DAS 26. KLAGENFURTER WETTLESEN: PETER GLASER GEWINNT
DEN HAUPTPREIS MIT SEINER «GESCHICHTE VON NICHTS»
«Texte um nichts», hat einst Samuel
Beckett eins seiner Bücher betitelt, das wir als hermetische Bibel
der literarischen Moderne zu verehren gelernt haben. Wer heute als junger
Autor nicht als unbedarfter Frischling oder traditionsvergessener Pop-Schnösel
in Erscheinung treten will, der schickt seine Reminiszenzen in Richtung
Beckett.
Von Michael Braun
So hat uns auch der Schriftsteller und Software-Exeget Peter Glaser in
Klagenfurt eine prompt mit dem Hauptpreis (21 800 Euro) bekränzte
«Geschichte von nichts» beschert. In einer ironisch abgeklärten,
leicht melancholischen Manier surft Glaser durch Zeiten und Kontinente,
durch Wüsten, Meere und Computerbildschirme und entfaltet auf knappstem
Raum ein Dutzend origineller, manchmal etwas pointensüchtiger Geschichten,
und sein Held verzeichnet massenweise Begegnungen der dritten Art mit
dem «Nichts». Das kann die Beschwörung einer Textstelle
aus F. Scott Fitzgeralds Roman «Der Grosse Gatsby» sein, die
überhaupt nicht existiert; das kann der Genuss von nach nichts schmeckender
Mozzarella sein, oder aber der Held verweist auf philosophische Befunde:
«Das Nichts ist das Glück; man bezahlte uns, es zu stören.»
Peter Glaser zeigt uns den Wahrnehmungsapparat eines Helden im digitalen
Zeitalter, dem die Ereignisse seiner Epoche im buchstäblichen Sinn
gleich-gültig geworden sind. Soeben noch bewegt sich der Held durch
Kairo und sucht das Geheimnis der Pyramiden, da reist er im nächsten
Moment schon seiner sterbenden Tante nach Hamburg hinterher, ein kaltes
Medium im Zentrum der Simultaneität. Wie beiläufig werden private
Befindlichkeiten und Weltereignisse
nebeneinander notiert, der denkwürdige 11. September schrumpft hier
zur Marginalie.
Gruppenbild
Glasers Text in seiner etwas eitel ausgestellten postmodernen Machart
fiel völlig aus dem Rahmen eines Wettbewerbs, in dem die meisten
Autoren einem sehr alten Spiel, nämlich dem ödipalen Evergreen
der familialen Katastrophenphantasie huldigten. «Vater-Mutter-Kind»:
Diese in einem atemlosen Text der Literaturnovizin Melanie Arns hervorgestossene
Basisformel wurde bei den 26. «Tagen der deutschsprachigen Literatur»
in allen nur denkbaren Varianten heruntergebetet. So blätterte man
mehr oder weniger erfolgreich im Familienalbum der Traumata und neurotischen
Urszenen, und gelangte erwartungsgemäss zu den einschlägigen
Gruppenbildern der Entfremdung und zu den verstörenden Standfotos
des Wahnsinns. Dass man die Familie zu den kleinsten, aber gefährlichsten
kriminellen Vereinigungen rechnen muss diese alte böse Einsicht
wurde in unterschiedlichsten Fallgeschichten durchgespielt.
Volksheld
Die beklemmenden, traurigen, auch höllischen Szenen der familialen
Entfremdung, der gefährdeten Kindheit und des drohenden Wahnsinns
begegneten einem auf jeder zweiten oder dritten Seite der Klagenfurt-Manuskripte.
Zum Beispiel bei Nina Jäckle mit ihrem konsequent aus der Kinderperspektive
erzählten Text über das allmähliche Zerbröckeln einer
Familienidylle oder auch bei dem als Lyriker bekannt gewordenen Christoph
W. Bauer mit seinem akribischen Psychogramm einer langsam zerfallenden
Durchschnittsehe. Das Publikum erkor sich Bauer zum Volkshelden und schmückte
ihn mit dem erstmals per Internet-Votum vergebenen Kelag-Preis (5000 Euro).
Die von vielen bestaunte Musikalität und Rhythmizität von Bauers
Text erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als pathetische Politur,
dick aufgetragen durch eine preziös-verschmockte Syntax. Das «Vater-Mutter-Kind»-Drama
wurde von der jungen Melanie Arns in eine aggressive «Gören-Prosa»
(Thomas Widmer) gewendet und zu einem giftigen Familienverfluchungs-Panorama
aufgeladen. Ausgerechnet diesem spät-pubertären Amoklauf im
Barbie-Puppen-Format wollte Jurorin Birgit Vanderbeke, die während
der Klagenfurter Tage einzig durch ungebremsten Subjektivismus auffiel,
den Hauptpreis zuerkennen. Dieses Debakel wurde aber noch mal abgewendet.
