Andrea Heinisch-Glück - Ein Fingerzeig

Wer nicht in der Krim zuhause ist, wird das Pfarrheim nicht finden. Wird nur den Eingang sehen, wird den breiten Gang mit den hohen, schmutzigweißen Wänden für eine Ein- oder Durchfahrt halten, dahinter eine Wohnanlage vermuten oder eine Garage. Oder eine Höhle, wenn er ein Kind ist. Wenn er damals ein Kind gewesen ist und Martin heißt, denkt er an eine Höhle mit verzweigten Gängen, denkt er an ein Gewirr von Fluren und Treppen, von großen und kleinen Türen, weit aufgestoßen oder verschlossen.
Wenn Martin an den Mittwochnachmittagen nicht geradeaus ging, wenn er nicht die schwere Kirchentür öffnete, das Kirchenschiff durchquerte, an den Bankreihen vorbei und durch die unscheinbare Pforte neben dem Altar in die Sakristei ging, wenn er sich nicht das Ministrantengewand überstreifte und in Zweierreihen geordnet mit den anderen Ministranten in den Altarraum hinaustrat, wenn also nicht Sonntag, sondern Mittwoch war, bog er kurz vor dem Eingang in die Kirche links ab. Ein leichter Stoß, und mit langgezogenem Quietschen öffnete sich die kleine Tür in den Gitterstäben, die den Abgang zur Treppe versperrten. Trapp, trapp, trapp, in einem Schwung die Stiegen hinunter und unten im Tageslicht ein schmaler Weg neben dem eingezäunten Fußballplatz. Dahinter die hohen Häuser mit ihren vielen Fensterzeilen, nur unterbrochen von massiven Feuermauern, und auf der anderen Seite, niedrig: das Pfarrheim. Mehrere Eingänge, Martin nahm den zweiten, dahinter ein langgestreckter Flur. Ein Tisch, das Schwarze Brett unmittelbar über ihm an der Wand, Türen in Gruppenräume. Schwere Luft, süßlicher Kinderschweiß und der Geruch von poliertem Linoleum. Martin kam immer als Erster zur Ministrantenstunde. Er setzte sich auf den Tisch, ließ die Beine so lange in der Luft baumeln, bis sie ganz schwer wurden, und wartete auf die anderen. Es war warm und still. Nur gelegentlich hörte er ein paar Wortfetzen von draußen oder Geplärr, wenn eine Mutter ihr Kind zurechtwies. Sie kamen aus dem Pfarrkindergarten, der hinter der vierten Tür lag. Mehrere Zimmer, darunter ein Schlaf- und ein Gruppenraum mit großer Glasfront und Blick auf einen Garten.
Martin hätte diesen Garten vollkommen vergessen, erinnerte er sich nicht an den weichen, warmen Druck des Daumens auf seiner Stirn, an den leisen Ekel, der in ihm aufstieg, und an den tröstlichen Nebel, wie er da draußen in den Büschen hing, während der Pfarrer ihm das Aschenkreuz auf die Stirn zeichnete.
Martin schafft es nicht einmal bis zum Fußballplatz, schon die erste Tür ist verschlossen. Er drückt, er rüttelt, er reißt an der Klinke, nichts rührt sich. Er versucht es über die Kirche, er hofft, dass hinter dem Beichtstuhl oder in der Sakristei ein Einlass verborgen ist, von dem aus eine bislang unbemerkte Treppe ins Pfarrheim hinunter führt. Und tatsächlich, er findet Türen, angelehnt oder sperrangelweit offen. Über Wendeltreppen, durch unvermutet breite Stiegenhäuser und steil abfallende Gänge läuft er, aber er kommt nicht ans Ziel, der Weg endet immer irgendwo, in einem der Wohnhäuser zum Beispiel, von deren Fenster man in den Pfarrhof hinunterschauen kann.
Schwester Herlinde. Eine hagere Frau, die Haare glatt zurückgebunden, schmale Lippen. Wadenlange Röcke, Blusen mit Spitzkragen. Unter ihren Händen eine geöffnete Tasche, prall gefüllt mit Mappen und Papierstößen. Zeige- und Mittelfinger, schlank und mit hell schimmernden Fingernägeln, wanderten über die Rücken der Papierstöße. Kleine Geräusche, ein wohliges Schnalzen, wenn die Finger im Weiterwandern eine Mappe oder einen Umschlag zurückschnellen ließen. Kein Wort. Papiergeruch. Martin stellte sich so nahe wie möglich neben Schwester Herlinde, am liebsten wäre er ein Blatt Papier in ihrer Tasche gewesen.
Manchmal träumt Martin auch von Brücken, die hinauf und wieder hinunter führen, und wenn er schwitzend und außer Atem an ihrem Ende angekommen ist, steht er wieder in der hohen Eingangshalle vor der geschlossenen Gittertür. Er kann die Treppe und ihre leichte Biegung sehen, er erkennt im Halbdunkel sogar die ausgetretenen Stufen, er vermeint das raue Metall des Handlaufes zu spüren, die Zugluft weht ihm feuchtkalt ins Gesicht. Er hat alles versucht. Er ist jeden Weg gegangen. Die Tür ist zu und einen anderen Einlass gibt es nicht. Mit nassem Rücken wacht er spätestens an diesem Punkt auf. Verlässt er sofort sein Bett, geht er so lang duschen, bis er nicht mehr friert, trinkt er heißen Kaffee und isst ein Marmeladebrot dazu, steckt er sorgfältig Mappe um Mappe in seine Aktentasche.
Nach der Roratemesse gab es Frühstück für alle. Der Pfarrer saß mit den Kindern an einem großen Tisch, sie tranken Kakao und bissen von den Marmeladebroten ab, die Schwester Herlinde herrichtete. Es war hell und warm und roch nach Schokolade. Plötzlich ein Aufschrei. Blutspritzer auf dem Schneideblatt der Brotschneidemaschine, Blutspritzer auf dem Brotlaib. Ein Aufschrei, Blutspritzer und ein an Hautfetzen baumelndes Fingerglied. Martin blieb neben Schwester Herlinde stehen, seinen Arm zog er jedoch rasch zurück, seine Finger verschränkte er fest ineinander. Schwester Herlinde, außer sich vor Schreck und Schmerz, musste ins Spital gebracht werden, Martin musste wie die anderen Kinder in die Schule. Raus aus der zweiten Tür, den Fußballplatz entlang, die Treppe hinauf und hinaus auf die Hutweidengasse.


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