Gregor Hens wurde von Burkhard Spinnen
eingeladen und las den Text "John F. Kennedy und der
Ausbruch des Irazù"
"Toller, hochinteressanter Stoff"
März: "Eine historische
Erzählung. Kennedy war 1963 in Costa Rica. Ein toller,
hochinteressanter Stoff, keine Frage. Eine realistische Erzählung.
Frau Rakusa hat darauf hingewiesen, wie viele realistische
Erzählungen wir haben, aber da gibt es viele Unterschiede.
Hier haben wir dramaturgische Sicherheit und Eleganz. Wir
sehen, wie Menschen auf ein Ereignis zukommen. Sie bündeln
sich zur Masse, wo der Erlöser aus Amerika landen wird.
Der Text sammelt historisches Material und Material aus der
Geschichte.
Es gibt keinen handwerklichen Fehler
darin. Großartig, mit großer Spannung kommt dann
das Flugzeug, der Präsident, das Königspaar. Dann,
der große Knall, der Vulkan bricht aus. Das alles interessiert
mich sehr, ich würde es gerne weiter lesen. Es gibt hier
ein großes erzählerisches Problem, nämlich
die Sicht. Erzählt wird es von einem Erwachsenen, der
damals ein Kind war. Der Autor ist klug genug, nicht das Kind
zu spielen. Das geht gut, aber in manchen Teilen nicht. Da
nicht, wo er dem Sechsjährigen eine historisch-politisch-ideologische
Sicht unterjubelt. Ich habe sie ansonsten mit Begeisterung
gelesen.
"Der Höhepunkt verpufft"
Daniela Strigl: Ich schließe
mich dem eigentlich an. Ich habe zunächst gedacht, eine
tadellose Geschichte, aber ich bin etwas skeptischer. Sie
befriedigt mich nicht wirklich. Die innere Beteiligung schien
zu fehlen. Der kleine Bub, der nicht nur überhöht
wird durch den Erwachsenen-Erzähler, sondern der Sachen
sagt, die unmöglich von einem Kind stammen können.
Der Höhepunkt mit dem Vulkan verpufft dann für mich
etwas.
"Kein kleines Missgeschick"
Iris
Radisch: Es ist undenkbar und es ist kein kleines Missgeschick,
sondern das Herz des Textes. Über diesen Kardinalfehler
kann ich nicht hinwegsehen. Warum dieses sechsjährige
Kind? Es ist doch klar, dass das nicht möglich ist. Das
mit allen Wassern des politischen Feuilletons gewaschene Kind
ist undenkbar. Der Autor macht das, weil er das Gefühl
hat, dass die Erzählung sonst zu glatt wäre - wo
wäre die Spannung. Daher der Wahrnehmungsfilter Kind.
Das rückt die Sache in eine pseudokindliche Portion.
Norbert
Miller: "Ich könnte mir schwer vorstellen,
dass Gregor Hens den Fehler nicht auch selber gesehen hätte.
Also muss man von einem bewussten Kunstgriff ausgehen, ob
es uns passt oder nicht. Die Kataloge von Fremdwörtern,
Stichpunkten, durchziehen die Geschichte und versuchen, einen
Augenblick zu fassen. Wir wissen immer, dass die Kinder nicht
wie Kinder reden.
"Moderne Mythologie"
Burkhard
Spinnen: "Ich war damals auch sechs Jahre alt, ein paar
Wochen später war Kennedy in Berlin. Das ist doch kein
Text über Costa Rica. Er hat es als Kulisse, aber das
ist doch ein Text über uns. Die Mutter ist deutsch, der
Zwillingsbruder ist blond und bleibt zuhause. Das ist ein
Text über die moderne Mythologie und Legendenbildung.
Der Kunstgriff muss sein, weil die Figur eine Mischung aus
einem akademisch gebildeten Menschen ist, der damals sechs
Jahre alt war."
