Lukas Hammerstein
wurde von Iris Radisch vorgeschlagen, er las den Text "Die
hundertzwanzig Tage von Berlin".
"Kaufe mir sofort alle Ihre Bücher"
Josef Haslinger: "Herr Hammerstein,
Ihr Name ist mir mehrmals begegnet, aber ich habe noch nie
etwas von Ihnen gelesen, ich werde von dieser Veranstaltung
heimfahren und mir alle Ihre Bücher kaufen. Ich bin von
diesem Text wirklich begeistert und möchte Ihnen gratulieren.
Obwohl er ein Ausschnitt aus einem größeren Werk
ist, lässt mich der Text Sie nicht fragen, was kommt
im übrigen Roman vor - denn er legt seine Struktur dar.
Sie ist verdammt raffiniert. Hier kann man die Frage, wer
spricht, nicht so einfach beantworten. Dieser Erzähler
ist sehr raffiniert, schlüpft in andere Rolle, nimmt
unterschiedliche Vokalisierungen vor."
"Am Anfang eine allgemeine
Beobachtung von außen, im zweiten Teil dasselbe von
innen mit den Erwartungen der Menschen. Im dritten Abschnitt
sitzt das "ich" am Schreibtisch. Obwohl die Herangehensweisen
unterschiedlich sind in den verschiedenen Abschnitten wird
es durch einen gemeinsamen Ton zusammengehalten. Der Text
geht oft stark ins Essayistische, aber er kann es sich leisten."
"Kann Euphorie nicht teilen"
Thomas Steinfeld: Ich kann das euphorische
Urteil nicht ganz teilen. Ich finde nicht, dass es ein schlechter
Text ist, aber ich habe große Bedenken. Früher
nannte man so etwas Popliteratur. Sie hat mich über Jahre
hinweg interessiert, ich war nie ein euphorischer Leser davon,
aber es hat mich interessiert. Es war eine neue Art und Weise
mit Gegenwart umzugehen. Diese Popliteratur hatte am Ende
etwas vernichtend Existentialistisches, hinter den Logos war
das kalte nackte Nichts. Dieses Stück Literatur, wie
wir es jetzt gehört haben, ist eine ähnliche Art
und Weise, mit der Gegenwart zu Rande zu kommen. Der Autor
weiß aber, dass die Popliteratur zu Ende ist. Ich verabscheue
Trendberichterstattung. In diesem Text steckt davon zuviel
drin.
Haslinger gab Thomas Steinfeld ein
bisschen Recht. "Die Ich-Erzählung, die im Text
eingebaut ist und ihm entgegensteht, hat eine völlig
andere Dimension. Es ist auch eine romantische Liebesgeschichte,
die an der Grenze des Nachtigallen-Gesangs steht."
"Äußere ungeniert meine
Kritik"
Daniela Strigl: Ich bin froh, dass
Josef Haslinger so begeistert ist. Ich äußere ungeniert
meine Kritik. Der Titel ist offenbar eine Anspielung auf de
Sade, der Höhepunkt kommt offenbar später. Was mich
stört, ist die hedonistische Eucharistie, die hier gefeiert
wird. Es geht um ein verzweifeltes Jahrhundertweltenamüsement,
das etwas Feuilletonistisches hat. Gut gefallen hat mir die
menschliche Immobilie.
Rakusa: Ich habe auch Einwände
- diese Prosa, die von einem sehr intelligenten Autor geschrieben
wurde, ist mir zu designt. Sie ist mir zu aalglatt, da ist
ein Besserwisser am Wort.
"Luxuriöses Endzeitszenario"
Iris Radisch: "Ich möchte
gerne darüber nachdenken, wo sind wir hier. Wir waren
bisher im Deutschen Wald, im virtuellen Trend, bei Unfällen,
hier sind wir nun in der Wirklichkeit angekommen. In Berlin,
in einem Glashaus, einer Art Endwelt. Wieder ein Endzeitszenario,
diesmal aber sehr luxuriös. Ich gebe Herrn Steinfeld
Recht, dass es eine Art Fortsetzung der Partyliteratur ist.
Der Text stellt den Zusammenbruch der Popwelt voraus. Hier
gibt es eine permanente Party, aber in Wahrheit ist alles
zusammengebrochen. Die Leute führen eine Zwischenexistenz,
tun so, als gebe es ein Leben, das in Wahrheit aber nur simuliert
ist. Ich laste dem Erzähler nicht an, dass er das weiß.
