Ulla Lenze las den Romanauszug
"Schwester und Bruder". Die Deutsche Autorin wurde
von Norbert Miller vorgeschlagen.
"Brüderchen und Schwesterchen"
Iris Radisch: "Es gibt ein
Märchen, das ich meinen Kindern oft vorgelesen habe,
"Brüderchen und Schwesterchen", daran erinnert
mich die Geschichte. Der Bruder wird verzaubert und ein Reh,
im Wald irren sie umher, um Erlösung zu finden. Hier
ist der Wald Indien, er ist kein Reh, sondern blind. Sie sind
auf der Suche nach Erlösung. Im Märchen ist es ein
Prinz, der Schwesterchen heimführt. Hier ist es ein Chauffeur,
der als Todesengel auftritt und die Reise mit ihnen macht.
Ist die Reise eine Reise zu Hilfe und Erlösung? Poona
wird erwähnt, wo sich viele Kinder des Westens Erlösung
erhofften. Der Tod spielt eine gewichtige Rolle, da verlassen
wird den Rahmen des Märchens. Indien als Hintergrund
bleibt im Hintergrund, ist wenig präsent.
"Die Rache der Einheimischen"
Ursula
März: "Westliche Bleichgesichter werden von einheimischen
herumkutschiert, die Szene ist immer ähnlich - die Dienstleistung
ist die Rache der Einheimischen. Die Rikschas kippen um, die
Einheimischen verstehen die Sprache und plaudern die Geheimnisse
aus. Wir haben es mit einem klassischen Motiv zu tun: Erste
Welt begegnet dritter Welt, auch das Theresias-Motiv, der
Blinde weiß mehr. Was ist zwischen diesen Geschwistern,
der Bruder der nicht sieht, die Schwester, die ihn sieht und
den Körper betrachtet? Das ist dezent gemacht. Das ist
alles aus der Situation sehr vernünftig, aber da entsteht
sehr dezent und plausibel etwas. Auch plausibel finde ich,
dass wir hier nicht die große exotische indische Kulisse
sehen, die wir ja gar nicht mehr empfinden. Hier wird nicht
die ethnographische Entdeckung vorgegaukelt, es ist zeitgenössisch.
Mein Einwand - es ist positiv konventionell gemacht, die innere
Geschichte der Geschwister wird überdeckt von der äußeren
Geschichte des Fahrers. Dennoch gibt es eine Rückwärtsgewandtheit
des Projektes, ein Vertrauendes auf bewährte Motive."
"Der Inder ist die Hexe"
Friederike
Kretzen: "Ich finde die Idee von Brüderchen und
Schwesterchen sehr schön. Interessant ist, dass die Hexe
hier der Inder sein muss. Das wäre auch gleich eine Kritik,
denn was wird diesem Menschen zugemutet? Er ist Ort der Hoffnung,
weiß alles, spricht modern, westlich eloquent. Rundherum
ist das ungeheuer Aufgeräumte, man erhofft sich in Indien
Verwandlung. Das kommt hier gar nicht vor, denn der Inder
muss ständig so klug sein, er ist mit allen Wassern der
Philosophie gewaschen. Das ist unglaublich gekonnt. Was mir
unklar ist, es gibt eine unheimliche Bewegung im Text, es
geht sehr schnell, da weiß ich nicht, wo das hingeht.
Vielleicht ein Problem des Auszugs?"
"Schriller
hätte mir besser gefallen"
Thomas Steinfeld hatte das gleiche
beklemmende Gefühl wie gestern. "Sauber gearbeitete
Geschichte, aber ich fühle mich nicht angesprochen. Das
liegt vor allem daran, dass ich das Gefühl habe, hier
wird kein Fantasieraum eröffnet, sondern eine Geschichte
erzählt. Es fehlt mir eine Vision. Ein bisschen schriller
hätte es mir besser gefallen."
"Text ist redlich und gekonnt gemacht"
Ilma Rakusa pflichtete bei. "Ich
finde den Text redlich, sehr gekonnt gemacht. Ein Auszug ist
immer ein Problem, ich könnte mir aber eine solche Geschichte
gut als Film vorstellen. Die visuellen Medien sind sehr dominant.
Vereinfacht gefragt, wo ist der literarische Mehrwert? Das,
was nur die Sprache kann und nicht, was auch der Film kann.
Der Text ist mir zu glatt und brav, ich vermisse auch einen
Fantasieraum. Etwas, was nur die Sprache und nicht auch der
Film kann. "
Norbert
Miller sprang für seine Autorin in die Bresche: "Zwei
Dinge scheinen sich auszuschließen: Entweder hat Iris
Radisch Recht mit der Aussage, Indien kommt nicht vor. Das
ist ein Befund, den ich auch habe, der wird auch ausgesprochen.
Das Fenster und die Tür sind zwischen ihr und der Welt.
Wenn das aber so ist, dann kann man ihr nicht gleichzeitig
vorwerfen, dass das ausgesparte Indien nicht wie im Film vorkommt,
z.B. 'Passage to India'. Hier geht das gleiche schief: Der
Film zerstört das rein Literarische."
Steinfeld wandte ein, Indien komme
in der konventionellsten Weise vor, die man sich vorstellen
kann.
