Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Basler Zeitung
21.06.2002
Ein skeptischer Einzelgänger im Mäandertal

So also müssen wir uns unsere künftigen Literatur-Spektakel vorstellen: Eine Irrenanstalt, der «idios kosmos», wird zum idealen Schauplatz für den Dichterwettstreit. Die Kandidaten veranstalten grelle Performances, unterstützt von radauerprobten Fanclubs, in deren Höllenlärm der Wettbewerb im Chaos zu versinken droht. Am Ende der Groteske muss die Jury unter dem Druck von Kritik und Publikum ihre Entscheidung revidieren. Gewiss, der «idios kosmos», in dem sich verrückt gewordene Dichter mit spektakulären Auftritten ausagieren, ist eine satirische Phantasie des Schriftstellers Markus Ramseier. Aber Ähnlichkeiten mit den Turbulenzen in der selbsternannten Kapitale des Literaturbetriebs in Kärnten sind nicht unbeabsichtigt.

Von Michael Braun

Das Wettlesen als medial überreiztes Spektakulum, in dem die Akteure mehr oder weniger ferngesteuert agieren und krachende Sensationen präsentieren müssen: Obwohl die satirischen Pointen in diesem «idios kosmos» ein wenig übersteuert wirken, kommt man nicht umhin, diese Geschichte als grimmige Persiflage auf den Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb zu lesen. Die Einladung des Schweizer Jurors Thomas Widmer, sich der Klagenfurter Zerreissprobe zu stellen, hat Markus Ramseier daher mit sehr gemischten Gefühlen angenommen.
Der Klagenfurter Auftritt, so verrät er im Gespräch, sei aber für ihn eine Möglichkeit, sich selbst aus der eigenen Verkrochenheit hervorzulocken. Ramseier ist nicht der grosse Kommunikator, der sich meinungsflink in die Debatten des Betriebs einzuspeisen versteht. Im Gespräch begegnet man einem grüblerisch-tastenden, fast schüchternen Skeptiker, dem die Leidenschaft für jenes karrierebewusste Antichambrieren gänzlich fehlt, das in Klagenfurt zur selbstverständlichen Übung der Jungautoren geworden ist. Ganz bewusst hat sich der 1955 geborene Baselbieter ein Jahrzehnt lang in den Nischen des Betriebs verborgen gehalten und seine Bücher im kleinen Cosmos-Verlag publiziert, obwohl ihm Angebote aus grösseren Häusern vorlagen.

Verschlungene Seitenpfade

Bereits die Solothurner Literaturtage, wo er kürzlich aus seinem im September erscheinenden Roman «Wie küsst man einen Engel?» vortrug, erlebte er als unangenehmen Schauplatz der Selbstvermarktung, auf dem er einsam umherirrte, bis ihn eine «wunderbare Begegnung» mit drei polnischen Übersetzern aus dem leeren Smalltalk erlöste. Für die Klagenfurter Tage fürchtet Ramseier, mitten in der aufgekratzten Geschäftigkeit der abgebrühten Selbstdarsteller in einem «Totstellreflex» zu erstarren.
Wie der Held in seinem Debütroman «Mäandertal» (1994) misstraut Ramseier jeder Form gesellschaftlich verordneter «Geradlinigkeit». Er bevorzugt die Umwege, den Seitenpfad, die aus forschender Neugier geborene Abschweifung. «Die Geschichten», so erkennt sein Romanheld Philip Hitz im «Mäandertal», «liefen auseinander auf sonderbaren Wegen.» Mit seinem Helden teilt Ramseier eine Passion, die ihn hellhörig gemacht hat für die Geheimnisse von Landschaften und die historischen Wurzelgründe von Wörtern und Namen. Seit 1988 ist Ramseier als Flurnamenforscher für Baselland tätig, ein Wörter- und Namensammler, der auf oft mühsamen Recherchewegen die Bezeichnungen von Siedlungen, Wäldern, Tälern, Kuppen und Mulden rekonstruiert. Seinem Romanhelden Philip Hitz, der mitten in seinen etymologischen Exkursionen zu einer militärischen Ergänzungsübung einberufen wird, kommt bei einem seiner Quergänge die Welt abhanden.

Böse Seitenblicke

Zunächst vermag sich Hitz noch in die verhasste Pflichtübung zu fügen. Er beteiligt sich an den Sprücheklopfereien seiner Kollegen, betreibt Mimikry an die chauvinistischen Spiessbürger, die Asylbewerber als aggressive Untermenschen denunzieren. Immer wieder wagt Ramseier diese bösen Seitenblicke auf den helvetischen Kleinbürger, der seinen falschen inneren Frieden nur finden kann, wenn er sich vor der vermeintlichen Anarchie unkontrollierter Immigration in seinem Heim verbunkern und der Gärtnerei widmen kann.

