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Kurze Übersicht über alle Lesungen in der Reihenfolge des Vortrags |
Michael Lentz Als erster Kandidat ist der 1964 in Düren (BRD) geborene Michael Lentz mit der humorigen Geschichte einer Hausfrauenverwirrung namens "Das war für sie der schlimmste Traum" in den Ring gestiegen. Nach der lebhaften, sicher nicht langweiligen Lesung des in München lebenden Autors und Germanisten diskutierte die Jury durchaus angeregt. Mit "einer Sprachmaschine, die da zu laufen begann" verglich Hardy Ruoss diese Verzweiflung am Putzlappen. Allerdings fehlte ihm "das Zentrum" der Story. Thomas Hettche ortete eine "verzinkte" Erzählung "nahe am Plot". Robert Schindel räumte ein, daß der Text sehr gut wäre, "wenn man ihn als Aphorismensammlung betrachtete", und Iris Radisch verglich das Ganze mit einem "Intercity" der Sprache. Iso Camartin freute sich sodann am "Schwall der Lüge" und der "Sprache als Rausch"
. Sibylle Severus Kein Rauscherlebnis gönnte den Juroren sodann die in Zürich lebende bayerische Autorin Sibylle Severus, die mit ihren 61 Jahren die älteste Kandidatin ist. Ihre Kostprobe aus dem Roman "Das Granitei" wurde für die Jury zur Kernfrage: "Heidi oder nicht Heidi?" - Während sich die meisten Juroren für "Heidi" entschieden, kämpfte Hardy Ruoss dagegen an und sah in der Suche der Romanfigur "Ottilie" nach einem gewissen, immer verschwindenden "Hans" das Gelbe vom Granitei.
Ralf Bönt Zwei sich beinahe ergänzende Texte beschlossen am Mittwoch, die Vormittagsrunde im Wettlesen um den 22. Ingeborg-Bachmann-Preis. Erst las Ralf Bönt (Jahrgang 1963), freier Autor aus Berlin, aus dem Beginn seines Romans "Gold". Der promovierte Physiker schildert darin die Befindlichkeit einer - offenbar jungen - Generation in der Großstadt Berlin. In der Wir-Form macht er vor allem die Verloren- und Verlogenheit, die Teilnahmslosigkeit und Endzeitstimmung transparent. Die Jury war beeindruckt. Robert Schindel brach mit seiner Bemerkung, daß "das Wir" verschiedentlich definiert und daher brüchig sei, eine heftige Diskussion vom Zaun. Iris Radisch meinte, der Autor hätte "eine große Parabel auf die Gegenwart" verfaßt und das "Wir" eingesetzt, "um den Parabelductus zu halten". Silvia Bovenschen mutmaßte im "Wir" sogar eine "Hetzmeute, die korrupt, verräterisch und prostituierend" wäre. Iso Camartin aber lehnte sich amüsiert zurück und befand das Wechselspiel "von Cool und Pathos raffiniert strategisch". Auch was das Gefühl betrifft, fühlte sich Camartin bestens bedient: "Ein Versuch, Feuer und Wasser zu versöhnen". Ralf Bönt erhielt das 3sat Stipendium. Silvia Szymanski Auch die Rheinländerin Silvia Szymanski (Jahrgang 1958) aus Übach-Palenberg las aus einem entstehenden Roman, genannt "Chemische Reinigung". Szymanski, die sich auch als Rock-Sängerin hervortut, schilderte ähnlich wie Bönt Ähnliches. Aber dieses Ähnliche spielt sich in der Provinz ab und entstammt einer weiblichen Feder. Eine junge Unschuld vom Lande schildert episodisch ihr Umfeld. Robert Schindel befand das sogleich für "pointiert und prägnant, eine Unschuld vom Lande mit finsterer Seite, also nicht zugängig". Iris Radisch schwärmte von einem Zeitdokument, das ebenso "ungeschützt wie forciert provinziell" sei. Schindel aber fand ein Manko in der Dramaturgie: "Dem Text fehlt eine Huckleberryfinnisierung!" - womit ein neuer Begriff der Literaturkritik geboren ward. Silvia Szymanski erhielt in der Jury-Diskussion für fast alle Preise Stimmen, ging aber letztlich knapp leer aus. John von Düffel John von Düffel präsentierte einen Ausschnitt aus seinem Roman "Vom Wasser". Der 1966 geborene studierte Philosoph, Journalist und Theaterdramaturg hatte sich zuvor mit mehreren Theaterstücken profiliert und legt nun erstmals ein Romanfragment vor. Sprachartistisch schildert er das Leben am Wasser zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Robert Schindel holte zu einer Eloge aus: "Ruhig wie ein Fluß schwimmt dieser Text daher." Schließlich: "Es wird etwas sichtbar ... ich gratuliere." Iso Camartin jedoch war mit den Lorbeeren nicht ganz einverstanden und riß sie dem Autor vom Haupt: "Der Text ist konstruiert und arrangiert: eine doktorische Luxuria. Und man fragt sich, ob das Schliff oder Schleif sei." Iris Radisch schimpfte über die "sprachliche Spitzenklöpperlei" und die "Rückkehr des literarischen Biedermeier". Daraufhin fragte Silvia Bovenschen: "Warum sollte ein makellos geschriebener Text schlecht sein?" John von Düffel erhält den Ernst-Willner-Preis 1998 Tim Staffel Das jurorische Muskelspiel wurde angesichts des folgenden letzten Textes noch deutlicher. Man stritt sich um das Manuskript "Hüttenkäse" des von Schindel vorgeschlagenen, in Berlin lebenden Autors Tim Staffel (Jahrgang 1965). Der Theaterwissenschafter und Dramatiker besitzt schon Preise und Stipendien und widmet sich der brutalen Jugendszene in der Großstadt. Seine Sprache ist adäquat: kiffen, spritzen und ficken sind noch einige der nobleren Verben, die er verwendet. - Die Jury war geschockt. Ruoss: "Das handelt von einer Gang, die ihre Träume und ihren Verstand verloren hat. - Ich bin ratlos." Bovenschen schüttelte sich: "Das ist ein Text, der mich erschrecken will, aber ich erschrecke nicht!" Viel mehr fühlte sie sich "verarscht und absolut kaltgelassen." Iris Radisch meinte, sie hätte hier ein "armseliges Zeugnis eines Versuchs" vernommen, der "zu hermetisch, zu pseudo" sei und Iso Camartin stellte fest, daß das Zuhören "Schwerarbeit" gewesen wäre, "der ich mich aber institinktiv verweigert hatte". Der Jurysprecher schloß mit den Worten: "Rette sich, wer kann." Robert Schindel aber meinte, daß diese Reaktionen für den Realismus des Textes sprechen würden. Donnerstag: Leander Scholz Der Benjamin des heurigen Wettbewerbes, Leander Scholz (geb. 1969) versuchte es mit einer Liebes-, Sex- und Gewaltgeschichte, die in der Jury auf geteilte Meinungen stieß. Hardy Ruoss fand "Kannibalismus als Ausdruck von Liebe eher fragwürdig". Robert Schindel urteilte: "Eine Blut- und Sperma-Operette aus einer sanft dahingaloppierenden Männerfantasie." Thomas Hettche verteidigte den Text zwar, trotz alledem blieb der Gesamteindruck, den Iris Radisch zusammenfaßte: "unglaublich platt!"
Kurt Bracharz Der 51 Jahre alte Vorarlberger Kurt Bracharz, der eigentlich als Kinderbuch- und Kriminalautor bekannt ist, stellte als erster Österreicher im Lesereigen einen philosophisch inspirierten Text vor. Kein fremdwörtergespickter Spezialtext, sondern eine ironisch-heitere Erzählung. Prompt meinte dazu Iris Radisch, daß dies ein recht ansprechender Text für ein Sonnenbad am Strand sei. Bei den Schweizer Juroren Camartin und Ruoss konnte Bracharz hingegen punkten.
Margit Schreiner Margit Schreiner las eine vielschichtige Erzählung: "Die Tasche" beschreibt das Sterben der Mutter und einen Lebensabschnitt, der von Abschieden bestimmt ist. Dem Abschied von der Jugend folgt der von den Eltern, den Kindern und von lieben und unlieben Gewohnheiten. Schreiner packt das in die Tasche der ins Spital eingelieferten Mutter. Diese Metaphorik stieß auf das Interesse der Juroren. Iso Camartin meinte, das sei "eine Entsorgungsgeschichte auf dem untersten Niveau der Erregbarkeit geschildert". Thomas Hettche witterte eine Fülle "falscher Konjunktive" und Iris Radisch meinte, ihre Kollegen wären "auf den Text reingefallen". Denn in Wirklichkeit handle es sich um eine mehrbödige Geschichte, "die Spannung und Magie" besitze. Silvia Bovenschen hatte "zu wenig Ekel" bei dieser Erzählung über den Verfall verspürt. Robert Schindel aber schwärmte: "Nach dem großen Abschied von der Mutter steht alles in Frage: Die Ablösung ist die zweite Ebene der Story."
