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Pressespiegel

Diskussion nach Lesung von Feridun Zaimoglu

Feridun Zaimoglu las den Text "Häute". Er wurde von Ursula März eingeladen und erntete in der Jury viel Zustimmung für seine Beschreibung eines archaischen Dorfes in der dritten Welt.

"Wie anders ist diese Dorfgeschichte"

Iris Radisch: "Wieder eine Dorfgeschichte, aber wie anders ist sie. Das ist offenbar die Rückkehr eines Sohnes in die alte Heimat. Eine archaische Welt, eine alte Welt - diese Welt hat mich beim Autor Zaimoglu überrascht, er schildert sonst die deutsche Wirklichkeit. In diese geschlossene Welt kommt der Fremde hinein, wird belauert. Interessant ist, dass es diese Welt, obwohl sie vermeintlich intakt ist, eigentlich nicht mehr gibt. Es gibt einen Antikshop, wo die Reliquien verkauft werden. Es deutet an, die Rückkehr in das Dorf gibt es in diesem Text nicht. Das Paradies nach hinten ist verschlossen. Der Cherub ist hier eine Händlerin, die die Ware nicht hergibt. Hat mir sehr gut gefallen, hat mich überzeugt."

"Die archaische Welt irritiert mich"

Daniela Strigl:" In diesem Dorf hat es mindestens 35 Grad und es ist wieder eine Präsens-Geschichte, was die Dichte ausmacht. Mich hat der Hang zum Archaisieren irritiert, es erscheint mit etwas forciert. Da ist der Schächter, der Heilige, die Jungfrauen, der Blutfleck am Leintuch. Das Personal einer altertümlichen Welt, eine Karl-May-Welt, ohne den Stil zu vergleichen. Es würde einen nicht wundern, wenn einer zum anderen Effendi sagt. Man sagt Weib, statt Frau. Das alles hat einen Sog, ist spannend, eine richtige Geschichte. Aber ich habe ein leises Unbehagen. Im Text gibt es so viele Häute, der Titel ist das beste."

"Erzähler trägt die Figuren an"

Friederike Kretzen: "Wenn es eine Dorfgeschichte ist, ist es eine eingedeutschte. Was Frau Strigl beschrieben hat, sind alle Ingredienzien, diese Zutaten stimmen mit der Erwartung eines türkischen Dorfes überein. Das Thema des Zurückkommens ist für mich nicht gefasst. Die Leute der Geschichte kommen selbst nicht zu Wort, der Erzähler sieht die Welt und trägt sie den Figuren an. "

"Der arabische Basar ist eine schöne Vorstellung"

Ursula März: "Eine der schönsten westlichen Vorstellungen ist der arabische Basar. Hier sieht das so aus, aber man kommt drauf, es gibt ihn nicht mehr. Wir haben früher von Etüde gesprochen. Auch das ist eine Etüde, die zwei Motive Intaktheit, Entwertung ausführt. Aber wie groß ist der Sprachreichtum, Erzählreichtum. Ich frage mich, an was erinnert sie mich - an bestimmt Apparate in der U-Bahn, die heißen Entwertungsapparate. Im Inneren dieser Geschichte steckt ein solcher Apparat."

"Im Geschäft und in der Erzählung wird alles, was aufgeführt wird, wieder zerstört. Eine Illusion nach der anderen wird entwertet. Aber die Geschichte an sich ist nicht entwertend, sie stellte einen Sprachreichtum dar, den wir bisher noch nicht gehört hatten. In dieser Dialektik ist dies eine Erzählung über Kapitalismus mit großem Reichtum und vernichtenden Entwertungsapparat in sich."

 

"Sehr beeindruckt"

Thomas Steinfeld: "Auch mich hat diese Geschichte sehr beeindruckt. Ohne Schwulst öffnet jemand einen Erzählraum, der in sich stimmt. Er hat ein gutes Verhältnis zu seinen Figuren. Den Charakter einer Etüde sehe ich gar nicht. Es ist eine verzerrte Realität, mit der man sich auseinandersetzen muss. Man kennt viele Motive aus der eigenen Welt, wie auch das Laken."

Ilma Rakusa: "Ich würde der Erzählung Stimmigkeit attestieren. Sie fächert etwas auf, erzeugt eine Welt, in die man sich sofort hineinfindet. Ich möchte Frau März widersprechen - auf soviel Reichtum hinzuweisen würde heißen, wir hätten in diesen Tagen noch gar nichts gehabt. Die Sprache wird dem Text gerecht, ist nicht risikofreudig."

