Christian Futscher. Geboren 1960 in Feldkirch,A. Lebt in Wien, A.
Heute ist heute

13 Meistererzählungen

Die Suppe

Der Meister sitzt vor einer klaren Suppe. Er sitzt schon lange dort.
Der Meister hält die Zunge in die Suppe.
"Endlich kalt", sagt er.
Er hebt den Teller zum Gesicht, schlürft etwas Suppe,läßt die Suppe auf den Löffel rinnen. Den Löffel führt er vorsichtig zum Hals und leert sich die Suppe beim Hemdkragen hinein.
"Brrr", sagt er, "schön kalt, die Suppe!"
Er wiederholt die Prozedur in einem fort, das Hemd ist naß vom Hals bis zum Bauch.
Da läutet das Telefon.
Der Meister hebt unwillig ab.
"Hallo Meister, wie geht's der Kunst?" wird er gefragt.
"Ich mich gerade beschäftige mit einer Suppe!"
"Klingt interessant!"
"Zurück ich rufe, wenn leer ist der Teller."
"Dann guten Appetit!"
Der Meister legt auf. "Dummes Arschloch!" sagt er undwidmet sich wieder der Suppe.
Der Meister fühlt sich schon seit längerem unverstanden.

Das Meer

Der Meister sitzt in einer Runde lachwütiger, weitgereister und eloquenter Menschen, die ihm alle irgendwie bekannt vorkommen.
Der Meister ist abwesend, was aber nicht weiter auffällt.
Der Meister antwortet auf eine nicht an ihn gestellte Frage mit den Worten: "Es ist nicht weiß", und fügt nach kurzer Zeit hinzu: "mehr".
"Ja, da wär ich jetzt auch gern", sagt einer in der Runde und hat dabei einen so sehnsuchtsvollen Blick, daß der Meister abrupt das Weite sucht.
Auf der nächtlichen Straße, vor einem Reisebüro, in dessen Auslage auf Prospekten und Plakaten halbnackte Männer und Frauen zu sehen sind, wirft sich der Meister
in Posse, um eine Rede zu halten.
Er räuspert sich und beginnt mit den Worten: "Sehr ge-
ehrte Dummen und Huren..." Dann bricht er die Rede ab,
sagt: "Ach was!" und geht dorthin, wo sein Bett ist.

Die Zeit

Der Meister liest in der Zeitung, daß ein gewisser Politiker gemeint habe, der kleine fleißige anständige Österreicher werde von der linkslinken Schickeria terrorisiert.
Der Meister ruft einen Kollegen an.
"WAS ICH DA LESE", schreit er dem Kollegen ins Ohr, "DEN KLEINEN ÖSTERREICHER DU TERRORISIERST!"
"Was ist los?"
"SCHÄMEN SOLLST DICH DU, DU EINGEBILDETER SCHMIERSACK! WEISST ÜBERHAUPT DU, WIE SCHMECKT EIN APFEL?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte der Meister auf.
Er nahm einen Apfel zur Hand und schnitt mit dem Messer ein Gesicht hinein.
Dann ißt er den Apfel samt dem Gehäuse, zwei Kerne behält er im Mund.
Er verläßt die Wohnung, und dem ersten Kind, das ihm auf der Straße begegnet, spuckt er die Kerne ins Gesicht.
"Erziehungsmaßnahme!" sagt er zu der empörten Mutter.

Die Natur

An einem ausgesprochen schönen Morgen, als die gelbe Sonne vom blauen Himmel lachte und leuchtete in all ihrer Prachtentfaltung, es überall nur so frisch und klar flimmerte vor lauter Helligkeit und purer Klarheit, und die lieben Pflanzen, darunter hauptsächlich die Blumen, das heißt die Blüten in ihrem herrlichsten Festtagskleid wie ein natürliches Wunder natürlich sich anschickten, zauberte der Meister mit seinem Zauberstrahl einen Zauberstab in die Muschel, die augenblicklich magische Dimensionsausmaße annahm, obwohl sich nur in einem kleinen Raum befindend, durch dessen Fenster (Einzahl) ein Lichtstrahl der Sonne aufs bezaubernste korrespondieren tat mit erwähntem Zauberstrahl - doch der Meister, ohne Augen für das Wunder, sagte mit belegter Stimme: "Nichts paßt, alles flasch."
Kurz darauf stülpte er sich eine Unterhose über den Kopf und sagte: " Ich bin der König des Undergrounds."
Da mußte ich lachen.

