Eine Veranstaltung der Landeshauptstadt Klagenfurt und des ORF Landesstudios Kärnten in Zusammenarbeit mit 3sat und mit freundlicher Unterstützung der Telekom Austria.

Pressespiegel

Diskussion nach Lesung von Ulla Lenze

Ulla Lenze las den Romanauszug "Schwester und Bruder". Die Deutsche Autorin wurde von Norbert Miller vorgeschlagen.

"Brüderchen und Schwesterchen"

Iris Radisch: "Es gibt ein Märchen, das ich meinen Kindern oft vorgelesen habe, "Brüderchen und Schwesterchen", daran erinnert mich die Geschichte. Der Bruder wird verzaubert und ein Reh, im Wald irren sie umher, um Erlösung zu finden. Hier ist der Wald Indien, er ist kein Reh, sondern blind. Sie sind auf der Suche nach Erlösung. Im Märchen ist es ein Prinz, der Schwesterchen heimführt. Hier ist es ein Chauffeur, der als Todesengel auftritt und die Reise mit ihnen macht. Ist die Reise eine Reise zu Hilfe und Erlösung? Poona wird erwähnt, wo sich viele Kinder des Westens Erlösung erhofften. Der Tod spielt eine gewichtige Rolle, da verlassen wird den Rahmen des Märchens. Indien als Hintergrund bleibt im Hintergrund, ist wenig präsent.

"Die Rache der Einheimischen"

Ursula März: "Westliche Bleichgesichter werden von einheimischen herumkutschiert, die Szene ist immer ähnlich - die Dienstleistung ist die Rache der Einheimischen. Die Rikschas kippen um, die Einheimischen verstehen die Sprache und plaudern die Geheimnisse aus. Wir haben es mit einem klassischen Motiv zu tun: Erste Welt begegnet dritter Welt, auch das Theresias-Motiv, der Blinde weiß mehr. Was ist zwischen diesen Geschwistern, der Bruder der nicht sieht, die Schwester, die ihn sieht und den Körper betrachtet? Das ist dezent gemacht. Das ist alles aus der Situation sehr vernünftig, aber da entsteht sehr dezent und plausibel etwas. Auch plausibel finde ich, dass wir hier nicht die große exotische indische Kulisse sehen, die wir ja gar nicht mehr empfinden. Hier wird nicht die ethnographische Entdeckung vorgegaukelt, es ist zeitgenössisch. Mein Einwand - es ist positiv konventionell gemacht, die innere Geschichte der Geschwister wird überdeckt von der äußeren Geschichte des Fahrers. Dennoch gibt es eine Rückwärtsgewandtheit des Projektes, ein Vertrauendes auf bewährte Motive."

"Der Inder ist die Hexe"

Friederike Kretzen: "Ich finde die Idee von Brüderchen und Schwesterchen sehr schön. Interessant ist, dass die Hexe hier der Inder sein muss. Das wäre auch gleich eine Kritik, denn was wird diesem Menschen zugemutet? Er ist Ort der Hoffnung, weiß alles, spricht modern, westlich eloquent. Rundherum ist das ungeheuer Aufgeräumte, man erhofft sich in Indien Verwandlung. Das kommt hier gar nicht vor, denn der Inder muss ständig so klug sein, er ist mit allen Wassern der Philosophie gewaschen. Das ist unglaublich gekonnt. Was mir unklar ist, es gibt eine unheimliche Bewegung im Text, es geht sehr schnell, da weiß ich nicht, wo das hingeht. Vielleicht ein Problem des Auszugs?"

"Schriller hätte mir besser gefallen"

Thomas Steinfeld hatte das gleiche beklemmende Gefühl wie gestern. "Sauber gearbeitete Geschichte, aber ich fühle mich nicht angesprochen. Das liegt vor allem daran, dass ich das Gefühl habe, hier wird kein Fantasieraum eröffnet, sondern eine Geschichte erzählt. Es fehlt mir eine Vision. Ein bisschen schriller hätte es mir besser gefallen."

"Text ist redlich und gekonnt gemacht"

Ilma Rakusa pflichtete bei. "Ich finde den Text redlich, sehr gekonnt gemacht. Ein Auszug ist immer ein Problem, ich könnte mir aber eine solche Geschichte gut als Film vorstellen. Die visuellen Medien sind sehr dominant. Vereinfacht gefragt, wo ist der literarische Mehrwert? Das, was nur die Sprache kann und nicht, was auch der Film kann. Der Text ist mir zu glatt und brav, ich vermisse auch einen Fantasieraum. Etwas, was nur die Sprache und nicht auch der Film kann. "

Norbert Miller sprang für seine Autorin in die Bresche: "Zwei Dinge scheinen sich auszuschließen: Entweder hat Iris Radisch Recht mit der Aussage, Indien kommt nicht vor. Das ist ein Befund, den ich auch habe, der wird auch ausgesprochen. Das Fenster und die Tür sind zwischen ihr und der Welt. Wenn das aber so ist, dann kann man ihr nicht gleichzeitig vorwerfen, dass das ausgesparte Indien nicht wie im Film vorkommt, z.B. 'Passage to India'. Hier geht das gleiche schief: Der Film zerstört das rein Literarische."

