Kristof Schreuf
wurde vorgeschlagen von Iris Radisch. Er las den Text "Wahrheit
ist das wovon Männer gerne behaupten, dass es ihnen um
sie geht."
"Eine Trennlinie zwischen Literatur
und Nicht-Literatur"
Strigl: Zunächst muss ich Herrn
Schreuf vehement widersprechen - ich glaube schon, dass es
eine Linie gibt, die die Schriftsteller von den Nicht-Schriftstellern
trennt. Er steht auf Seiten der Schriftsteller. Ich finde
den Text sehr interessant, er kommt einem zeitgemäßen
Thema, dem Gegenwärtigen sehr nahe. Die Hochofenromantik,
die gibt es schon lange nicht mehr, es gibt auch wenig Texte
über Arbeit. Allein das Thema ist also interessant. Es
ist Gesellschaftskritik im besten Sinn. Es geht um jenen Kapitalismus
mit unmenschlichem Antlitz. Das wichtigste ist die Sprache
- die ist verblüffend für mich. Er arbeitet mit
Paradoxien, jeder zweite Satz ist eine Überraschung.
Es ist ein gescheiter Text, aber ich habe auch kleine Einwände.
Ich verstehe die Funktion der Kohlmeyergeschichte nicht. Ein
spannender Versuch.
"Das ist ein Rocktext"
Thomas
Steinfeld: Dieser Text hat eine sehr große Nähe
zu dem, was ein Rocktext ist. Er steht den Lyrics näher
als der Lyrik und den Songtexten näher als der Literatur.
Man könne manche Sätze in Rocktexte übersetzen.
Jeder dritte Satz ist eine Sentenz, es kommt die Willkür
und wüste Assoziationsketten. Der Kohlmeyer passt auch
gut in diesen Zusammenhang, er ist die Ballade. Der Rocktext
funktioniert nicht nach Gesetzen der Lyrik, sondern als Ansammlung
von Hooks, die hängen bleiben. Das Problem ist, wenn
man sie in Literatur verwandelt, funktionieren sie nicht mehr
richtig.
"Text kommt mir vor, wie außer
Atem"
Iris Radisch: "Das gefällt
mir alles gut. Ich gebe zu, dass mir ein rockigeres Lesen
gut gefallen hätte. Es ist kein großes literarisches
Bekenntnis. Der Text kommt mir vor, wie im Laufen gelesen,
außer Atem. Der Mensch ist immer verausgabt, immer in
Bewegung. Es ist ein Selbstportrait, ein Riesenthema trotz
Lyrics. Es ist für mich ein Junky des Spätkapitalismus."
Burkhard
Spinnen warf ein: Das ist ein Junky, aber das muss
man mitlesen. Es ist ein Konsument, der Text arbeitet mit
einem Vexierbild. An jeder Stelle kann man eine Drogenkarriere
einbauen.
Iris
Radisch: "Der Typ läuft rum und verkauft
Leuten Dinge, die keiner braucht. Das ist Kapitalismus."
Burkhard
Spinnen: "Was Sie als Metapher gelesen haben,
war für mich eine Selbstauskunft. Er verkauft seine Existenz
an soziale Institutionen. Es gibt ja jede Menge Hinweise.
Manche Passagen kann man nicht in Hinblick auf die normale
Arbeitswelt lesen."
Thomas
Steinfeld: "Der Schwachsinnsquotient in diesem
Text ist relativ hoch."
"Ich bin auf der anderen Seite"
Norbert Miller: Ich habe hier Schwierigkeiten.
Der Text kommt als ein langer Selbstmonolog in einer selbststilisierenden
Form vor, die gezielt und virtuos eigene Zustände zeigt.
Junky oder Arbeitswelt, es scheint mir der Text gar nicht
zusammenzuhängen und nicht in dem emphatischen Sinn ein
kapitalismuskritischer Text zu sein. Sonst sei das die Johannes
B. Kerner Show auch. Wenn es eine Linie gibt, die die Nicht-Literatur
von Literatur trennt, bin ich auf der anderen Seite dieses
Textes.
"Phrasen zwischen Paradox und Nonsens"
Ilma Rakusa freute sich, dass ein
Text nicht erzählt. "Er besteht aus Phrasen, auch
wenn sie so montiert sind, dass Paradoxien und Nonsens entsteht.
Es sind Kalauer. Ich war zunächst aufgeschlossen, weil
der Text anders war. Beim zweiten Lesen habe ich mich wahnsinnig
geärgert und ich habe ihn mit Fragen vollgekritzelt.