Die Andeutung

Der Meister trifft sich in einem Café mit einer Frau, die für eine Zeitschrift schreibt. Sie will ihn interviewen. Bevor es dazu kommt, sagt der Meister mit nasaler Stimme: "Mir nicht ist gut heute." Die nasale Stimme deshalb, weil er sich mit zwei Fingern die Nase zuhält.
Die Frau ist einiges gewohnt, das bringt ihr Beruf so mit sich.
Der Meister spuckt in seinen Kaffee, dann trinkt er ihn ex.
Die Frau wundert sich.
"Das beste Gegenmittel!" sagt der Meister, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust.
"Wogegen?" fragt die Frau.
"Gegen Nasenschmerzen", antwortet der Meister.
Die Frau ist leicht irritiert, deshalb stellt sie das Aufnahmegerät auf den Tisch.
Der Meister fragt: "Darf ich zuvor Sie porträtieren?"
"Das machen Sie auch?"
"Das Sie nicht wissen?"
Der Meister holt einen kleinen Zeichenblock aus der Jackentasche. "Still sein und halten ruhig", sagt er, "es nicht lange dauert."
Der Meister legt los.
Die Frau kann nicht sehen, was er zeichnet, seine Blicke sind ihr unangenehm.
Er bestellt Mineralwasser, sie Bier.
Nach ungefähr zehn Minuten ist der Meister fertig. Er überreicht ihr das Blatt mit den Worten: "Hier, ein Meisterwerk!"
Auf dem Blatt ist folgendes zu sehen:

Bevor die Frau noch irgendwie reagieren kann, verabschiedet sich der Meister brüsk mit den Worten: "Sie von mir hören werden!" und verläßt - ohne ausgetrunken oder bezahlt zu haben - das Café.

Das Örtchen

Der Meister legt das Buch, von dem alle schwärmen, in die Badewanne und dreht das Wasser auf.
Er setzt sich auf die Klomuschel und schreibt einem Bekannten, der ihm auch von dem Buch vorgeschwärmt hat, folgenden Brief:

Sehr geehrter Herr!
Stellen vor Sie sich, der Professor zu mir sagte:
"Bevor die Wohnung du verläßt, dir binde die Schuhe,
und auch nicht vergiß, zu schließen den Hosenladen,"
Der Professor sich um mich sorgt und nie ist verlegen
um gute Ratschläge.
Wer das ist, der Professor?
Der Professor der Professor ist. Mein Professor.
Mein lieber, kleiner Professor.
NEIN DANKE!

Der Meister holt das aufgeweichte Buch aus der Dusche und sagt: "So!"
Er schleudert das Buch zu Boden.
"Schönes Geräusch!" ruft er aus. "Schöner als der Nachhall dieser unsäglichen Sätze!"
Der Meister ist mit sich zufrieden. Das war er schon lange nicht mehr.

Die Umkehrung

Der Meister macht einen Spaziergang, unter dem Arm hat er einen Pappkarton.
Die Straßen überquert der Meister hüpfend, dabei singt er in einem fort: "Rei-sen macht dumm! Rei-sen macht dumm! Rei-sen macht dumm!..."
Der Meister wird müde.
Er legt sich auf den Gehsteig, und zwar quer. Sein Kopf berührt die Hausmauer, sein Fuß die am Straßenrand geparkten Autos. Die Gehsteigbenützerinnen und -benützer müssen einen Umweg machen oder über ihn hinwegsteigen.
Auf der Brust des Meisters liegt der Pappkarton, auf dem steht in großer Schrift:

DANKE NEIN
MIR GUT ES GEHT
BITTE NICHT STÖREN
SONST WAS PASSIERT

Der Meister summt.

Die Beziehung

Zufällig kam der Meister an der Ecke vorbei, an der ich gerne stehe, wenn mir sonst nichts besseres einfällt. Wir führten ein kleines Gespräch miteinander, das mir aber nur bruchstückhaft in Erinnerung ist. Ich war an dem Tag ziemlich depressiv, weil ich glaubte, daß mir etwas sehr Wichtiges unwiderruflich abhanden gekommen war. Die Unterhaltung mit dem Meister war auch nicht gerade das, was man als aufbauend bezeichnen könnte.
Ich fragte ihn zum Beispiel, wie es ihm gehe, worauf er mir antwortete: "Ich mich zu Tode spüle, Ernst."
Gleich darauf erzählte er mir, daß er geheiratet habe und bald Vater werde. Dann meinte er, daß er bereits Vater sei, aber nie heiraten werde.
Ich machte ihn auf die Widersprüche aufmerksam, worauf er mir zu verstehen gab, daß ich ihn zu Tode langweile. "Ich mich trinke zu Tode", fügte er hinzu, " weil niemand mir reichen kann das Wasser."
Da erst wurde mir bewußt, daß der Meister plötzlich rotzbesoffen war und sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
"Du überheblich bist ganz schön", sagte ich in seinem Duktus, "in deinem Größenrausch."
Ich nicht mehr weiß, was er mir erwiderte darauf.
Wir uns dann trennten irgendwie.
Das das letzte Mal war, daß gesehen habe ich den Meister.

