Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Aargauer Zeitung
01.07.2002
Ein Triumph der Welthaltigkeit

Seit der Erfindung der Kulturindus-trie im Allgemeinen und des Literaturbetriebs im speziellen ist die Selbsthinterfragung eines ihrer respektive seiner wesentlichsten Charaktermerkmale. Im Gegensatz zum Weltfussballturnier und anderen sportlichen Ausmarchungen, wo mit dem Anpfiff des ersten Spiels jeweils alle Forderungen nach Strukturreformen und personellen Neuerungen schlagartig zu verstummen pflegen, sind literarische Wettkämpfe wie Buchmessen (wo es um um die Marktanteile geht), Nobelpreisvergaben (um die Ehre) oder eben Bachmannpreise (um die Karriere) immer auch Foren kritischer Nabelschau.

Diese Erwartung erfüllten die ges-tern mit der Siegerkür zu Ende gegangenen «26. Tagen der deutschsprachigen Literatur» spielend. Inbrünstig dis-kutiert wurde etwa die in der Tat höchst fragwürdige Zauberformel, nach der die siebenköpfige Jury drei deutsche, zwei österreichische und zwei Schweizer Mitglieder haben muss. Dieser, das unterschiedliche intellektuelle Potenzial der einzelnen Länder sträflich ignorierende Verteilschlüssel gilt, seit das grenzübergreifende 3sat das Klagenfurter Treffen live überträgt und den ehemals brancheninternen Talentschuppen so zum telegenen Kampflesen umfunktioniert hat.
Allmählich dämmert den Fernsehverantwortlichen jedoch, dass diese auch bei der Autorenauswahl angewandte Regelung vermutlich mehr zum allseits beklagten Qualitätsverfall der Traditionsveranstaltung beiträgt als die allerorten aus dem Boden spriessenden Schreibschulen, die, so Jurypräsident Robert Schindel, «zwar sprachliches Kunsthandwerk, aber keine reale Leidenschaft für Welt und Wort» vermitteln könnten.

Ironisches Gefühlskino mit zeitgeschichtlichen Einsprengseln

Womit der Wiener Schriftsteller gleichsam die Losung für die diesjährige, nicht gerade im Zeichen grosser Debattierlust stehenden Austragung vorgegeben hatte. Nach einem Tag grantigem und vergeblichem Herumstochern in erkalteten Buchstabensuppen, wo einzig Mirko Bonné die Kampfrichterherzen zu erwärmen mochte (und dafür immerhin den Ernst-Willner-Trostpreis garnierte), wurde die Jury am Freitagmorgen dann endlich erstmals fündig. Und die Erleichterung über die obsessive Humoreske des österreichischen Stadtneurotikers Peter Glaser war so gross, dass dem 45-Jährigen für seine (sprachlich jedoch auch nicht mehr als wohltemperierte) «Geschichte von Nichts» prompt der mit gut 30 000 Franken dotierte Ingeborg-Bachmann-Preis zuerkannt wurde.
In dem filigran gebauten Text schildert Glaser mit souveräner, weil ironisch vielfach gebrochener Empathie die zwischen Kairo und Hamburg spielende Flucht eines separierten Liebes-paars vor der Langeweile des verord- neten Lebens - und ein wenig auch voreinander. Dabei kokettiert der in Berlin lebende und nebenbei journalis-tisch tätige Autor auch mit Motiven aus der Zeitgeschichte. Die Palette reicht vom Nahostkonflikt bis zum 11. September, wobei Letzterer jedoch dankenswerterweise in einem Satz lakonisch abgefackelt und nicht zum stimmungsprägenden Epochenbruch stilisiert wird.

Urweider als einziger Schweizer prämiert

Dass diese gelegentlich etwas arg explizite Welthaltigkeit letztlich den Ausschlag im 4:3-Stichentscheid gegen den insgesamt überzeugenderen Beitrag von Anette Pehnt, 35, gegeben hat, darf indessen bezweifelt werden. Schliesslich lässt sich Pehnts «Insel Vierunddreissig» überschriebenes Drama eines hochbegabten Kinds durchaus als bissige Fussnote zur Pisa-Diskussion lesen. Wie dem auch sei: Unumstritten war auch im Fachpublikum, dass die fabulierlustige Freiburgerin und der grotes-ke Grazer heuer in Klagenfurt eine Klasse für sich bildeten, zu der allenfalls noch das wunderbar rotzige Jungtalent Melanie Arms den Anschluss halten konnte. Von den fünf angetretenen Schweizern (wirklich ausnahmslos Männer) schaffte es einzig der Berner Raphael Urweider aufs viel begehrte Medaillentreppchen. Seine von einem Todkranken handelnde und wie ein Requiem durchkomponierte Prosaskizze «Steine» überzeugte durch ihre Musikalität, Bilderkraft und - Sprachleidenschaft. Ein wohltuend horizontweitender, besinnlich wirkender Ausgleich in einem geradezu realitätsversessenen Wettbewerb.

Die Preisträgter: Peter Glaser (A): Ingeborg-Bachmann-Preis 2002. Anette Pehnt (D): Preis der Jury. Mirko Bonné (D): Ernst-Willner-Preis. Raphael Urweider (CH): 3Sat-Preis. Christoph W. Bauer (A): Kelag Publikumspreis.

 


Kontakt
ORF Kärnten Ingeborg-Bachmann-Preis
Sponheimer Straße 13,  A- 9020 Klagenfurt
Tel: 0463-5330-29528 (Binia Salbrechter)
e-mail: bachmann.preis@orf.at

Webmaster:
ORF ON Redaktion Kärnten
Sponheimer Straße 13,  A- 9020 Klagenfurt
Tel: 0463-5330-29191, 29192
e-mail: kaernten.online@orf.at


© 02.07.2002
ORF ON Kärnten Aktuell Jet2Web - Telekom