So also müssen wir uns unsere künftigen Literatur-Spektakel
vorstellen: Eine Irrenanstalt, der «idios kosmos», wird zum
idealen Schauplatz für den Dichterwettstreit. Die Kandidaten veranstalten
grelle Performances, unterstützt von radauerprobten Fanclubs, in
deren Höllenlärm der Wettbewerb im Chaos zu versinken droht.
Am Ende der Groteske muss die Jury unter dem Druck von Kritik und Publikum
ihre Entscheidung revidieren. Gewiss, der «idios kosmos»,
in dem sich verrückt gewordene Dichter mit spektakulären Auftritten
ausagieren, ist eine satirische Phantasie des Schriftstellers Markus Ramseier.
Aber Ähnlichkeiten mit den Turbulenzen in der selbsternannten Kapitale
des Literaturbetriebs in Kärnten sind nicht unbeabsichtigt.
Von Michael Braun
Das Wettlesen als medial überreiztes Spektakulum, in dem die Akteure
mehr oder weniger ferngesteuert agieren und krachende Sensationen präsentieren
müssen: Obwohl die satirischen Pointen in diesem «idios kosmos»
ein wenig übersteuert wirken, kommt man nicht umhin, diese Geschichte
als grimmige Persiflage auf den Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb zu lesen.
Die Einladung des Schweizer Jurors Thomas Widmer, sich der Klagenfurter
Zerreissprobe zu stellen, hat Markus Ramseier daher mit sehr gemischten
Gefühlen angenommen.
Der Klagenfurter Auftritt, so verrät er im Gespräch, sei aber
für ihn eine Möglichkeit, sich selbst aus der eigenen Verkrochenheit
hervorzulocken. Ramseier ist nicht der grosse Kommunikator, der sich meinungsflink
in die Debatten des Betriebs einzuspeisen versteht. Im Gespräch begegnet
man einem grüblerisch-tastenden, fast schüchternen Skeptiker,
dem die Leidenschaft für jenes karrierebewusste Antichambrieren gänzlich
fehlt, das in Klagenfurt zur selbstverständlichen Übung der
Jungautoren geworden ist. Ganz bewusst hat sich der 1955 geborene Baselbieter
ein Jahrzehnt lang in den Nischen des Betriebs verborgen gehalten und
seine Bücher im kleinen Cosmos-Verlag publiziert, obwohl ihm Angebote
aus grösseren Häusern vorlagen.
Verschlungene Seitenpfade
Bereits die Solothurner Literaturtage, wo er kürzlich aus seinem
im September erscheinenden Roman «Wie küsst man einen Engel?»
vortrug, erlebte er als unangenehmen Schauplatz der Selbstvermarktung,
auf dem er einsam umherirrte, bis ihn eine «wunderbare Begegnung»
mit drei polnischen Übersetzern aus dem leeren Smalltalk erlöste.
Für die Klagenfurter Tage fürchtet Ramseier, mitten in der aufgekratzten
Geschäftigkeit der abgebrühten Selbstdarsteller in einem «Totstellreflex»
zu erstarren.
Wie der Held in seinem Debütroman «Mäandertal» (1994)
misstraut Ramseier jeder Form gesellschaftlich verordneter «Geradlinigkeit».
Er bevorzugt die Umwege, den Seitenpfad, die aus forschender Neugier geborene
Abschweifung. «Die Geschichten», so erkennt sein Romanheld
Philip Hitz im «Mäandertal», «liefen auseinander
auf sonderbaren Wegen.» Mit seinem Helden teilt Ramseier eine Passion,
die ihn hellhörig gemacht hat für die Geheimnisse von Landschaften
und die historischen Wurzelgründe von Wörtern und Namen. Seit
1988 ist Ramseier als Flurnamenforscher für Baselland tätig,
ein Wörter- und Namensammler, der auf oft mühsamen Recherchewegen
die Bezeichnungen von Siedlungen, Wäldern, Tälern, Kuppen und
Mulden rekonstruiert. Seinem Romanhelden Philip Hitz, der mitten in seinen
etymologischen Exkursionen zu einer militärischen Ergänzungsübung
einberufen wird, kommt bei einem seiner Quergänge die Welt abhanden.
Böse Seitenblicke
Zunächst vermag sich Hitz noch in die verhasste Pflichtübung
zu fügen. Er beteiligt sich an den Sprücheklopfereien seiner
Kollegen, betreibt Mimikry an die chauvinistischen Spiessbürger,
die Asylbewerber als aggressive Untermenschen denunzieren. Immer wieder
wagt Ramseier diese bösen Seitenblicke auf den helvetischen Kleinbürger,
der seinen falschen inneren Frieden nur finden kann, wenn er sich vor
der vermeintlichen Anarchie unkontrollierter Immigration in seinem Heim
verbunkern und der Gärtnerei widmen kann.
