Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Basler Zeitung
01.07.2002
Begegnungen mit dem grossen Nichts am Wörthersee

DAS 26. KLAGENFURTER WETTLESEN: PETER GLASER GEWINNT DEN HAUPTPREIS MIT SEINER «GESCHICHTE VON NICHTS»

«Texte um nichts», hat einst Samuel Beckett eins seiner Bücher betitelt, das wir als hermetische Bibel der literarischen Moderne zu verehren gelernt haben. Wer heute als junger Autor nicht als unbedarfter Frischling oder traditionsvergessener Pop-Schnösel in Erscheinung treten will, der schickt seine Reminiszenzen in Richtung Beckett.


Von Michael Braun


So hat uns auch der Schriftsteller und Software-Exeget Peter Glaser in Klagenfurt eine prompt mit dem Hauptpreis (21 800 Euro) bekränzte «Geschichte von nichts» beschert. In einer ironisch abgeklärten, leicht melancholischen Manier surft Glaser durch Zeiten und Kontinente, durch Wüsten, Meere und Computerbildschirme und entfaltet auf knappstem Raum ein Dutzend origineller, manchmal etwas pointensüchtiger Geschichten, und sein Held verzeichnet massenweise Begegnungen der dritten Art mit dem «Nichts». Das kann die Beschwörung einer Textstelle aus F. Scott Fitzgeralds Roman «Der Grosse Gatsby» sein, die überhaupt nicht existiert; das kann der Genuss von nach nichts schmeckender Mozzarella sein, oder aber der Held verweist auf philosophische Befunde: «Das Nichts ist das Glück; man bezahlte uns, es zu stören.» Peter Glaser zeigt uns den Wahrnehmungsapparat eines Helden im digitalen Zeitalter, dem die Ereignisse seiner Epoche im buchstäblichen Sinn gleich-gültig geworden sind. Soeben noch bewegt sich der Held durch Kairo und sucht das Geheimnis der Pyramiden, da reist er im nächsten Moment schon seiner sterbenden Tante nach Hamburg hinterher, ein kaltes Medium im Zentrum der Simultaneität. Wie beiläufig werden private Befindlichkeiten und Weltereignisse
nebeneinander notiert, der denkwürdige 11. September schrumpft hier
zur Marginalie.


Gruppenbild


Glasers Text in seiner etwas eitel ausgestellten postmodernen Machart fiel völlig aus dem Rahmen eines Wettbewerbs, in dem die meisten Autoren einem sehr alten Spiel, nämlich dem ödipalen Evergreen der familialen Katastrophenphantasie huldigten. «Vater-Mutter-Kind»: Diese in einem atemlosen Text der Literaturnovizin Melanie Arns hervorgestossene Basisformel wurde bei den 26. «Tagen der deutschsprachigen Literatur» in allen nur denkbaren Varianten heruntergebetet. So blätterte man mehr oder weniger erfolgreich im Familienalbum der Traumata und neurotischen Urszenen, und gelangte erwartungsgemäss zu den einschlägigen Gruppenbildern der Entfremdung und zu den verstörenden Standfotos des Wahnsinns. Dass man die Familie zu den kleinsten, aber gefährlichsten kriminellen Vereinigungen rechnen muss – diese alte böse Einsicht wurde in unterschiedlichsten Fallgeschichten durchgespielt.


Volksheld


Die beklemmenden, traurigen, auch höllischen Szenen der familialen Entfremdung, der gefährdeten Kindheit und des drohenden Wahnsinns begegneten einem auf jeder zweiten oder dritten Seite der Klagenfurt-Manuskripte. Zum Beispiel bei Nina Jäckle mit ihrem konsequent aus der Kinderperspektive erzählten Text über das allmähliche Zerbröckeln einer Familienidylle oder auch bei dem als Lyriker bekannt gewordenen Christoph W. Bauer mit seinem akribischen Psychogramm einer langsam zerfallenden Durchschnittsehe. Das Publikum erkor sich Bauer zum Volkshelden und schmückte ihn mit dem erstmals per Internet-Votum vergebenen Kelag-Preis (5000 Euro). Die von vielen bestaunte Musikalität und Rhythmizität von Bauers Text erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als pathetische Politur, dick aufgetragen durch eine preziös-verschmockte Syntax. Das «Vater-Mutter-Kind»-Drama wurde von der jungen Melanie Arns in eine aggressive «Gören-Prosa» (Thomas Widmer) gewendet und zu einem giftigen Familienverfluchungs-Panorama aufgeladen. Ausgerechnet diesem spät-pubertären Amoklauf im Barbie-Puppen-Format wollte Jurorin Birgit Vanderbeke, die während der Klagenfurter Tage einzig durch ungebremsten Subjektivismus auffiel, den Hauptpreis zuerkennen. Dieses Debakel wurde aber noch mal abgewendet.
Die intelligenteste Expedition auf das schwierige Terrain familiärer Beziehungsgeflechte riskierte Mirko Bonné mit seiner Geschichte einer komplizierten Geschwisterliebe. Die rätselhafte Erkrankung einer jungen Frau, die in Anfälle von Veitstanz mündet, rüttelt an der fragilen Balance der familiären Beziehungen und stürzt den Protagonisten, den Bruder der Erkrankten, in eine tiefe Krise. Für seine sehr diskrete, verhaltene Erzählung dieses Krisenzustands wurde Mirko Bonné mit dem Ernst-Willner-Preis (8500 Euro) belohnt.