Kathrin Schmidt Kathrin Schmidt las aus ihrem Roman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition", einer Art Familiensaga, die in verschiedenen zeitlichen Ebenen die deutsche Geschichte erzählt. Der Text wurde allgemein hoch gelobt, lediglich Ulrike Längle kritisierte "die Sprache wabbert mir zu sehr und erinnert mich außerdem an Günther Grass." Iris Radisch dazu: "ich lese hier die ganze Ostsee-Literatur" und Iso Carmatin bemerkte "gute Literatur übersteigt immer die Grenzen der Welt!". Kathrin Schmidt wurde mit dem Preis des Landes Kärnten ausgezeichnet.
Sibylle Lewitscharoff Die nunmehr in Berlin als Buchhalterin einer Werbeagentur und Hörfunkautorin lebende Schreiberin servierte der Klagenfurter Jury die Ansichten des verrückten "Pong" und erntete dafür Publikums- und Juryjubel. Iso Camartin war ganz außer sich geraten und zollte der Autorin "complimenti grandissimi" für ihr "poetisches Esperanto der allerbesten Sorte". Ulrike Längle, etwas moderater begeistert, schwärmte über die "hintergründige Poesie in der Sprache" und Hardy Ruoss lobte die Vielfalt der da montierten Bilder in höchsten Tönen. Sibylle Lewitscharoff ist die Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 1998.
Olivia Kleinknecht "Später Erfolg" hieß der Text der Schweizer Autorin Olivia Kleinknecht, die Prosa in deutscher und englischer Sprache schreibt. Allein, der dürfte ihr nicht beschieden sein. Ihr Vortrag wurde mit mäßiger Begeisterung aufgenommen. Das beste Urteil gab Silvia Bovenschen ab: "Das ist unprätentiös, nicht unangenehm erzählt." Schindel und Längle fanden die Story eines intellektuellen Aussteigers "sprachlich viel zu schlicht erzählt."
Freitag: Inka Bach Die 42jährige Deutsche las den ersten Text am Freitag. "Von Fall zu Fall" ist eine verschlungene Geschichte, deren Thema Berlin und die Vergänglichkeit sind. Juror Iso Camartin bemerkte, daß hier "der Wille zur Konstruktion" spürbar gewesen "und alles viel zu gewollt" sei. "Ich merke die Absicht und bin ein ganz klein bißchen verstimmt".
Christian Paul Berger Der 41jährige Österreicher Christian Paul Berger drehte den Spieß letztlich um und kritisierte die Kritiker. "Germanistenkakao" nannte er die Diskussion über seinen Text "Im Sommerwind". "Ich werde mich nicht vor Ihnen in den Sand werfen". Die Juroren waren mehrheitlich der Meinung gewesen, daß der im Stakkato gelesene Text Bergers eine "Beschwörung von Bernhard und Stifter sowie vieler anderer gewesen sei." Schindel sprach von einer "merkwürdigen Komik", von "Zivilisationskritik" und "Epigonentum". Nach der Frage von Radisch: "Warum diese ewige Rückkehr der Österreicher zum Bernhardstil? - Laßt ihn doch endlich in Frieden ruhen", platzte Berger der Kragen.
Christian Futscher Besser als Berger ging es dem vierten Österreicher. Er präsentierte "13 Meistererzählungen". Robert Schindel hatte zwar "den Text nicht verstanden", Iso Camartin aber fand: "Der Meister wirft sich in Pose: Ich empfand die gute Laune beinahe als Erlösung." Ulrike Längle sagte: "Für mich haben die Geschichten den Kick ins Absurde."
Jan Lurvink Jan Lurvink beendete das Vorlesen im ORF-Theater Klagenfurt. Sein Text hieß "Windladen", aus einem Roman, dessen Hauptfigur - wie Lurvink - Organist ist. Hettche fand Gefallen "an der Müdigkeit" des Textes und Radisch stellte einen "resignativen Sound" fest, "aber die Töne klingen nicht". Danach, so Radisch etwas enttäuscht, "orgelt die Sprache". Hardy Ruoss: "Der Künstler schafft es, auf meiner Seele zu spielen.
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