Zunehmender Weltverlust

Was zunächst wie der leicht skurrile Bericht über einen zum Einzelgängertum neigenden Beamten anmutet, verwandelt sich unmerklich in die Geschichte eines Welt- und Sprachverlusts, die den Helden aus seinem Lebenszusammenhang heraus schleudert. Eines Tages, mitten in seinen militärischen Manöversimulationen, stösst Hitz im Wald zufällig auf ein zutiefst verstörtes, blutüberströmtes Mädchen. Kurz darauf entdeckt er eine Babyleiche, deponiert in einem schrottreifen Kleinwagen. Der Quergänger im «Mäandertal» wird zum Fremdkörper in seiner allzu realitätstüchtigen Umgebung. Je weiter er von seinen Dienstwegen abirrt, desto tiefer gerät er in die Labyrinthe eines Falls, der ihm über den Kopf wächst.
Der Held verirrt sich im Dickicht der Wälder, mit ihm auch sein Bewusstsein, das trotz aller Bemühungen um Klärung die Diffusion des eigenen Ich nicht aufhalten kann. So durchwandert der Held ein «Mäandertal» an Namen und Bezeichnungen, die ihre referentielle Eindeutigkeit verloren haben. Durch einen Zeckenstich an Borreliose erkrankt, bricht Hitz’ Immunsystem zusammen, er wird zum pathologischen Fall erklärt. Auch eine antibiotische Therapie kann den Weltverlust des Helden nicht aufhalten. Am Ende wählt der verstörte Landschaftsforscher wie einst der Dichter Lenz in Büchners Erzählung den Weg ins Gebirge.

Verhängnisvolle Grillen

Auch in seinen Kurzgeschichten und in seinem zweiten Roman «Das Land der letzten Meter» (1998) entwirft Ramseier Figuren, die ihren Obsessionen verfallen und dabei den Boden unter den Füssen verlieren. Da ist ein Riss, der plötzlich durch ihr Leben geht, sie fallen aus ihrer routinierten Alltäglichkeit heraus und treiben unaufhaltsam einem Abgrund zu. Im «Land der letzten Meter» ist das ein in Grössenwahnsinn verrannter Taubenzüchter, der mit einer motorisierten Voliere über China und Bangkok bis nach Pattaya reisen will, um dort mit seinen genialischen Renntauben Weltmeister zu werden. In der Erzählung «Gesang» beginnt das Verhängnis in einem südlichen Ferienort. Es ist der betörende Gesang von Grillen, der hier den Körper einer Frau okkupiert und sie fast in den Wahnsinn treibt. Keine ärztliche Therapie vermag ihre Qual zu beenden, die Ursachen ihres Leidens werden nicht aufgeklärt.
Es gehört zur Erzählkunst Ramseiers, diese Aufklärung wie jede psychologische Charakteristik seiner Figuren zu verweigern. Er zeigt den Schrecken in präzise notierten Details, ohne ihn durch beruhigende Erzählerkommentare zu domestizieren. Die Wortkargheit, der lakonische Satz und die Technik der Aussparung sind Stilprinzipien, die er perfekt einzusetzen weiss. Als literarische Hauptverbündete hat der Autor Tiere aller Art für sich rekrutiert. Das können bedrohlich zirpende Grillen oder in Minenfeldern hausende Asseln sein (wie in der mit dem Bettina-von-Arnim-Preis prämierten Kurzgeschichte «Asseln»), oder eben Renntauben, denen die wundersamsten Eigenschaften zugeschrieben werden. Auch in der Geschichte, die Markus Ramseier in Klagenfurt lesen wird, spielen Tiere eine zentrale Rolle. Es ist ein Text, so viel verrät Ramseier noch, der um das Motiv der Versteinerung kreisen wird. Wenn diese Erzählung die sprachliche Prägnanz seiner bisherigen Kurzgeschichten erreicht, braucht man um Markus Ramseiers Abschneiden in Klagenfurt nicht zu fürchten.

Markus Ramseier: «Mäandertal». Roman. Cosmos. 277 S., Fr. 37.–.

«Das Land der letzten Meter». Roman. Cosmos. 336 S., Fr. 39.–.

«Wie küsst man einen Engel?» Roman. Cosmos. 208 S., Fr. 35.– (erscheint im September).

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