Musterschülerin


Und selbst Annette Pehnts einhellig bejubelte und mit dem Preis der Jury (10 000 Euro) ausgezeichnete Geschichte eines Aufbruchs ins Unbekannte, einer obsessiven Sehnsucht nach einer geheimnisvollen Insel kann man ja als Familiengeschichte und als Drama eines begabten Kindes lesen. Mit sehr schlicht gebauten, aber genauen Sätzen erzählt Annette Pehnt von dem Erwachsenwerden einer Musterschülerin, der alles mühelos gelingt, die aber eines Tages aus ihrem wohl geordneten Leben herausfällt, als sie ihre Leidenschaft für eine rätselhafte Inselgruppe unweit einer nicht näher bezeichneten Küste entdeckt. Die geheimnisvolle «Insel vierunddreissig» ist von zahlreichen Gerüchten umschwirrt, fast ein tabuierter Ort, der von den Küstenbewohnern gemieden wird. Für die einen verheisst die Insel erotische Glücksversprechen, für die andern ist sie nur ein unwirtlicher Ort mit katastrophalem Klima. Das Rätsel wird erzählend umkreist, aber nicht aufgelöst.


Götterliebling


Und die Schweizer Autoren? Die notorische Unterbewertung ihrer Texte, die in den vergangenen Jahren zu einer unseligen Klagenfurter Tradition geworden ist, schien sich zunächst fortsetzen zu wollen, als nicht nur der hoch gehandelte Lukas Bärfuss und Daniel Zahno glatt durchfielen, sondern eben auch Markus Ramseiers hoch symbolische Erzählung «Steinzeit» als übercodiert zurückgewiesen wurde. Aber da war ja noch Raphael Urweider, der Götterliebling der jungen Lyrik, ein Glückskind auch in Klagenfurt. Markus Ramseier hatte zwar den gleichen symbolischen Raum betreten wie am letzten Lesungstag Raphael Urweider in seiner dann mit dem 3sat-Preis (7500 Euro) bedachten Erzählung «Steine». Während Ramseier in seiner äusserst dicht mit lakonischen Sätzen bestückten Geschichte ständig die Perspektive wechselt, um die Geschichte eines im unbemerkt im Mutterleib mumifizierten Fötus zu erzählen, verlässt sich Urweider in seiner lyrisch aufgeladenen Prosa ganz auf die Rhythmizität seiner Textbewegung, die ständig naturgeschichtliche Stein-Motive beschwört, um den tragischen Kern der Geschichte einzukreisen. Dieser Kern ist die Angst des Erzählers vor dem «Hirnstein», einem Tumor, der den Sprechenden an den Ursprung der Erdgeschichte zurückführen wird, in den Staub.
Mit ihrer etwas gezwungenen wirkenden Begeisterung für die Siegertexte von Glaser und Pehnt hat sich die Jury ihr markantes Unbehagen am Anwachsen erzählerischer Magerkost austreiben wollen. Aber auch das wird nicht viel helfen. Zwar ist «die dreitägige Geiselnahme der Literaturgesellschaft» (Denis Scheck) in Klagenfurt noch einmal glimpflich verlaufen. Aber ein literarischer Ausnahmezustand mit unerhörten Auftritten und sensationellen Entdeckungen ist in Klagenfurt trotz televisionärer Dauerpräsenz von 3sat nicht mehr zu erwarten. Der Bachmann-Wettbewerb ist keine von Verheissungen, Provokationen und Faszinationen umschwirrte «Insel vierunddreissig» mehr, auf der sich der literarische Königsweg für Autoren öffnet. Man kann inmitten der badelustigen Literaturfreunde am Wörthersee allenfalls die eigenen Notierungen an der Literaturbörse ein wenig verbessern. Viele professionelle Beobachter klagen schon, dass die mittlerweile legendären Wortmeldungen des Jurors Burkhard Spinnen weit mehr literarische Dignität besitzen als die Wettbewerbs-Texte selbst. Das darf man ein Menetekel nennen.

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