Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Tiroler Tageszeitung
29.06.2002
"Wettlesen" um Bachmann-Preis zu Ende gegangen

Mit den Lesungen der beiden Österreicherinnen Elfriede Kern ("Tabula Rasa") und Helga Glantschnig ("Verschollen") sowie der Deutschen Melanie Arns ("Heul doch") und des Schweizers Raphael Urweider ("Steine") ist am Samstag das "Wettlesen" um den 26. Ingeborg Bachmann-Preis zu Ende gegangen. Während Glantschnigs Text fast einhellig verrisen wurde, stießen Kerns und Urweiders Geschichten auf geteilte Meinungen. Die "Görenprosa" Arns wurde mehrheitlich als gelungene Talentprobe bezeichnet. Am Sonntag werden die 26. "Tage der deutschsprachigen Literatur" mit der Preisvergabe abgeschlossen.

"Tabula Rasa" der in Linz lebenden Kern dreht sich um die Bewältigung der inneren Schuld der Ich-Erzählerin am Tod ihrer Schwester. "Sehr beeindruckt" zeigte sich Jurorin Pia Reinacher - sowohl von der "plastischen Bildkraft" als auch vom Bau der Geschichte. "Ausgezeichnet und gut gelungen, ich gratuliere" assistierte Juy-Vorsitzender Robert Schindel. Ebenso Konstanze Fliedl, für die "Tabula Rasa" eine "Hexengeschichte" darstellt: Kern sei eine Expertin für das Unheimliche aus dem Alltäglichen heraus. Weniger beeindruckt waren Denis Scheck, Birgit Vanderbeke und Thomas Widmer: Scheck fühlte sich an die alte TV-Sendung "Am laufenden Band" erinnert, bei der die Kandidaten Gegenstände, die an einem Band vorbeiliefen, memorieren mussten. Man müsse sich die grauenhaft überdeutlichen Symbole im Text merken und interpretieren. Insgesamt wärte dies "unheimlich langweilig". Widmer ortete formale Mängel: Der Text bestehe nur aus aneinandergereihten Hauptsätzen. Von der Struktur her erinnert Widmer "Tabula Rasa" an einen Videoclip, spontan falle ihm etwa Madonnas "Papa Don't Preach" ein.

Mit Ausnahme Fliedls einhellig verrissen wurde Glantschnigs "Verschollen", in der die Autorin über einen anstehenden Selbstmord schreibt. Vanderbeke mochte "Notwehr beantragen", Scheck ortete zum Teil "hölzernstes Beamtendeutsch" und vermochte absolut kein Interesse für die Hauptfigur des Textes aufzubringen: "So gehts nicht." "Entsetzlich protokollierend geschrieben", fand Widmer und fühlte sich an die Polizeisprache der 70er Jahren erinnert. "Ich komme schnell in die Geschichte hinein und werde gleich wieder ausgespuckt", kritisierte eine "sehr unglückliche" Pia Reinacher. Etwas gnädiger war Schindel: Der Text sei ein hohes Risiko eingegangen, die Autorin aber einem "Konstruktionsirrtum" erlegen. Sie habe offenbar versucht, die inneren Zustände der Selbstmörderin "eins zu eins" in den Duktus der Sprache umzusetzen. Dies misslinge in der Literatur aber immer. Doppeldeutig die Reaktion der Autorin ganz am Schluss: "Vielleicht sollte man öfters in den Wörthersee springen."

Für Lacher sorgte Arns Text "Heut doch", in der sie eine Familie karikiert. "Görenprosa" ortete Widmer, "die Simpsons sind endgültig Teil der deutschen Literatur geworden". Trotz des "fehlenden existenziellen Zitterns, das gute Literatur in mir auslöst", wertete Scheck den Text als gelungene Talentprobe. Weiter ging noch Schindel: Arns habe den Text erstaunlich gut bewältigt, man werde in Zukunft noch viel von ihr hören. Reinacher sprach von einer gelungenen Karikatur einer Familie, bei der die Pointen säßen. Zwar gebe es auch belanglose Feststellungen, insgesamt sei es aber ein gut gemachter Text. Fliedl sprach von einer "charmanten Etüde in Jugendsprache", etwas skeptischer zeigte sich Burkhard Spinnen: Auch er erkenne zwar Talent, allerdings würden Klischees und Stereotypen abgerufen. Vermisst habe er auch die Liebe zu den Figuren.

Über die Angst vor einer bevorstehenden Operation erzählte Urweider in "Steine". Vanderbeke fühlte sich von dem Text "bedrängt und gezwungen", ihr Widerstand rühre von der zu simplen Übersetzung eines so komplexen Geschens wie der Krankheit in die Metapher der Steine. Kritik übte sie auch an der "Lyrisierung von Prosa": "Das ist eine Litanei, die wir hier hören". Gefallen an Rhythmus und Sound des Textes äußerten Widmer und Reinacher. Letztere lobte auch die Verklammerung von Lyrik und Prosa auf einem hohen Niveau. Schindel und Spinnen verglichen den Text mit einem Requiem. Der Text gefalle ihm, weil er den Eigensinn einer Weltbetrachtung an Hand eines möglichen Sterbens betrachte, so Schindel.

 


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