Realität.
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