Ursula März protestierte und meinte, vielleicht habe es einen Grund, dass wir gestern nicht über Sprache gesprochen haben. Rakusa meinte, die Sprache leiste, was sie sich vornehme, aber es sei jetzt nicht der große Wurf.

Ursula Kretzen: Der Entwertungskern im Text sei von Frau März schon beschrieben, doch sie sehe diese Konstruktion nicht, vor allem in der Sprache nicht.

Iris Radisch warf ein, der Hinweis mit dem Kapitalismus führe die Jury in die Irre. Es sei eine archaische Welt, die sich verkauft.

"Glänzend erzählt"

Norbert Miller: "Die Erzählte ist glänzend erzählt, reich an Motiven. Sie braucht dazu, das, was Erzähler immer wieder haben: Ein ungebrochenes Verhältnis zum eigenen Erzählfluss. Dies überzeugt hier. Es tauchen wunderbare Details auf. Was es nicht ist, weder ein verschlüsselter Text, der über der Verschlüsselung etwa von einer Welt in die andere holt. Noch ist er experimentell in der Sprache."

"Erzähler drängt Figur zurück"

Josef Haslinger: "Mir hat das Wort "Stimmigkeit" von Frau Rakusa gut gefallen. Die Frage, wer spricht, wird deutlich beantwortet. Es spricht jemand bis zur eigenen Bloßstellung in seiner eigenen Sprache. Die Figur kennt diese Welt sehr gut. Seit einigen Jahrzehnten gebe es eine Literatur von Autoren aus der dritten Welt, die aber in europäischen oder US-Großstädten leben. Ich halte sie für die spannendste Literatur überhaupt, die geschrieben wurde. Seit einiger Zeit gibt es auch in Deutschland eine solche Literatur. Sie hat uns etwa mitzuteilen, was wir von uns aus nicht schreiben könnten, denn wir tragen keine andere Welt in uns. Wenn wir eine andere Welt in uns tragen ist es das Dorf, deshalb ist das Dorf nicht aus den Texten wegzukriegen."

"Etwas Unbehagen bereitet mir die Tatsache, dass ich glaube, dass ich aus dem Verhältnis einer Figur, die uns etwas sagt, was wir nicht schreiben könnten, das Gefühl eines Präsentierens bekomme. Ich frage mich, kann man dies dem Text nachweisen? Bei Karl May hat man die Landschaftsbeschreibungen, zwischendurch findet man das auch in diesem Text. Man folgt als Leser der Wahrnehmung der Figur, dann tritt manchmal die Figur hinter den Erzähler zurück. Der weiß eine Spur mehr, als die Figur und kann es besser präsentieren. Der Text nimmt durch diese leichte Präsentationsgeste sich selbst etwas weg, nämlich sein Geheimnis, " sagte Haslinger.

"Teile Unbehagen mit dem Erzähler"

Daniela Strigl: "Bei Karl May war das doch so, dass man in dem Alter, in dem man ihn gelesen hat, die Beschreibungen überblättert hat. Hier gibt es nichts zu überblättern, es gibt keine Durchhänger. Was Herr Haslinger mit der Präsentation gemeint hat, meinte ich auch mit meinem Unbehagen. Ich hatte den Eindruck, hier soll gezeigt werden, wie Literatur ausschaut, der man Blut eingeflößt hat. Pralle, lebensnahe Literatur soll gezeigt werden und diese Absicht verstimmt leicht."

Spinnen: "Nur Herumgeraunze von mir"

Burkhard Spinnen: "Ich bin ja froh, dass in diesem Jahr soviel kenntnisreiche Menschen da sind, die mir die Theorie abnehmen. Vom Standpunkt des Lesers aus, habe ich eine Anmerkung. Es ist eine wunderbare Standardsituation für mitteleuropäische Männer, in den die Figur geführt wurde. Eine Frau wird ihm angeboten. Dann kommt plötzlich der Steineklopper und es ist zu Ende - da hätte ich mir mehr Seiten gewünscht. Ist nur ein Herumgeraunze", schloss Spinnen.

Redaktion: Petra Haas
Fotos: Johannes Puch, ORF


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