Wer nicht in der Krim zuhause
ist, wird das Pfarrheim nicht finden. Wird nur den Eingang
sehen, wird den breiten Gang mit den hohen, schmutzigweißen
Wänden für eine Ein- oder Durchfahrt halten, dahinter
eine Wohnanlage vermuten oder eine Garage. Oder eine Höhle,
wenn er ein Kind ist. Wenn er damals ein Kind gewesen ist
und Martin heißt, denkt er an eine Höhle mit verzweigten
Gängen, denkt er an ein Gewirr von Fluren und Treppen,
von großen und kleinen Türen, weit aufgestoßen
oder verschlossen.
Wenn Martin an den Mittwochnachmittagen nicht geradeaus ging,
wenn er nicht die schwere Kirchentür öffnete, das
Kirchenschiff durchquerte, an den Bankreihen vorbei und durch
die unscheinbare Pforte neben dem Altar in die Sakristei ging,
wenn er sich nicht das Ministrantengewand überstreifte
und in Zweierreihen geordnet mit den anderen Ministranten
in den Altarraum hinaustrat, wenn also nicht Sonntag, sondern
Mittwoch war, bog er kurz vor dem Eingang in die Kirche links
ab. Ein leichter Stoß, und mit langgezogenem Quietschen
öffnete sich die kleine Tür in den Gitterstäben,
die den Abgang zur Treppe versperrten. Trapp, trapp, trapp,
in einem Schwung die Stiegen hinunter und unten im Tageslicht
ein schmaler Weg neben dem eingezäunten Fußballplatz.
Dahinter die hohen Häuser mit ihren vielen Fensterzeilen,
nur unterbrochen von massiven Feuermauern, und auf der anderen
Seite, niedrig: das Pfarrheim. Mehrere Eingänge, Martin
nahm den zweiten, dahinter ein langgestreckter Flur. Ein Tisch,
das Schwarze Brett unmittelbar über ihm an der Wand,
Türen in Gruppenräume. Schwere Luft, süßlicher
Kinderschweiß und der Geruch von poliertem Linoleum.
Martin kam immer als Erster zur Ministrantenstunde. Er setzte
sich auf den Tisch, ließ die Beine so lange in der Luft
baumeln, bis sie ganz schwer wurden, und wartete auf die anderen.
Es war warm und still. Nur gelegentlich hörte er ein
paar Wortfetzen von draußen oder Geplärr, wenn
eine Mutter ihr Kind zurechtwies. Sie kamen aus dem Pfarrkindergarten,
der hinter der vierten Tür lag. Mehrere Zimmer, darunter
ein Schlaf- und ein Gruppenraum mit großer Glasfront
und Blick auf einen Garten.
Martin hätte diesen Garten vollkommen vergessen, erinnerte
er sich nicht an den weichen, warmen Druck des Daumens auf
seiner Stirn, an den leisen Ekel, der in ihm aufstieg, und
an den tröstlichen Nebel, wie er da draußen in
den Büschen hing, während der Pfarrer ihm das Aschenkreuz
auf die Stirn zeichnete.
Martin schafft es nicht einmal bis zum Fußballplatz,
schon die erste Tür ist verschlossen. Er drückt,
er rüttelt, er reißt an der Klinke, nichts rührt
sich. Er versucht es über die Kirche, er hofft, dass
hinter dem Beichtstuhl oder in der Sakristei ein Einlass verborgen
ist, von dem aus eine bislang unbemerkte Treppe ins Pfarrheim
hinunter führt. Und tatsächlich, er findet Türen,
angelehnt oder sperrangelweit offen. Über Wendeltreppen,
durch unvermutet breite Stiegenhäuser und steil abfallende
Gänge läuft er, aber er kommt nicht ans Ziel, der
Weg endet immer irgendwo, in einem der Wohnhäuser zum
Beispiel, von deren Fenster man in den Pfarrhof hinunterschauen
kann.
Schwester Herlinde. Eine hagere Frau, die Haare glatt zurückgebunden,
schmale Lippen. Wadenlange Röcke, Blusen mit Spitzkragen.
Unter ihren Händen eine geöffnete Tasche, prall
gefüllt mit Mappen und Papierstößen. Zeige-
und Mittelfinger, schlank und mit hell schimmernden Fingernägeln,
wanderten über die Rücken der Papierstöße.
Kleine Geräusche, ein wohliges Schnalzen, wenn die Finger
im Weiterwandern eine Mappe oder einen Umschlag zurückschnellen
ließen. Kein Wort. Papiergeruch. Martin stellte sich
so nahe wie möglich neben Schwester Herlinde, am liebsten
wäre er ein Blatt Papier in ihrer Tasche gewesen.
Manchmal träumt Martin auch von Brücken, die hinauf
und wieder hinunter führen, und wenn er schwitzend und
außer Atem an ihrem Ende angekommen ist, steht er wieder
in der hohen Eingangshalle vor der geschlossenen Gittertür.
Er kann die Treppe und ihre leichte Biegung sehen, er erkennt
im Halbdunkel sogar die ausgetretenen Stufen, er vermeint
das raue Metall des Handlaufes zu spüren, die Zugluft
weht ihm feuchtkalt ins Gesicht. Er hat alles versucht. Er
ist jeden Weg gegangen. Die Tür ist zu und einen anderen
Einlass gibt es nicht. Mit nassem Rücken wacht er spätestens
an diesem Punkt auf. Verlässt er sofort sein Bett, geht
er so lang duschen, bis er nicht mehr friert, trinkt er heißen
Kaffee und isst ein Marmeladebrot dazu, steckt er sorgfältig
Mappe um Mappe in seine Aktentasche.
Nach der Roratemesse gab es Frühstück für alle.
Der Pfarrer saß mit den Kindern an einem großen
Tisch, sie tranken Kakao und bissen von den Marmeladebroten
ab, die Schwester Herlinde herrichtete. Es war hell und warm
und roch nach Schokolade. Plötzlich ein Aufschrei. Blutspritzer
auf dem Schneideblatt der Brotschneidemaschine, Blutspritzer
auf dem Brotlaib. Ein Aufschrei, Blutspritzer und ein an Hautfetzen
baumelndes Fingerglied. Martin blieb neben Schwester Herlinde
stehen, seinen Arm zog er jedoch rasch zurück, seine
Finger verschränkte er fest ineinander. Schwester Herlinde,
außer sich vor Schreck und Schmerz, musste ins Spital
gebracht werden, Martin musste wie die anderen Kinder in die
Schule. Raus aus der zweiten Tür, den Fußballplatz
entlang, die Treppe hinauf und hinaus auf die Hutweidengasse.
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