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Im Sommerwind.
Eine Rückkehr. Versuch einer Überschreibung. [Auszug]
Es gibt nur wenige Sekunden, wo einem in sich Versunkenen bewußt
wird, daß die Zeit vergeht - und immer geschieht dies von einer
unbeschreiblichen Tiefe her; sie gleicht einer Hitze, die sich in die
Fläche des gleichgültigen Bewußtseins eingräbt. Dessen
oberflächlicher Teich, üblicherweise aus wäßrigeren
Gedanken - sonst vom Sommer-Gehen, vom Gehen überhaupt, von diesem
unbeschreiblichen Gehen in die Landschaft hinein - irgendwie geklart und
gestillt - erlangt plötzlich den Zustand einer chaotischen Aufwallung.
Häufig nur Augenblicke lang - an diesem fernen Nachmittag -, manchmal
freilich, so wie jetzt, den ganzen, bereits gespürten Spaziergang
lang, besser über die ganze Dauer des zügigen Anmarsches hinweg,
er führt zum nunmehr mir gehörigen Bauernhof meines jüngst
verstorbenen Großonkels Max, in Berging, weg von geglückten
Landschaften, mehr als einen Augenblick lang also, fast als wärs
eine Reise, zuweilen bereits in einer endlosen Kette spürbarer fixer
Ideen, und in Erwartung neuer Bilder. So ist es jetzt auch tatsächlich
der Fall. Streng von außen betrachtet, Paul Corinth, neuerdings
Philosoph und Landwirt, hat sich also seines Wegs besonnen. Viele möglichen
Notizen für den Abend im alten dunklen Studierzimmer des Onkels.
Ich bin Paul Corinth. Gestatte, Freund Benedetti, obwohl du es weißt,
die Spaltung, und zwar aus rein erzählerischen Gründen - Schreiben
spaltet, spaltet das Gehirn; * und es war mir schon immer ein Bedürfnis,
mich von außen betrachten zu dürfen - mich sozusagen von einer
mir nicht sofort vertrauten Gegen-Perspektive her - schreibend - in einen
fundamentalen Dialog verwickeln zu lassen, der sich allerdings immer von
einer vertrauten Ausgangs-Perspektive her entspinnen muß. Ich wäre
nämlich kein Philosoph, wäre es nicht so.
Ferner wäre ich kein Musik-Liebhaber, hörte ich es nicht so.
[...]
Schreiben geschieht nach Funden und es geht gegen die ewige Not der Gleichgültigen,
dagegen muß gefunden, dagegen muß geschrieben, dagegen muß
gewußt werden, gegen all die sogenannten Selbstverständlichkeiten,
gegen die rücksichtslose Gewohnheits-Auffassung, gilt es
Seh-Bereitschaft,
Hör-Bereitschaft,
ja Verzweiflungs-Bereitschaft zu gewinnen.
Du weißt es sicher, notierte er ferner an Benedetti.
Es ist freilich alles ganz
anders als im Grizzana der letzten August-Tage des vergangenen Jahres,
wo ich mit Benedetti in einem Zug wartend, unmittelbar vor dem Tunnel
durch den Appenin, auf die zärtlichen Zypressen blickte. Zypressen
üben eine zauberhafte Wirkung aus, sie sind die elegantesten Bäume,
meinte damals Benedetti. Er sprach ferner von der Zypresse als dem durch
und durch etruskischen, kurz als dem etruskischten aller Bäume, als
dem Zeichen der Totengöttin, die ihren Finger zu den Sterblichen
streckt. Sie deutet dem Totenvögerl. Sie mahnt den Augenblick ein
- in ihrem unendlichem Kuß.
