Pressetexte zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Sonntags Zeitung Zuerich
18.08. 2002

Kasse statt Klasse

Zoë Jenny sei eine tolle Autorin, heisst es. Belegen lässt sich das auch mit dem dritten Roman nicht. Dafür verdient sie gut

VON REGULA FREULER

Das konnte nicht lange gut gehen. Eine Hand voll junger, fotogener Menschen schreibt je ein erfolgreiches Buch, et voilà, fertig ist die neue Schriftstellergeneration. Die Wirklichkeit hat sich dann ein bisschen schwieriger gestaltet. Für viele Autoren gabs Vorschusslorbeeren, für einige sogar viel Geld, doch die geschürten Erwartungen konnten die wenigsten erfüllen. Shootingstar erster Stunde und bestes Beispiel für eine sich ausbreitende Katerstimmung ist die 28-jährige Baslerin Zoë Jenny, die nun ihren dritten Roman geschrieben hat. Und "Ein schnelles Leben" beendet, was vor fünf Jahren mit dem "Blütenstaubzimmer" begonnen hat: die Geschichte einer Überschätzung.
Scheu sitzt sie am Tisch wie eine Schülerin, die gerade ihre Hausaufgaben abgegeben hat. So darf man sich auch Ayse vorstellen, die jugendliche Protagonistin in "Ein schnelles Leben", wenn sie dem angebeteten Deutschlehrer heimlich geschriebene Geschichtchen anvertraut. Wie schon in Jennys ersten beiden Romanen geht es auch diesmal um den schmerzvollen Prozess des Erwachsenwerdens eines Mädchens. Überhaupt fragt man sich, ob es denn irgendetwas im neuen Buch gibt - Figuren, Verlauf der Geschichte, Schlüsselstellen -, das man nicht schon aus Jennys bisherigem Mikrokosmos kennt. Man sucht lange, und man sucht vergeblich.

Zoë Jenny staunt und findet, ihre Bücher seien unvergleichbar

Wieder ist da ein Mädchen, das sich in den Pausen gerne auf der Schultoilette versteckt; wieder eine desinteressierte Mutter; wieder ein irgendwie (emotional, mental oder physisch) abwesender Vater. Auch nicht neu sind: eine mütterliche Ersatzfigur; ein Teenagerpärchen, das in den Süden fliehen will; inzestuöse Anspielungen; Deflorierung inklusive Blutfleck ... Wieso ein Neuaufguss, will man von Zoë Jenny gerne wissen, die schon beim zweiten Roman kritisiert wurde, bloss eine schale Kopie des erfolgreichen Debüts abgeliefert zu haben.
Zoë Jenny staunt. Sie findet, ihre Bücher seien ganz verschieden, unvergleichbar. Meint sie das ernst? Durchaus. Ebenso ernst beantwortet sie Interviewfragen mit Platitüden, deren Abdruck sie später verweigert. Nicht nur bei Jennys Romanfiguren wünscht man sich mehr Substanz, man wünscht sie sich auch bei der Autorin.
Aber vielleicht ist das nur ein Missverständnis; so wie die Vermutung, das neue Cover bilde Zoë Jenny ab, die den Kritikern und Neidern (die sie überall vermutet) den Rücken zuwendet: Ihr könnt mich alle mal. Doch nein, es ist jemand anders, korrigiert die Autorin, und es gehe eher um den Blick aufs weite Meer. Jetzt an Rosamunde Pilcher zu denken ist kein Missverständnis mehr, sondern schlichtweg unvermeidlich.
Dasselbe bei der Story, die man aus Familienvorabendserien kennt: Ayse, vom Bruder eifersüchtig bewachte Tochter türkischer Einwanderer, verknallt sich vom Fenster der Schultoilette aus in den deutschen Jungen Christian. Doch zu dessen Freunden zählen eine Reihe jugendlicher Neonazis. In einer Art Bandenkrieg schiesst Christian Ayses Bruder nieder, worauf die Pausenhof-Klofenster-Turteltauben in den Süden fliehen. Dort lässt Zoë Jenny das Berliner Romeo-und-Julia-Pärchen von stürmischen Winden verwehen beziehungsweise in den Wasserfluten ertrinken. TV-Stoff der tragischen Variante.
Die flache Figurenzeichnung, die Soap-Opera-taugliche Konstruktion und zu allem Unglück eine Schreibe, die abgegriffen ist bis zur letzten Zeile, machen die Lektüre zu einer ärgerlichen Angelegenheit. Von der ansatzweise vorhandenen charismatischen Innenperspektive und dem geheimnisvoll verdichteten Erzählstil des "Blütenstaubzimmers" ist keine Polle übrig geblieben. Statt dessen züchtet Jenny über ihre drei Romane hinweg, was in ihrer Prosa von Beginn an angelegt war und wofür auch die zentralen Motive (ein Zimmer voller Blütenstaub; ein Muschelhorn als Sprachersatz) überdeutlich stehen: süsslich-sentimentale Stilblüten und altkluge Lebensweisheiten.
In der Euphorie über ein neues deutsches Erzählen überlasen viele im "Blütenstaubzimmer" die poetisch bemühten Phrasen. Da gab es etwa Trauerweiden, auf deren Ästen "die Last aller Tränen dieser Welt liegt". Im "Ruf des Muschelhorns" (2000) wiederum befürchtet die Grossmutter, der Wind könne "den Rauch im Zimmer mitsamt ihrer Seele mitnehmen und beides für immer forttragen". Zahllos dann die klebrigen Metaphern und Vergleiche im neuen Roman: "Es gibt eine Art von Liebe, die ist wie ein Nachtfalter, der sich ins Licht stürzt und verbrennt." Oder, schlimmer noch: "Sie hatte gelebt wie die Königin der Nacht, die ihre Blüte öffnet, um ihren Duft zu verströmen in einer einzigen Stunde."
Eine halbe Million Mark Vorschuss soll der Aufbau Verlag vor drei Jahren für das noch ungeschriebene Manuskript auf Jennys Konto überwiesen haben. Solche Vorschüsse sind bei Autoren besonders populär, denn sie sind nicht rückzahlbare Garantiehonorare. Sie hängen vom jeweiligen Marktwert ab. Der wiederum ist das Ergebnis einer Mischrechnung aus bisherigem Verkaufserfolg, Vermarktungspotenzial und Einschätzung des Publikumsgeschmacks.
Seit kurzem ziehen selbst Teenager wie Benjamin Lebert, der 1999 als 17-Jähriger mit dem Internatsroman "Crazy" einen Bestseller gelandet hat, beträchtliche Summen für ungeschriebene Bücher an Land. Seit den Verlagen die Lust vergangen ist, für mittelmässige US-Romane Hunderttausende zu bezahlen und Literaturagenten den deutschsprachigen Nachwuchs systematisch vermarkten, sind die Preise für hiesige Literaturware spürbar gestiegen. In Einzelfällen stiess das Angebot auf eine tatsächliche Nachfrage bei den Lesern und erzielte gigantische Auflagen.