Die Lüge

Ein paar Tage später traf ich den sogenannten Meister wieder auf der Straße, ganz in der Nähe meiner Ecke.
"Tag!" sagte ich zu ihm, doch er schnitt mich, worauf ich ihn ignorierte, beziehungsweise umgekehrt.
Am Abend desselben Tages saß ich dann trübsinnig in meiner Wohnung.
Da geht die Tür auf, und ich komme herein.
"Grüß Gott", sage ich.
"Auf Wiedersehen", sage ich.
Und schon bin ich wieder weg.
Was wollte ich von mir?
Vielleicht werde ich das irgendwann erfahren.
Ich hasse den Meister.
Jawohl, ich H A S S E ihn.
Außerdem heiße ich nicht Friederike.

Die Wahrheit

Der Meister hat Lust auf Sex. Er ruft eine Bekannte an, mit der er manchmal Sex hat.
"Dich grüß, bin's ich, der große U.A."
"Grüß dich Meister! So eine Überraschung..."
"Du, ich Lust habe auf Sex."
"Dann komm doch vorbei, die neue Lieferung Wein ist gerade eingetroffen. Grüner Veltliner aus Retz und Blauer Portugieser aus Raggendorf - zum SAUFEN! Und zum TRINKEN: Sauvignon blanc, Rheinriesling und Chardonnay aus Retz, Weißburgunder und Welschriesling aus Raggendorf, und dann noch leckere Bouteillen aus Zagersdorf: Zweigelt, Blaufränkisch, St. Laurent..."
"Nee, ich mir hab's überlegt anders. Leid mir tut, ich lieber doch wichs."
"Schade!"
"Tja."
"Dann auf ein andermal..."
"UAAAAAAHHH!"
Der Meister legt auf, dann masturbiert er meisterlich. Eine Sache von drei Minuten, und der Kopf bleibt klar.

Der Vergleich

Der Meister blättert in dem Buch ‚Kontinent der Wale' von Heathcote Williams, das er irgendwann auf einem Flohmarkt erworben hat.
Der Meister stößt auf ein Foto, das zwei Delphine zeigt, die vor einem riesigen, bedrohlich wirkenden Schiffsbug aus dem Wasser springen. Sofort reißt er die Seite aus dem Buch und nimmt einen Kugelschreiber zur Hand.
Unter die Delphine schreibt er:
ICH UND MEIN A.E.
Unter den Bug des Schiffes:
DIE REALITÄT
Letzteres streicht er wieder durch und schreibt stattdessen:
DER TOD
Dann streicht er durch:
ICH UND MEIN A.E.
Und nach einem Kopfschütteln auch:
DER TOD
Dabei beläßt er es vorläufig.

Ein paar Tage später schreibt er dann über das Foto:
DIE FISCH UND DAS SCHIEF
Das streicht er nicht durch, zerreißt aber die Seite und wirft sie weg.

Die Sprache

Der Meister steht im Supermarkt, vor dem Hundefutter.
"Was tue ich da", sagt er leise.
Eine große Träne rinnt aus seinem rechten Auge über die Stirn. Er wischt sie weg und sagt: "Wenn sich nicht bald etwas ändert..."
Er sucht sich, was er braucht: Kartoffeln, Karotten und Schnaps.
In der Schlange vor der Kassa fragt er dann die Leute vor und hinter sich: "Hat wer das Buch ‚Die Schlange' von Vladimir Sorokin gelesen?"
Niemand hat es gelesen.

Das Zitat

Der Meister beschließt, aus dem Buch ‚Die Schlange' zu zitieren.
Er sagt: "Hören Sie, ich zitiere nun aus dem Buch ‚Die Schlange' die Seiten 176 bis 180.

 


Das war ein kleiner Vorgeschmack. Aber jetzt, meine Damen und Herren, geht's richtig los. Aufgepaßt! Ich beginne:
,

 


Das war's! Gut, nicht war?" Der Meister grinst.
Die in der Schlange sind leicht belustigt.

***

Wieder in seiner Wohnung trinkt der Meister ohne Umschweife Schnaps.
Nachdem er zwei Drittel der Flasche geleert und sich die Augen mit einer Zwiebel eingerieben hat, heult er los wie ein Schloßhund.
Später singt er:
"Ein Männlein
steht im Walde
ganz still und stumm.
Sag, wer mag
das Männlein sein,
das da hängt
im Wald allein-"
Der Meister hört auf zu singen und leert sich den restlichen Schnaps über den Kopf.

Das Werk

Am frühen Morgen kurz nach dem Erwachen sagt der Meister
laut und deutlich: "Hallo!"
Die intimen Kenner seines Werkes wissen, was das zu bedeuten hat.