Hier, in Berging, nahe der
Liegenschaft meines verstorbenen Großonkels Max, nahe seinem Laufstall
mit den 36 Stück schwarzbunten Kühen, und nahe der Koppel mit
den Trakehner-Pferden, gab es in diesem Augenblick, so mußte ich
mir sagen, freilich keine derartigen, zauberischen Haine, voll mit Geheimnissen
des etruskischen Todes, voll der Fülle und Auslassungen des Appenino
di Grizzana, sondern vielmehr satte Bauern-Farben, durstend nach Wasser,
und all die derben, militärisch gezogenen Pappel-Alleen im bläulich
flimmernden Westen, strenge Geometrie der Perlenschnüre am Horizont;
fest entlang der Eisenbahnlinie, die schon von Napoleons Soldaten gepflanzt
wurden, als sie im Jahre 1809 die Berging naheliegende Stadt Schärding
mit Kanonen beschossen, wie mein Onkel Max häufig feststellte.
Also merkwürdige Erinnerungen: Ist es tatsächlich eine mißglückte
Landschaft, reizlos und übergewohnt, fragte sich Corinth? Schon
in Florenz, oben auf der Piazza Michelangelo, ganz nahe beim Franziskaner-Kloster
war, zwischen Corinth und Benedetti, von einer Reise durch mißglückte
Landschaften die Rede. Von einer Heimkehr, einer aufs genaueste zu rekonstruierenden
Rückfahrt in die Genauigkeit einer einst fühlbaren und jetzt
rekonstruierbedürftigen Welt, deren tiefere Beschaffenheit nunmehr
erneut zur Disposition steht - gleichsam von einer Verzweiflung her, daß
in den geglückten Landschaften fast alles verloren sei.
Es geht allerdings jetzt, d.h. philosophisch gesehen, um völlig merkwürdige,
freilich ganz einfache Vorfälle, wird später Corinth für
Benedetti notieren, um lyrische Vorfälle, um lyrische Geometrie und
um Zärtlichkeiten zwischen Wort und Landschaft.
Denn Benedetti ist Lyriker, er liebt Webern, er liebt das zarte Chaos
des Sommerwindes, das sogenannte Lächeln der Etruskerin, der Tuszierin;
er liebt die gläserne Welt des Opus 27. Benedetti, der sich ja auch
intensiv mit der sogenannten hermetischen Lyrik befaßt hat:
Alles auf den Punkt gebrachte Verschlüsselungs-Sachen, sagte Benedetti,
Auguren-Blicke und Leberschau. So auch die Lambacher Meditation, an sie
erinnerte sich Corinth; eben als er ausgestiegen war, fiel ihm sofort
die Lambacher Meditation ein.
Lambach contra Berging - Bernhard contra Benedetti. Schreiben ist Vorstellungsprophetie,
merkte er für Benedetti an.
Und derartige Vorstellungsprophetie (vorgreifend in Unsichtbares)
endet in eben der Auslöschung, die der hastig an Lambach vorüberziehende
Zug (um Weihnachten 1993 von Wien kommend) damals von seiner Geschwindigkeit
her erzeugte - blind, einfach Bewegung.
Wie jetzt: vielgliedrige Bewegung. Berging und Lambach.
[...]
Verschlüsselt der unhörbare (ja unerhörte) Zeitschlag
den eminenten Kahlschlag, so macht dieser den eminenten Zeitschlag feingestimmten
Ohren - gleichsam als Gegengeschenk - hörbar. In Art der Haydn-Quartette.
Lambach:
Die Abtei in ihrer einfachen Geometrie, dennoch zu groß: Türme
draußen, ja der Turm par excellence, ferner eine hohe, weite und
breite Mauerfront, kunstvoll zu hoch; endlose Fensterreihen, josefinisch-serielle
Architektur - dennoch fensterlos, melancholische Leere. Flüchtiger
Gedanke an das einzige, in Österreich noch erhaltene barocke Schultheater:
"Der Lustthall der Natur/
aus welchem wir von weiten
deß Taurus langen Gast/ den Winter/lachen aus;
Hier tieff spatziren gehn in einer Nais Hauß
die guelden heist und ist; Da alle Fruchtbarkeiten
auf Chloris gruener Brust/und Thetis Schoß sehn streiten
dort so viel Dryaden die Huegel machen krauß/
darvon Silenzs bricht/ "
Dann schräger Blick
zur Klostermauer, zeitbeschmutzte Fundobjekte: Verborgene Orangerien (Gibt
es sie? Wahrscheinlich sind sie immerhin),von ferne - einen Atemzug noch
- der Blick in eine vertraute, klösterliche Sprach- und Bauwelt -
aus der tiefen, winterlichen Sehnsucht einer Zugs-Passage heraus. Während
der Ort prinzipiell unten ist, ist das Kloster prinzipiell oben.
