Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Tiroler Tageszeitung
28.06.2002
"Wettlesen" um den 26. Ingeborg Bachmann-Preis hat begonnen

Jörg Matheis (D) eröffnete mit "Schnitt" - Nina Jäckle (D) folgte mit "Buchenhofstaffel" - Juroren uneins.


Mit der Lesung des deutschen Autors Jörg Matheis (Jahrgang 1970) begann heute, Donnerstag, in Klagenfurt das "Wettlesen" um den "Ingeborg Bachmann Preis". Matheis trat zum Auftakt des Wettbewerbs der "26. Tage der deutschsprachigen Literatur" mit dem Text "Schnitt" an. Es folgte Nina Jäckle (D) mit "Buchenhofstaffel". Am Donnerstag lesen noch Anette Pehnt (D), Markus Ramseier (CH), Lukas Bärfuß (CH), Mirko Bonne (D) und mit Heinz Heisl der erste von insgesamt fünf österreichischen Autoren.

Matheis Text zentrierte sich um den empfindsamen Ich-Erzähler Holzmann, der als Beobachter, als Architekt und als Fotograf einer Basketball-Spielerin Eindrücke "aus der Wahrheit schnitt". Der Text wurde von den Juroren höchst unterschiedlich bewertet. Als einen "verheißungsvollen, gelungenen Auftakt" sah Juror Denis Scheck (D) den in "Snapshots" erzählten Text. Juryvorsitzender Robert Schindel bezeichnete "Schnitt" als "couragiert angegangenes Unternehmen" mit einer "ziemlich vordergründig bemerkbaren Konstruktion, die in Details manchmal sich selbst verschluckt". Die enthaltenen Gegensätze zwischen Natur und Synthetischem seien "vielleicht ein bisschen überkommen".

Lobte der "begeisterte" Burkhard Spinnen (D) die "Vielzahl von Zeichen" des Textes, die sich in einer Art "Slalom-Parcours oder Labyrinth" der eindeutigen Interpretation entziehen, fühlte sich die Bachmann-Preisträgerin von 1990, Birgit Vanderbeke, von eben dieser Vielzahl des "überfrachteten und gleichzeitig leblosen" Textes "gestört": "Dauernd Wörterrätsel" entziffern zu müssen, sei "ermüdend", insbesondere, "als es keinen Erkenntnisgewinn einbringt". Thomas Widmer (CH) monierte, dass - vergleiche man den Text mit einem Flipper - "nicht glaubwürdig gezeigt wird, warum diese Kugel Holzmann im Spiel bleibt".

Die in Berlin lebende Jäckle (Jahrgang 1966) las ihren Text "Buchenhofstaffel". Eine Beschreibung von Kindheitseindrücken um ein Haus mit Garten, in dem die eine Hälfte eines genau an der Gartengrenze stehenden Kirschbaums gefällt werden sollte. Der Text, der den Umgang der Kinder und der Mutter mit dem Sterben des Vaters erzählt, wurde von Scheck (unter Buhrufen) als "Lesebuchgeschichte für die Unterstufe", als ein "blutleer anämischer" Aufsatz "für die sechste, siebte Schulstufe" bezeichnet. Der Text sei "Legoland, erzählt". Spinnen bezeichnete dies als "ungeheuerliche Bemerkungen".

Widmer gefiel es "sehr", wie die "polyphone Famile instrumentiert ist", jedoch vertraue die Autorin zu sehr auf das "Erfolgsprinzip dieser Familienorgel". Konstanze Fliedl (A) meinte, dass der Text die gleiche "Artigkeit" aufweise wie die in ihm geschilderten Kinder. "Sentimental" würde der Text in seinen formalen Zirkelbildungen. Unter Applaus meinte Schindel, "Ich weiß nicht was ihr habt". Er finde den Text "ausgezeichnet" und in seinen Mitteln "angemessen". Als "Geschichte des Erkennens des ersten Todes" sei der Text "sehr berührend". Schindel sehe den Baum auch "nicht als Symbol. Man muss ja nicht in alles etwas hineingeheimnissen".