"Ich sehe das Problem nicht"
Josef
Haslinger: Ich sehe das Problem nicht. Wenn der Text versucht,
wirklich die Sicht eines Sechsjährigen zu zeigen, hätte
er ein Problem. Würde er kommentiert erzählen, hätte
er auch ein Problem. Was er macht, ist die Rekonstruktion
eines Mythos im Wahrnehmen eines damaligen Kindes. Er macht
kein Hehl daraus, wer spricht: Ein Erwachsener, der eine Geschichte
erzählt, seinen Beitrag zum Kennedy-Mythos leistet. Seine
Erinnerung versucht er in diesen Mythos hineinzukonstruieren.
Am Anfang wird die Masse beschrieben, die sich auf den Flughafen
drängt. Das ist eine großartige Darstellung. Immer
verstanden als literarische Rekonstruktion eines Erwachsenen,
der das Erleben eines Kindes zu vermitteln sucht. Der Text
hat dem die Naturkatastrophe zur Seite gestellt und das ist
mein Problem damit. Mir war das zu deutlich - dieses memento
mori. Es ist für mich aber überzeugend.
Thomas
Steinfeld: Die Grundkonstruktion dieser kleinen Geschichte
ist streng allegorisch. Einerseits die Erlösung, andererseits
der Weltuntergang. An Spinnen gerichtet die Frage: Stört
Sie das Konstruierte, Akademische nicht? Mir geht das Allegorische
auf die Nerven, ich vermisse den künstlerischen Wagemut.
Spinnen:
"Ich vermisse den Wagemut nicht. Der Text hat das ungeheure
Wagnis unternommen, einen Pathos und eine Größe
in der Geschichte hineinzuholen. Das ist eine große
Treppe, um einen Platz zu finden, wo diese Koinzidenz stattfinden
kann."
Ursula
März fragte, was ist das Thema. Es ist "Ich
und Kennedy".
Radisch
sprach dem Text das "Ich" ab.
März
konterte: Das "Ich" habe etwas Paranoides,
baut sich auf aus dem Erwachsenen und dem Kind. Die Übernähe
zu einer Figur, die Tausende Kilometer entfernt ist.
Thomas
Steinfeld erinnerte daran, dass man im Seminar den
Unstimmigkeiten nachgehe, wenn ein Mythos vor einem liege.
"Habe ein Problem mit dem Erzähler"
Daniela Strigl: "Mythos hin
oder her. Ich habe ein Problem mit dem Erzähler, mit
dem Erwachsenen und dem kleinen Buben. Ich verüble dem
Text nicht, dass der Erzähler ein Erwachsener ist, der
mehr weiß, als das Kind damals wissen konnte. Aber der
Erzähler ist glaubwürdig. Er nimmt uns auf eine
gekonnte Art an die Hand und geht mit uns zum Flughafen."
Sie ortet einen Fehler in den Aussagen des Buben. Einmal ist
er Kind, einmal weiß er plötzlich Dinge, die er
nicht wissen kann.
Iris
Radisch sagte, es sei kein erlebter, sondern ein konstruierter
Stoff, da steige sie aus. Es müsste ja nachzittern, wenn
es die personale Perspektive geben würde. Das spüre
man nicht. Es werde den Menschen von einem eleganten Erzähler
angehaftet.
Friederike
Kretzen kam zurück zum "Du". Dieses
Du sei einerseits die Hinrichtung eines Textes, um sich als
Mythos bestätigen zu lassen. Wen man ein Du so anspricht,
will man ein Spiel. Der Text ist aber andererseits so glatt
und geschlossen, dass es nicht zu diesem Spiel komme.
Spinnen:
Ich will keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Mythos
geben, aber J.F.K war Präsident, wurde erschossen und
war lange nicht da. Später kam er wieder und wurde ein
Mythos. Ein Mythos wird erschrieben, das macht die Geschichte
sehr einsichtig. Am Schluss bricht ein Vulkan aus, ein Naturereignis,
das nichts damit zu tun hat. Es ist eine versaute Veranstaltung,
der Präsident muss in Sicherheit gebracht werden. Das
ist die klassische versaute Veranstaltung.
Redaktion: Petra Haas
Fotos: Johannes Puch, ORF
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