Die intelligenteste Expedition auf das schwierige Terrain familiärer
Beziehungsgeflechte riskierte Mirko Bonné mit seiner Geschichte
einer komplizierten Geschwisterliebe. Die rätselhafte Erkrankung
einer jungen Frau, die in Anfälle von Veitstanz mündet, rüttelt
an der fragilen Balance der familiären Beziehungen und stürzt
den Protagonisten, den Bruder der Erkrankten, in eine tiefe Krise. Für
seine sehr diskrete, verhaltene Erzählung dieses Krisenzustands wurde
Mirko Bonné mit dem Ernst-Willner-Preis (8500 Euro) belohnt.
Musterschülerin
Und selbst Annette Pehnts einhellig bejubelte und mit dem Preis der Jury
(10 000 Euro) ausgezeichnete Geschichte eines Aufbruchs ins Unbekannte,
einer obsessiven Sehnsucht nach einer geheimnisvollen Insel kann man ja
als Familiengeschichte und als Drama eines begabten Kindes lesen. Mit
sehr schlicht gebauten, aber genauen Sätzen erzählt Annette
Pehnt von dem Erwachsenwerden einer Musterschülerin, der alles mühelos
gelingt, die aber eines Tages aus ihrem wohl geordneten Leben herausfällt,
als sie ihre Leidenschaft für eine rätselhafte Inselgruppe unweit
einer nicht näher bezeichneten Küste entdeckt. Die geheimnisvolle
«Insel vierunddreissig» ist von zahlreichen Gerüchten
umschwirrt, fast ein tabuierter Ort, der von den Küstenbewohnern
gemieden wird. Für die einen verheisst die Insel erotische Glücksversprechen,
für die andern ist sie nur ein unwirtlicher Ort mit katastrophalem
Klima. Das Rätsel wird erzählend umkreist, aber nicht aufgelöst.
Götterliebling
Und die Schweizer Autoren? Die notorische Unterbewertung ihrer Texte,
die in den vergangenen Jahren zu einer unseligen Klagenfurter Tradition
geworden ist, schien sich zunächst fortsetzen zu wollen, als nicht
nur der hoch gehandelte Lukas Bärfuss und Daniel Zahno glatt durchfielen,
sondern eben auch Markus Ramseiers hoch symbolische Erzählung «Steinzeit»
als übercodiert zurückgewiesen wurde. Aber da war ja noch Raphael
Urweider, der Götterliebling der jungen Lyrik, ein Glückskind
auch in Klagenfurt. Markus Ramseier hatte zwar den gleichen symbolischen
Raum betreten wie am letzten Lesungstag Raphael Urweider in seiner dann
mit dem 3sat-Preis (7500 Euro) bedachten Erzählung «Steine».
Während Ramseier in seiner äusserst dicht mit lakonischen Sätzen
bestückten Geschichte ständig die Perspektive wechselt, um die
Geschichte eines im unbemerkt im Mutterleib mumifizierten Fötus zu
erzählen, verlässt sich Urweider in seiner lyrisch aufgeladenen
Prosa ganz auf die Rhythmizität seiner Textbewegung, die ständig
naturgeschichtliche Stein-Motive beschwört, um den tragischen Kern
der Geschichte einzukreisen. Dieser Kern ist die Angst des Erzählers
vor dem «Hirnstein», einem Tumor, der den Sprechenden an den
Ursprung der Erdgeschichte zurückführen wird, in den Staub.
Mit ihrer etwas gezwungenen wirkenden Begeisterung für die Siegertexte
von Glaser und Pehnt hat sich die Jury ihr markantes Unbehagen am Anwachsen
erzählerischer Magerkost austreiben wollen. Aber auch das wird nicht
viel helfen. Zwar ist «die dreitägige Geiselnahme der Literaturgesellschaft»
(Denis Scheck) in Klagenfurt noch einmal glimpflich verlaufen. Aber ein
literarischer Ausnahmezustand mit unerhörten Auftritten und sensationellen
Entdeckungen ist in Klagenfurt trotz televisionärer Dauerpräsenz
von 3sat nicht mehr zu erwarten. Der Bachmann-Wettbewerb ist keine von
Verheissungen, Provokationen und Faszinationen umschwirrte «Insel
vierunddreissig» mehr, auf der sich der literarische Königsweg
für Autoren öffnet. Man kann inmitten der badelustigen Literaturfreunde
am Wörthersee allenfalls die eigenen Notierungen an der Literaturbörse
ein wenig verbessern. Viele professionelle Beobachter klagen schon, dass
die mittlerweile legendären Wortmeldungen des Jurors Burkhard Spinnen
weit mehr literarische Dignität besitzen als die Wettbewerbs-Texte
selbst. Das darf man ein Menetekel nennen.
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