Miller setzte fort, das Hauptargument
von Thomas Steinfeld war gestern, er fühle sich nicht
angesprochen. Es sei schwierig, darauf zu antworten. "Der
Roman ist zweiteilig und hängt mit einem grundsätzlichen
Austarieren indischer und westlicher Erfahrung zusammen. Brüderchen
und Schwesterchen ist richtig, das ist der Zusammenhalt. "
Radisch warf ein, es sei unfair
einen Roman zu erzählen, denn der Text müsse für
sich allein sprechen.
Miller: "Die Episode ist so
gewählt, dass sie für sich tragen muss und auch
trägt."
"Indirekte Rede stört mich"
Josef Haslinger: "Ich bin dem
Text gerne gefolgt. Er ist sprachlich gut gearbeitet. Die
Geschwisterbeziehung ist zart gezeichnet, weckt große
Erwartungen, hat etwas Geheimnisvolles - das ist ein Spannungselement.
Aber eines, das zwischendurch weit in den Hintergrund tritt.
Das Problem bei einem Auszug ist der Atem des Textes. Dieser
Text hat einen langen Atem. Dieser Text ist nicht das Hauptstück
des Romans, kann es nicht sein. Es ist die Fahrt zu einem
Ziel. Der Ausschnitt hat eine sprachliche Auffälligkeit:
Der Ausschnitt besteht aus einer Autotür, die geschlossen
ist und drei Menschen sprechen miteinander, wie eine geschlossene
Gesellschaft. Es fällt die ausführliche indirekte
Rede auf und ich frage mich, warum. Denn der Text ist im Präsens
geschrieben, um dem Leser zu vermitteln er sei live dabei.
Die indirekte Rede bewirkt aber, dass für den Leser nun
kommentiert wird. Warum kann er den Monolog nicht in direkter
Rede erzählen?"
"Widersprüche könnten
produktiv sein"
Daniela Strigl: "Der Text hat
einige Widersprüche, die aber produktiv werden können.
Die Distanz mit gleichzeitiger Vergegenwärtigung kann
ein Schutzmechanismus gegen eine gewisse Plattheit sein. Ein
zweiter Widerspruch scheint zu sein, das Fenster geht zu.
Diese beiden sind nicht interessiert an diesem Land - aber
der Text widerlegt das, denn da kommt der Mensch mit seiner
Blindheit hin, um sich heilen zu lassen. Es muss also ein
tieferes Interesse da sein. Ich bin neugierig, wie es weitergeht.
Strigl ortete auch die Geschichte des verlorenen Sohnes in
der Geschichte des indischen Fahrers. Es bahnen sich verschiedene
Ebenen an."
"Temperaturunterschied zwischen
Text und Indien"
Burkhard
Spinnen: "Für einen philosophischen Text brauche
es viel Erfahrung, damit die Figuren nicht nur Statthalter
werden. Am Anfang heißt es, es habe 40 Grad. Das ist
unerträglich heiß. Der Text hat aber 24 bis 27
Grad. Da ist eine Differenz zwischen dem Text und der Hitze,
die tatsächlich herrscht. Zum Glück habe ich keine
Geschwister, das möchte ich mir nicht vorstellen. Mit
einem Blinden wohin zu fahren, wo nur er weiß, wo das
ist. Die Differenz der 13 Grad hat mich irritiert. Das passt
auch zu Josef Haslinger, der sagte, er rücke weg. Vieles
wird dadurch abgekühlt, es bleibt eine Unsicherheit,
wie die Autorin es schaffen wird, die Selbstständigkeit
der Figuren im philosophisch belasteten Roman bewahrt bleibt."
Haslinger an Spinnen: "Ich
bin überzeugt, sie werden auch immer wieder nach Klagenfurt
eingeladen, weil sie solche Bilder finden." Spinnend
dankte lächelnd.
Miller warf ein, das Problem sei,
dass dieses Buch den gleichen Gegenstand mit anderen Büchern
teile. An Spinnen: "Ich kenne nicht viel, aber in der
indischen Literatur müssen wir mit diesem Temperaturunterschied
leben. Man muss einen Text abkühlen, um ihn beschreiben
zu können. Ich habe auch Herrn Haslingers Beobachtung
geteilt - es ist die Differenzierung beabsichtigt. Die lange
Passage ist als Abrückung der Thematik gemeint."
"Story hier wichtiger als die Sprache"
Iris Radisch: "Es ist letztlich
nicht nur eine Frage von Temperatur, Distanz oder Dicke der
Autoscheiben. Das Problem ist, dass es eine sprachliche Billigausgabe
von Indien ist. Es ist kein Märchenton, keine Ausnüchterung,
sondern hier hat man sich zu sehr auf die Story verlassen
und keine Sprache für diese Geschichte gefunden."
"Das Exotische ist nicht in
dieser Geschichte", warf Thomas Steinfeld ein. Er wolle
Schärfe, Hitze und Härte.
Für Friederike Kretzen werde
die Exotik als Folie verwendet. Sie denke an Duras, die mehrere
Bücher über Indien geschrieben hatte, in denen es
sehr heiß war.
Norbert Miller meinte abschließend,
"die Fiebertemperaturen der Margerite Duras gehen auch
nicht über die Temperaturen eines französischen
Salons."
Redaktion: Petra Haas
Fotos: Johannes Puch, ORF
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