Der Schweizer Markus Ramseier (Jahrgang 1955) trat als dritter Autor mit dem Text "Steinzeit" im Wettlesen um den "Ingeborg Bachmann-Preis" an. Ihm folgte der 1952 in Innsbruck geborene Heinz Heisl, der erste von fünf Österreichern im Bewerb, der unter dem Titel "Die Rechtfertigung des Alltäglichen oder drei Worthäuser in der Straße des jungen Er" Ausschnitte aus einem Roman las. Heisl beendete den ersten Lesevormittag. Am Nachmittag (ab 15 Uhr) folgen Lukas Bärfuß und Mirko Bonne.

Ramseiers "Steinzeit" behandelt in elf Szenen den Rückblick einer Frau auf ihr Leben, die ein "Steinkind" ("Lithopädion"), also einen Fötus, der unbemerkt im Mutterleib verkalkt, auf die Welt brachte. Durchgängig zieht sich ein Steinmotiv durch ihr Leben, der Text schildert für Konstanze Fliedl "was passiert, wenn alles versteinert". Obwohl die Thematik von "Steinzeit" für Denis Scheck "eigentlich hochspannend" ist, fühle er sich "etwas hilflos" im Umgang mit den elf Szenen. "So schön die einzelnen Beobachtungen sind, sie sind nur additiv aneinander gereiht". Das Strukturprinzip leuchtet "nicht wirklich ein".

"Ein Text kann zersplittert sein, wie er will. Aber am Ende muss er sich zusammensetzen und einen gewissen Erkenntniswert auslösen", meinte auch Pia Reinacher: "Das sehe ich bei diesem Text nicht". Reinacher nannte den Text ein "erzählerisches Trümmerfeld". Das "Problem" des Textes sei, dass wenn der Steinfötus aus der Konstruktion entfernt würde, eine "relativ willkürliche Chronik eines Frauenlebens" über bliebe, meinte Robert Schindel. Burkhard Spinnen sah der Prosa mit dem Fötus einen "Strahler" aufgesetzt, in dessen Licht "dann alles leuchten und bedeuten soll, was ansonsten nicht leuchten würde".

Heisls Roman-Ausschnitte behandlen in drei Abschnitten eine Geburtssituation, eine Schlachtszene, bei der das Schlachtobjekt zu fliehen versucht und wieder eingefangen wird, und den Tod eines Großvaters in einem Altersheim. Konstanze Fliedl meinte, der Text sei "einfach zu viel". Man werde mit einem "Trommelwirbel an Metaphern beschossen" und habe keinen "Atemraum oder Denkraum". Die Dichte sei vergleichbar mit in einem "winzigen Kämmerchen" eingesperrten Mitglieder eines Riesenorchesters, die "in großer Geschwindigkeit ihre Symphonien spielen müssen". Robert Schindel, der Heisl vorgeschlagen hatte, meinte, das Alltägliche sei "eben dieses Symphonieorchester auf zwei Quadratzentimetern". Der Text sei eine "Rechtfertigung des Alltäglichen in unerhörten Vorgängen". In Heisls Text werde Sprache nicht als Medium, sondern "direkt als Organ" verwendet. Die "unheimlich schöne Stelle" beim Tod des Großvaters, auf Grund dessen die Welt still stehe, zeige eine indirekte Form der Trauer, die "ich noch nie vorher so gelesen habe".

Thomas Widmer lobte die Leseleistung des Autors, der aus "diesem trockenen Text so etwas wie einen Kriminalroman" machte. Jedoch fehle "jede Stringenz" im Personal. Die Sprache könne sich nicht entscheiden zwischen Poetik und Realitätsnähe. Auch seien "einige Klischees" im Text zu finden gewesen. Dies meinte auch Denis Scheck, der vor allem das Bild der Metzger im Zusammenhang mit Tod als "zu klischeehaft" bezeichnete. Es würde auch "zuviel kommentiert".

Mit den Lesungen des Schweizers Lukas Bärfuß (Jahrgang 1971) und des deutschen Autors Mirko Bonne (Jahrgang 1965) endete der erste Tag des "Wettlesens" um den "Ingeborg Bachmann-Preis". Bärfuß las aus der Novelle "Die toten Männer". Bonne las die Erzählung "Auszeit".