Das ist ein Ton, ein Schreien, das im Grunde unglaublich anmaßend
ist. Da ist der Größenwahn am Werk. Eine Originalitätssucht,
die mich gestört hat."
Friederike
Kretzen: "Mir ist es ähnlich gegangen. Beim
ersten Lesen dachte ich, ein Text mit eigener Logik. Der sich
mit großen Beständen beschäftigt, wie Arbeit,
Kapitalismus. Jetzt denke ich auch, das sind Anmaßungen.
Das Erkenntnis des Textes ist nicht, wo widerstehen sie mir,
sondern wo sind sie verfügbar."
Radisch: "Missverständnis"
Einwand
von Iris Radisch: "Ich glaube, das ist ein Missverständnis.
Dieser Sprecher ist nicht Herr seines Vokabulars. Es ist jemand,
der Opfer all dessen ist, was er beschreibt. Die Seele hat
Schaden genommen. Die Figur führt große Worte,
beherrscht das Vokabular aber nicht.
Ilma
Rakusa sagte, es sei jemand, der viel könne, aber
das sei doch nicht zufällig gemacht.
Josef
Haslinger: Ich habe nach dem ersten Durchlesen, als
ich verwirrt war, trotzdem ein starkes Interesse für
den Text gehabt. Weil er anders ist, weil er ein Spiel mit
der Essayistik treibt. Für Essayistik gilt aber, dass
man zwischen Erzähler und Autor nicht unterscheidet.
Diesen Text halte ich für eine Irreführung, eine
bewusste. Dafür spricht auch der Anfang. Der Text versucht
neue Wege. Der Satz 'Ich akkumuliere Unsicherheit…."
wurde für mich plötzlich zentral. Der Text ist der
Versuch, dem Weltempfinden, das sich nicht mehr in alten Kategorien
der Selbstdefinition zuhause fühlt, Ausdruck zu verleihen.
Thomas
Steinfeld: "Anmaßung und Berechnung gehören
hier zusammen. Die Sätze wirken, aber der Inhalt ist
manchmal völlig schnurz."
"Bin knapp vor dem Kapitulieren"
Ursula März: Ich bin knapp
davor, zu kapitulieren, das kann ich ja nicht schon wieder
sagen. Hier wird aus einer Mücke ein Elefant gemacht,
das ist die Poetik des Textes. Der Text gehört in die
Angestelltenwelt, nicht in die Arbeitswelt. Ich dachte an
ein Buch, das "Buch der Unruhe", da gibt es eine
Verbindung. Für mich ist der Text monoton und uninteressant.
Daniela
Strigl wies auf den Titel hin. Auch er sei schon Anmaßung.
Es ist die Geschichte einer Entgleisung und lässt uns
daran teilhaben. Wie das bei Spiegelungen ist, fällt
mancher Strahl vom Aufklärungslicht doch so, dass er
etwas erhellt. Es ist nicht alles Unsinn.
Ursula
März: Vielleicht reicht bei mir im Kopf etwas
nicht, erklären Sie es mir.
"Kippfigur zwischen Junky und Arbeiter"
Burkhard Spinnen: Im Seminar hieß
es immer, das ist doch überinterpretiert. Ich wollte
den Satz nie zulassen. Der Text funktioniert für mich
auf einer inhaltlichen Ebene. Es ist der Versuch, über
einen zeitgenössischen Beruf so zu sprechen, als könne
es auch Drogensucht sein. Es kommt drauf an, wie man ihn liest.
Es sei wie eine Kippfigur
und so müsse man jeden Satz überprüfen. Die
Sätze sind so akribisch so darauf gebaut, auf diese Kippe.
Streckenweise ist es brillant in der vorsätzlichen Irreführung.
Iris Radisch: "Mich hat der
Text richtig angetörnt, weil er die ganze Zeit auf Messers
Schneide bewegte. Er hat sich nicht entschieden."
Rakusa
warf ein, sie habe es so nicht gelesen. Aber der Ton,
der sich festsetzt, das ist berechnende Anmaßung.
Thomas
Steinfeld: "Ich sehe den Hebel nicht, um die Figur
zum Kippen zu bringen."
Iris
Radisch verriet das Geheimnis, dass es eine alte Fassung
gebe, die klar mache, dass es um einen Junky gehe.
Redaktion: Petra Haas
Fotos: ORF/Johannes Puch |