Er ist von einer coolen Intelligenz. Alles in allem bisher
der gegenwartsreichste Text."
"Text ist ein poetischer Essay"
Ursula März: "Der Text
ist nicht stellenweise ein Essay, er ist ein poetischer Essay.
Das ist eine Gattung der Moderne. Ein interessanter Versuch,
eine literarische Expedition. Ich schätze sie sehr. Mit
einem Trend tut man ihm unrecht, es ist eine Expedition in
eine Zeit. Ein Versuch über die 90er Jahre. Er macht
den Versuch, in einer synoptischen Wahrnehmung auf diese Zeit
zu schauen. Akustik spielt eine große Rolle. Beim ersten
Mal lesen habe ich ihn schneller gelesen, habe den Rhythmus
der Love-Parade gehört. Der Text hat eine Feindin, die
er sich selbst zuzieht, das ist die Verallgemeinerung. Darin
liegt seine Schwäche.
Generationsprobleme für Norbert
Miller
Norbert Miller: Das muss damit zusammenhängen,
dass wir nicht einer Generation angehören. Ich habe den
Text nicht gemocht - aus den gleichen Gründen, warum
Haslinger ihn gemocht hatte. Haslingers Analyse trifft völlig
zu, der Text ist virtuos gemacht, er spielt mit einer Vielzahl
von Erzählsituationen, Möglichkeiten, schwankt zwischen
Verallgemeinerung und Ironie. Aber er versichert sich, dass
er sich nach jeder beliebigen Richtung auslegen lässt.
Es ist eine Trendbeschreibung. Die Beliebigkeit macht aus
dem Glaspalast eine Art von Schrebergarten, das halte ich
für unheimlich.
"Teile Herrn Haslingers Interesse"
Burkhard Spinnen: Ich teile generationsbedingt
mit Herrn Haslinger das brennende Interesse an diesem Text.
Ich bezeuge der Durchführung einigen Respekt. Schwierig
ist nur, was von der einzigen Stimme geleistet werden muss
- das was es gab, was es nicht mehr gibt und was es jetzt
gibt. Das alles muss sie beschreiben und die Begeisterung
der Leute auch noch mittragen. Der Text hat mit dem Tanz am
Rande des Abgrunds zu tun, aber das alles wird von einer einzigen
Stimme geleistet. Es geht um Trockenwohner für Gebäude,
in die niemand einzieht. Der Duktus des Textes trägt
die Begeisterung der 90er mit sich.
"Wissende Traurigkeit"
Iris
Radisch: Es gab die Literatur, die das affirmiert hat. Die
Haltung hier ist eine wissende Traurigkeit. Das Bild vom Trockenwohnen
gefällt mir gut, da mussten früher die Armen die
Häuser trocken wohnen. Als Menetekel steht das Unechte
dahinter, es sind provisorische Existenzen, die sich von echten
nicht unterscheiden. Dass der Autor das weiß, macht
den Text vielschichtig. Es wird auch eine Utopie ausprobiert
- die Liebe. In Verbindung mit dieser Frau erscheint die Nachtigall,
denn auch diese Liebe endet auf der Abraumhalde.
Daniela
Strigl: Ich habe heute ein neues Wort gelernt: Trockenwohnen.
Es gibt Stellen, die sich durch ironische Absicht nicht rechtfertigen
lassen. Frage der Zeitgemäßheit: Natürlich
ist er zeitgemäß, ob er aber deshalb der Wirklichkeit
näher ist, weiß ich nicht. Der Wirklichkeit kann
ein Text über ein Dorf genauso nahe kommen.
Thomas
Steinfeld: "Kurz zurück zur Popliteratur.
Sie lebte vom Pathos des Dabeiseins, von der Feier der Gegenwart.
Das Verzweifelte war, dass etwas sehr Faules in einer Gegenwart
stecken muss, die so gefeiert werden muss. Das zu wissen,
ist genauso ein Pathos wie das Pathos, dabei zu sein.
Friederike
Kretzen meinte, der Text sei für sie eine Zeitdiagnostik.
Er versuche nicht, Widerstand zu formulieren oder Brüchigkeiten.
Hier finde ich kein Aufnehmen von Widersprüchen.
Redaktion: Petra Haas |