Es
war schon mal schlimmer
Ein Brief vom Wörthersee: Vom 27. Wettlesen um den Klagenfurter
Ingeborg-Bachmann-Preis
Liebe Tante Ingeborg,
viele Grüße aus Klagenfurt.
Wir haben es uns ja lange überlegt in diesem Jahr, aber dann
sind wir doch wieder zum Bachmann-Wettbewerb gefahren. Nicht aus
Masochismus. Nicht nur.
Jaja, ich weiß. Wie haben wir geschimpft. Wie haben wir uns
(und Dich) nach jedem Mal mehr gefragt, ob wir uns deutschsprachiger
Gegenwartsliteratur dieser Art aussetzen würden, würde
sie nicht im Juni am Wörthersee, sondern im März am Möhnesee
vorgelesen (neinneinnein!). Verzweifelt sind wir. Über die
Literatur, die Juroren, den ganzen Bewerb, wie man ihn hier nennt.
Klagenfurt-Bashing war eine unserer Lieblingssportarten.
Aber erstens geben wir, Du kennst uns gut genug, die Hoffnung auf
Besserung selten auf, bevor es zu spät ist (gerade wenn es
darum geht, Literatur an die Öffentlichkeit zu bringen, und
wo kriegt sie denn heute noch einen Sendeplatz vor Mitternacht mit
mehr als 30 Minuten). Und zweitens kann man die Literatur schlechterdings
nicht den Haiders überlassen. Denn der will den Wettbewerb
nicht erst abschaffen, seitdem er Landeshauptmann von Kärnten
ist, weil er "totgelaufen" sei. Weswegen wir unser alljährliches
Erscheinen im ORF-Studio von Klagenfurt als eine Art widerständischen
Akt begreifen. Dieser Widerstand tut auch deshalb Not, weil der
Preis selbst im ORF anscheinend nur mit Mühe gerettet werden
konnte.
Gleich noch eine gute Nachricht: Unser Bachmannpreis-Bashing, das
uns langsam sehr fad wurde, hatte Erfolg. Weil sie selber merkten,
dass es nicht weiter gehen konnte wie bisher, haben sie sich Erneuerung
auf die Fahnen geschrieben in Klagenfurt. Wie die aussah? Ein bisschen
vorsichtig. Die öffentlich heftig verprügelte Jury wurde
fast komplett ausgewechselt (von der alten blieb eigentlich nur
Burkhard Spinnen übrig) und auf neun Mitglieder erweitert.
Auch eine Ursache für die vielen schlimmen Texte meinen sie
gefunden zu haben: die Übermacht der Schriftsteller in der
bisherigen Jury. Die hätten halt allzu sehr eine Binnenperspektive,
zur wahren Beurteilung literarischer Texte bedürfe es aber
vor allem des Blicks von außen. So gab es diesmal nur 2,5
Schriftsteller in der Jury und eine Übermacht der Kritiker.
Die sollten dafür sorgen, hatte Iris Radisch gefordert, die
von heuer an die Juryvorsitzende geben darf, dass die Texte ein
gewisses Mittelmaß nicht unterschreiten.
Und Du wirst es kaum glauben: Sie taten es auch nicht.
Nun wissen wir alle, dass Mittelmaß in der deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur ein furchtbares Maß sein kann. Auch dafür
gab es wieder einschlägige Beweise. Es war halt wie immer.
Viel Literaturliteratur, viel Kunstwollen, viel behauptete Welt
und wenig erschaffene, ganz wenig, was sich einkrallte in Kopf und
Herz.
Wobei man sich nicht wirklich oft ärgern musste. Die meisten
der Texte ließen einen auf literaturtechnisch hohem Niveau
ziemlich kalt.
Immerhin gab es ein paar Texte, die über dieses flache Niveau
herausragten: Feridun Zaimoglus unheimliche Geschichte von einer
Begegnung der Kulturen in einem türkischen Dorfantikshop. Die
geradezu altmeisterliche Kurznovelle von Gregor Hens über einen
Staatsbesuch von John F. Kennedy in Costa Rica 1963. Und vor allem
Inka Pareis beängstigend genaue, beängstigend langsame,
von einer glühenden Düsternis, von Grauen grundierte Geschichte
über das Hinsterben eines alten Mannes in Frankfurt Rödelheim
(das geht!). Das war der einzige Text, der eine neue Welt eröffnete
und, bis auf einen Juror, kaum einen unberührt ließ.
Du fragst nach Trends? Die deutschsprachige Literatur schreibt sich
an die Arbeitswelt heran (und meistens gleich wieder an ihr vorbei).
Sie nähert sich der Kapitalismuskritik (und bleibt ihr noch
allzu weit fern). Sie entdeckt das Dorf und die Provinz und vor
allem den deutschen Wald. Der schon mal totgeglaubte Ich-Erzähler
feiert fröhliche Urständ. Über Liebe will keiner
mehr schreiben.
Auch wenn die Jury ernsthafter, engagierter, nachvollziehbarer und
weniger bildungshubernd argumentierte als sonst. Auch wenn Iris
Radisch eifrig mit polemischen Bonmot-Bomben um sich warf und sich
kleine Scharmützel mit dem bildgewaltigen Burkhard Spinnen
lieferte, auch wenn man Norbert Miller gut und gerne zwei Stunden
pro Tag am Stück hätte zuhören mögen: So recht
den Beweis antreten, warum nun neun Juroren besser als sieben und
18 Schriftsteller besser als 16 sein sollen, konnte der erneuerte
Bewerb nicht.
Und sonst? Vom Betriebsausflug der Literatur brauch ich Dir ja inzwischen
nicht mehr viel zu erzählen (kennst Du alles von uns und den
alljährlichen Klagenfurt-Feuilletons). All die Sehenswürdigkeiten,
mit denen wir sonst unsere Bachmann-Briefe bebildert haben, sie
gibt es noch: Das Strandbad in Maria Loretto, wohin der Betrieb
mit Leihrädern schwimmen fährt nach den Lesungen (und
manchmal statt ihrer), der dortige Speiselokal genannte Spesenzentralfriedhof
der deutschsprachigen Büchermacher (er bleibt uns sogar erhalten,
die Stadt hat die komplette Halbinsel Maria Loretto für 13
Millionen gekauft).
Und auch wenn vor uns ein Schulmädchen seufzte "Bin ich
froh, dass es die Amerikaner gibt": Es hätte alles schlimmer
kommen können. Es war schon mal schlimmer. Ich weiß:
Das ist kein Argument. Aber wir fahren trotzdem wieder hin.
Klagenfurt 2003
Den Ingeborg-Bachmann-Preis (22 500 Euro) erhält die Berlinerin
Inka Parei. Auch der Publikumspreis (5000 Euro) ging an sie. Den
Preis der Jury bekam Feridun Zaimoglu, den 3sat-Preis Farhad Showghi
(beide Auszeichnungen dotiert mit 7500 Euro). Mit dem Ernst-Willner-Preis
(6000 Euro) wurde Ulla Lenze ausgezeichnet.
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