Steinfeld wandte ein, Indien komme in der konventionellsten Weise vor, die man sich vorstellen kann.

Miller setzte fort, das Hauptargument von Thomas Steinfeld war gestern, er fühle sich nicht angesprochen. Es sei schwierig, darauf zu antworten. "Der Roman ist zweiteilig und hängt mit einem grundsätzlichen Austarieren indischer und westlicher Erfahrung zusammen. Brüderchen und Schwesterchen ist richtig, das ist der Zusammenhalt. "

Radisch warf ein, es sei unfair einen Roman zu erzählen, denn der Text müsse für sich allein sprechen.

Miller: "Die Episode ist so gewählt, dass sie für sich tragen muss und auch trägt."

"Indirekte Rede stört mich"

Josef Haslinger: "Ich bin dem Text gerne gefolgt. Er ist sprachlich gut gearbeitet. Die Geschwisterbeziehung ist zart gezeichnet, weckt große Erwartungen, hat etwas Geheimnisvolles - das ist ein Spannungselement. Aber eines, das zwischendurch weit in den Hintergrund tritt. Das Problem bei einem Auszug ist der Atem des Textes. Dieser Text hat einen langen Atem. Dieser Text ist nicht das Hauptstück des Romans, kann es nicht sein. Es ist die Fahrt zu einem Ziel. Der Ausschnitt hat eine sprachliche Auffälligkeit: Der Ausschnitt besteht aus einer Autotür, die geschlossen ist und drei Menschen sprechen miteinander, wie eine geschlossene Gesellschaft. Es fällt die ausführliche indirekte Rede auf und ich frage mich, warum. Denn der Text ist im Präsens geschrieben, um dem Leser zu vermitteln er sei live dabei. Die indirekte Rede bewirkt aber, dass für den Leser nun kommentiert wird. Warum kann er den Monolog nicht in direkter Rede erzählen?"

"Widersprüche könnten produktiv sein"

Daniela Strigl: "Der Text hat einige Widersprüche, die aber produktiv werden können. Die Distanz mit gleichzeitiger Vergegenwärtigung kann ein Schutzmechanismus gegen eine gewisse Plattheit sein. Ein zweiter Widerspruch scheint zu sein, das Fenster geht zu. Diese beiden sind nicht interessiert an diesem Land - aber der Text widerlegt das, denn da kommt der Mensch mit seiner Blindheit hin, um sich heilen zu lassen. Es muss also ein tieferes Interesse da sein. Ich bin neugierig, wie es weitergeht. Strigl ortete auch die Geschichte des verlorenen Sohnes in der Geschichte des indischen Fahrers. Es bahnen sich verschiedene Ebenen an."

"Temperaturunterschied zwischen Text und Indien"

Burkhard Spinnen: "Für einen philosophischen Text brauche es viel Erfahrung, damit die Figuren nicht nur Statthalter werden. Am Anfang heißt es, es habe 40 Grad. Das ist unerträglich heiß. Der Text hat aber 24 bis 27 Grad. Da ist eine Differenz zwischen dem Text und der Hitze, die tatsächlich herrscht. Zum Glück habe ich keine Geschwister, das möchte ich mir nicht vorstellen. Mit einem Blinden wohin zu fahren, wo nur er weiß, wo das ist. Die Differenz der 13 Grad hat mich irritiert. Das passt auch zu Josef Haslinger, der sagte, er rücke weg. Vieles wird dadurch abgekühlt, es bleibt eine Unsicherheit, wie die Autorin es schaffen wird, die Selbstständigkeit der Figuren im philosophisch belasteten Roman bewahrt bleibt."

Haslinger an Spinnen: "Ich bin überzeugt, sie werden auch immer wieder nach Klagenfurt eingeladen, weil sie solche Bilder finden." Spinnend dankte lächelnd.

Miller warf ein, das Problem sei, dass dieses Buch den gleichen Gegenstand mit anderen Büchern teile. An Spinnen: "Ich kenne nicht viel, aber in der indischen Literatur müssen wir mit diesem Temperaturunterschied leben. Man muss einen Text abkühlen, um ihn beschreiben zu können. Ich habe auch Herrn Haslingers Beobachtung geteilt - es ist die Differenzierung beabsichtigt. Die lange Passage ist als Abrückung der Thematik gemeint."

"Story hier wichtiger als die Sprache"

Iris Radisch: "Es ist letztlich nicht nur eine Frage von Temperatur, Distanz oder Dicke der Autoscheiben. Das Problem ist, dass es eine sprachliche Billigausgabe von Indien ist. Es ist kein Märchenton, keine Ausnüchterung, sondern hier hat man sich zu sehr auf die Story verlassen und keine Sprache für diese Geschichte gefunden."

"Das Exotische ist nicht in dieser Geschichte", warf Thomas Steinfeld ein. Er wolle Schärfe, Hitze und Härte.

Für Friederike Kretzen werde die Exotik als Folie verwendet. Sie denke an Duras, die mehrere Bücher über Indien geschrieben hatte, in denen es sehr heiß war.

Norbert Miller meinte abschließend, "die Fiebertemperaturen der Margerite Duras gehen auch nicht über die Temperaturen eines französischen Salons."

Redaktion: Petra Haas
Fotos: Johannes Puch, ORF


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