Zunehmender Weltverlust
Was zunächst wie der leicht skurrile Bericht über einen zum
Einzelgängertum neigenden Beamten anmutet, verwandelt sich unmerklich
in die Geschichte eines Welt- und Sprachverlusts, die den Helden aus seinem
Lebenszusammenhang heraus schleudert. Eines Tages, mitten in seinen militärischen
Manöversimulationen, stösst Hitz im Wald zufällig auf ein
zutiefst verstörtes, blutüberströmtes Mädchen. Kurz
darauf entdeckt er eine Babyleiche, deponiert in einem schrottreifen Kleinwagen.
Der Quergänger im «Mäandertal» wird zum Fremdkörper
in seiner allzu realitätstüchtigen Umgebung. Je weiter er von
seinen Dienstwegen abirrt, desto tiefer gerät er in die Labyrinthe
eines Falls, der ihm über den Kopf wächst.
Der Held verirrt sich im Dickicht der Wälder, mit ihm auch sein Bewusstsein,
das trotz aller Bemühungen um Klärung die Diffusion des eigenen
Ich nicht aufhalten kann. So durchwandert der Held ein «Mäandertal»
an Namen und Bezeichnungen, die ihre referentielle Eindeutigkeit verloren
haben. Durch einen Zeckenstich an Borreliose erkrankt, bricht Hitz
Immunsystem zusammen, er wird zum pathologischen Fall erklärt. Auch
eine antibiotische Therapie kann den Weltverlust des Helden nicht aufhalten.
Am Ende wählt der verstörte Landschaftsforscher wie einst der
Dichter Lenz in Büchners Erzählung den Weg ins Gebirge.
Verhängnisvolle Grillen
Auch in seinen Kurzgeschichten und in seinem zweiten Roman «Das
Land der letzten Meter» (1998) entwirft Ramseier Figuren, die ihren
Obsessionen verfallen und dabei den Boden unter den Füssen verlieren.
Da ist ein Riss, der plötzlich durch ihr Leben geht, sie fallen aus
ihrer routinierten Alltäglichkeit heraus und treiben unaufhaltsam
einem Abgrund zu. Im «Land der letzten Meter» ist das ein
in Grössenwahnsinn verrannter Taubenzüchter, der mit einer motorisierten
Voliere über China und Bangkok bis nach Pattaya reisen will, um dort
mit seinen genialischen Renntauben Weltmeister zu werden. In der Erzählung
«Gesang» beginnt das Verhängnis in einem südlichen
Ferienort. Es ist der betörende Gesang von Grillen, der hier den
Körper einer Frau okkupiert und sie fast in den Wahnsinn treibt.
Keine ärztliche Therapie vermag ihre Qual zu beenden, die Ursachen
ihres Leidens werden nicht aufgeklärt.
Es gehört zur Erzählkunst Ramseiers, diese Aufklärung wie
jede psychologische Charakteristik seiner Figuren zu verweigern. Er zeigt
den Schrecken in präzise notierten Details, ohne ihn durch beruhigende
Erzählerkommentare zu domestizieren. Die Wortkargheit, der lakonische
Satz und die Technik der Aussparung sind Stilprinzipien, die er perfekt
einzusetzen weiss. Als literarische Hauptverbündete hat der Autor
Tiere aller Art für sich rekrutiert. Das können bedrohlich zirpende
Grillen oder in Minenfeldern hausende Asseln sein (wie in der mit dem
Bettina-von-Arnim-Preis prämierten Kurzgeschichte «Asseln»),
oder eben Renntauben, denen die wundersamsten Eigenschaften zugeschrieben
werden. Auch in der Geschichte, die Markus Ramseier in Klagenfurt lesen
wird, spielen Tiere eine zentrale Rolle. Es ist ein Text, so viel verrät
Ramseier noch, der um das Motiv der Versteinerung kreisen wird. Wenn diese
Erzählung die sprachliche Prägnanz seiner bisherigen Kurzgeschichten
erreicht, braucht man um Markus Ramseiers Abschneiden in Klagenfurt nicht
zu fürchten.
Markus Ramseier: «Mäandertal». Roman. Cosmos. 277 S.,
Fr. 37..
«Das Land der letzten Meter». Roman. Cosmos. 336 S., Fr. 39..
«Wie küsst man einen Engel?» Roman. Cosmos. 208 S., Fr.
35. (erscheint im September).
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