Die Niederlage

Der Meister schlägt fünf Nägel in die Wand. Dann schneidet er von einem Brot fünf Scheiben ab.
"Die Rinde", sagt er, "die Rinde, die Rinde, die Rinde, die Rinde."
"DIE RINDE!" schreit er, "DIE RINDE! DIE RINDE! DIE RINDE! DIE RINDE!"
Er entfernt das Brot aus den Rinden, hängt die Rinden an die Nägel.
"Die Ringe", sagt er, "die Ringe, die Ringe, die Ringe, die Ringe."
"DIE RINGE", schreit er, "DIE RINGE! DIE RINGE! DIE RINGE! DIE RINGE!"
Er formt aus dem Brot kleine Kügelchen, die er aus dem Fenster auf Autos wirft. Bei jedem Treffer klatscht er in die Hände.
Als ein älterer Herr finster zu ihm hinaufschaut, ruft ihm der Meister zu: "MEHR SPORTSGEIST, MEIN SPORTSFREUND!"

Die Jugend

Der Meister nimmt sich vor etwas Großes und Bedeutendes zu machen: Hurra!
Der Meister nimmt sich vor, etwas Großes und Bedeutendes zu schaffen: Hurr!
Der Meister nimmt sich vor etwas Großes und Bedeutendes
Der Meister hängt herum: Hu!
Er verläßt das Bett am späten Nachmittag: H.
Er ißt weichgekochte Kartoffeln, die er mit einer Karotte zerkleinert hat.
Die Karotte ist das Dessert.
Er geht ein paar Mal um den Häuserblock, wobei er ununterbrochen vor sich hin sagt: "Du brings ma Plumen, das find ich doll! Du brings ma Plumen, das find ich doll!..."
Am Abend sieht der Meister fern, und zwar mit geschlossenen Augen. Er konzentriert sich auf den Ton.
Irgendwann hört er den Satz: "Anscheinend hat jeder auf der Welt seinen Spaß, nur ich nicht", und weiß plötzlich,
was auf seinem Grabstein stehen soll.
Wieder im Bett macht der Meister eine Kerze, bis der Druck in seinem Kopf zu groß wird.
"Dumdum", sagt er, zwei Stunden später schläft er ein.
Während der Meister schläft, geht es ihm gut.

Das Alter

Der Meister steht inmitten von Kollegen, da spuckt er sich plötzlich auf die Füße und läuft davon.
Die Kollegen rufen ihm nach:
"He, Meister, was ist los!"
"Bleib doch noch!"
"Wo willst du hin!"
"Was soll das!"

Der Meister verschwindet hinter einer Mauer (es ist jene besagte Mauer, auf der ich gerne sitze, wenn mir sonst nichts besseres einfällt). Kurz darauf donnert es. Und kurz darauf ein Blitz vom Himmel, der einen Baum in der Nähe spaltet.
Die Kollegen wissen nicht recht, was sie davon halten sollen.

Die Kindheit

Der Meister hat sich in den Wienerwald zurückgezogen. Er ist so gut wie nackt, bekleidet nur mit einer Unterhose, und ruft in einem fort: "CHINGACHGOOK! CHINGACHGOOK!
CHINGACHGOOK!..."
Ein belesener Waldgänger, der zufällig vorbeikommt, sagt: "Ach ja, der ist doch auf seine alten Tage zum Säufer geworden. Wußten Sie das?"
Der Meister antwortet wie aus der Pistole geschossen: "Ich mir rufe ins Gedächtnis etwas!" Dann lacht er, daß die Schenkel aller Menschen im Umkreis von einem Kilometer platzen

Der Strick

Dem Meister kommt ein altes Lied in den Sinn. Er beginnt
es sofort zu singen, doch bei der dritten Zeile bleibt er
hängen. Das hört sich so an:
"Heut geht es an Bord,
heut segeln wir fort,
lustig, heut ist heut!
LUSTIG, HEUT IST HEUT!
LUSTIG, HEUT IST HEUT!
LUSTIG, HEUT IST HEUT!
LUSTIG, HEUT IST HEUT!
LUSTIG, HEUT IST HEUT!
LUSTIG, HEUT IST HEUT!"
Da hat der Meister endgültig genug,


und zwar

von

allem.

 

Der Epilog
oder
Die Inschrift
oder
Das Epithaph
oder
Der Stil
oder
Die Quintessenz
oder
Das Tja


Ich stehe am Grab des Meisters und sage zu dem Herrn, der neben mir steht: "Nie wieder Meisterwerke."
Der Herr lacht.
Kurz darauf wird der Grabstein enthüllt und darauf steht

DU BRINGST MIR BLUMEN,
DAS FINDE ICH SCHÖN.

Tja.