Die Autoren konnten profitieren, die Verlage zahlen drauf

Jennys "Blütenstaubzimmer" (1997) verkaufte sich 255 000-mal, von Judith Hermanns "Sommerhaus, später" (1998) gingen bisher 250 000 Exemplare über die Ladentische, Leberts "Crazy" fand 560 000 und Florian Illies'' essayistisches Sachbuch "Generation Golf" (2000) gar 600 000 Käufer. Die Presse schrieb die Autorinnen zu "Fräuleinwundern" hoch oder meinte, in der Enkelgeneration endlich würdige Nachfolger von Günter Grass, Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann gefunden zu haben. Doch wo die Jagd nach dem neuesten Wunderkind immer schrillere Ausmasse annimmt, wird es für die unter Produktionszwang stehenden Autoren schwieriger, das - tatsächliche oder nur unterstellte - Niveau zu halten. Schnell geraten sie wieder in Vergessenheit.
Robert Schneider ("Schlafes Bruder") etwa ist heute bloss noch eine Episode. Dabei war er einer der ersten Gegenwartsautoren, der einen Vorschuss von einer Million Mark verlangte - und erhielt. Einige Autoren konnten von der neuen Aufbruchstimmung profitierten, die Verlagshäuser hingegen eher selten. Der Berlin Verlag beispielsweise, der Susanne Riedel für ihren zweiten Roman ("Die Endlichkeit des Lichts") 100 000 Mark vorab bezahlt und bis jetzt rund 20 000 Exemplare verkaufte. Nicht schlecht, doch kein spektakuläres Geschäft. Mediale Aufmerksamkeit allein garantiert keinen Absatz, wie auch der Aufbau Verlag bei Tanja Dückers feststellen musste. Trotz heftiger Medienpräsenz fand ihr Debütroman ("Spielzone") lediglich 3000 Käufer; 7000 waren es bei dem Erzählungsband "Café Brazil". Nicht erst seit der aktuellen Buchmarktkrise mit ihrem dramatischen Umsatzrückgang hat sich in der Branche Ernüchterung breit gemacht. Die Verlage werden zurückbuchstabieren müssen, Zoë Jenny & Co. ebenso.

Zoë Jennys Marktwert dürfte definitiv in den Keller sinken

Das Phänomen Jenny zeigt, dass literarische Aspekte schon mal eine untergeordnete Rolle spielen - wichtiger war die neue Lust am Zocken. Die Berliner Agentur Eggers & Landwehr (die sich vor drei Jahren vergeblich um Jenny als Klientin bemühte) taxierte Jennys Marktwert damals auf 500 000 Mark. Aufbau-Verleger Bernd F. Lunkewitz mochte sich dem anschliessen, zückte sein Checkheft und konnte die Autorin so von der Frankfurter Verlagsanstalt abwerben. Kaufmännisch ist das nicht verständlich. Schliesslich musste Frau Jenny Verkaufseinbussen von 80 Prozent zwischen dem ersten (255 000 verkaufte Exemplare, 26 Auslandslizenzen) und dem zweiten Buch (50 000 Exemplare, 8 Lizenzen) hinnehmen. Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass der Verlag seine Ausgaben wieder einspielen wird.
Und so dürfte Zoë Jennys Marktwert definitiv in den Keller sinken. Wie viele ihrer Schriftstellerkollegen schaffte sie es nicht, dem Hype um ihre Person auch eine literarische Entwicklung folgen zu lassen. Ambitionen hat sie. Und die machen vielleicht einen Büchersommer. Für eine schriftstellerische Zukunft reichen sie nicht.



VON REGULA FREULER

 


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