Bärfuß' Text zeigte aus der Sicht eines Ich-Erzählers sein Zusammentreffen mit einer ehemaligen Freundin, mit seiner Mutter, die er gerade wegen ihrer Gefühlskälte liebe, und nach einer ausführlich geschilderten Reise eine Schlussszene am Sarg eines Verstorbenen, wo er im Kampf mit einer Schmeißfliege Slapstick-haft unterliegt. Nahezu einhellig wurde der für das Wettlesen "unglücklich" gewählte Textausschnitt kritisiert, was zu einer kurzen Grundsatzdiskussion in der Jury über die prinzipiellen Nachteile von mit Ausschnitten aus größeren Werken antretenden Autoren führte. Ausschnitte beurteilen zu müssen führe zu "ungeheurem Unbehagen" (Konstanze Fliedl): "Wir müssen ungerecht sein, weil wir nicht wissen können, was an Potenzialität in diesem Text steckt". Schindel appellierte an alle künftigen Kandidaten, die mit Ausschnitten aus Werken antreten, sich "viel mehr Mühe zu nehmen" bei der Komposition des Vorgelesenen.

Nicht nur Fliedl konstatierte eine "fehlende sprachliche Präzision des Autors", Schindel sprach gar von "Schlampigkeit". Birgit Vanderbeke verteidigte ein von ihr ebenfalls für "sprachliches Ungeschick" herangezogenes Beispiel aus dem Text gegen Nachfragen von Thomas Widmer, der Bärfuß vorgeschlagen hatte. Widmer meinte, dass ihm der Text "immer noch" gefalle. Es handele sich dabei um eine "sehr witzig, unterschwellig funktionierende" Erzählung aus der Sicht eines "Feiglings", der bei jeder Gelegenheit in seiner Fantasie "verdampfen" wolle. Burkhard Spinnen hat sich bei dem Text "sehr gelangweilt". Pia Reinacher sah einen "zweigeteilten" Text mit "sehr starken" und "enorm klischeehaften" Momenten. Beispielsweise die Wendung, dass die Ex-Geliebte "wundervoll" sei: "Frauen sind immer wundervoll", so Reinacher.

Die Erzählung "Auszeit" von Mirko Bonne beschreibt einen mehrere Tage dauernden Krankheitsanfall einer Frau aus der Sicht ihres (Zwillings-)Bruders. Der bereits fünfte mysteriöse Krankheitsschub in Jennys Leben wird von ihrem Bruder Rainer und der Mutter in einer für den Leser irritierend ambivalenten Weise erlebt - den Anruf der Mutter hatte Rainer mit "verzweifelter Vorfreude" erwartet, heißt es etwa. Den Mittelteil des Textes bildet die Beschreibung einer Wanderung, die Rainer in seiner "Auszeit", jenen Tagen, in denen ihn die Mutter bei der Betreuung der Schwester ablöst, unternimmt.

Konstanze Fliedl zeigte sich "enorm beeindruckt" von der "absoluten Schlichtheit" und der "großen Ökonomie der Mittel", mit der Bonne die abgründige und unheimliche Geschichte einer Familie erzählt, die anfängt, über die Krankheit glücklicher zu sein als über die Realität. "Entsetzlich harmlos" hingegen fand Thomas Widmer diese Schlichtheit und konnte insbesondere nichts mit den "Wanderszenen in idyllischer Bergwelt" anfangen. "Ich sehe keine Katastrophe", formulierte Birgit Vanderbeke ihre "Langeweile".

Während Pia Reinacher das "Abgründige" vermisste, die Beschreibung des Krankheitszustands als "überdehnt" kritisierte und meinte, es sei ein "Text auf hauchdünner Schicht, darunter ist gar nichts", ortete Denis Scheck eine "Doppelgängergeschichte, die auf sehr subtile Weise eine Vielzahl von Motiven aktiviert". "Der Text spielt ganz klar über die Bande", meinte auch Schindel, der Bonne vorgeschlagen hatte: Vordergründig handle "Auszeit" von der kranken Schwester, tatsächlich sei es ein Text über die intensive und bedrückende Einsamkeit des Bruders. Auch Spinnen lobte die "Rafinesse" des Textes, der "zwei radikal verschiedene Geschichten" verschränke, was eine Reaktion wie bei einer Atombombe auslösen könne.

 


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