Es war tatsächlich
eine merkwürdige, fragile Stimmung - Weihnachten 1993, als ich vorbei
kam: Stimmen im Zug, der Gedanke an den 1988 verstorbenen Bruder, an eine
sehr geliebte, jetzt bereits steinalte Tante im nahen Vöcklabruck;
die Kindheits-Bilder von den Spaziergängen in Wolfsegg, irgendwo
eine Kohlegrube, Knappen-Kapellen: hineinmarschierend in versonnte lange
Zypressen-Wege (in der Nähe des Haushamerfeldes in Frankenmarkt,
wo um Leben und Tod gewürfelt wurde) und napoleonische Pappeln, die
nicht eigentlich einen Winter kennen. Des Grenadier Lappenpapps (gefallen
1804 in Eisenbirn bei Schärding) Skelett im anthropologischen Kabinett
von Kremsmünster. Groteske Anatomie. Eines frühen Tolstois Tagebuch.
Zergliederung im Bild. Zergliederung in einem Gegenbild: Die Landschaft
sprach zärtlich - aus der Kälte heraus.
Ihre Stimme ist möglicherweise wirklich so etwas wie Gesang des Totenvögerls,
eines Phönixls gleichsam, gewesen. Oder auch die Stimme eines unendlich
entfernten, fraglos eben noch milden, weil vorwinterlichen Flur-Gottes
(aufgetaucht aus jener angesprochenen, nun für alle Zeiten wohl versunkenen,
zauberischen Orangerie in Wolfsegg). Der Gott, der in seiner Verborgenheit
allen Bernhardschen Landschaften innewohnt, und der sich nunmehr für
mich - als Augenblick gelassener Augen - in einer Zugspassage inkarnierte,
um ebenso rasch wieder verloren zu gehen. Erleuchtung ist eben immer Verdunkelung.
Zulange Sehen immer Stumpfsinn.
[...]
Also Corinth, sagte
damals in Grizzana Benedetti, gewinnen sie ihre Auslöschung, es
ehrt ja, wie der Italiener sagt, den Schüler, wenn er, in den Fußstapfen
seines Meisters, durch die mißglückten Landschaften eilt, die
jener schon vor ihm sah.
Zunächst sind wir ja alle Nachfolger, meinte Bendetti..Die Mystik
der Nachfolge. Nicht hinterher laufen - nachfolgen!
Nachfolger eines Mystikers sein, der wirklich etwas gesehen hat, denn
nur so kann Schreiben zuletzt doch noch gelingen - Benedetti meinte
dabei Mystik der Vernichtung, der Auslöschung. Geburt des Funkens,
des Fünkleins im Herzen - Wiederkehr.
[...]
Wer sieht, überschreibt, steht in der Überschreibungs-Bereitschaft,
gleichsam von einem ungeheuren Zwang zur Klarheit her, die sich nur als
Überschreibungs-Klarheit verwirklichen läßt.
Überschreibe - um Gottes Willen - Bernhard, meinte Benedetti.
Und er hat recht - und nicht allein dem ersten Anschein nach. Neben-Schreiben,
neben Bernhard schreiben, ist heute längst unmöglich. Lieber
nicht schreiben als neben-schreiben! Ein Nebengebäude zu errichten,
nein, vielmehr, wie Nietzsche im Zusammenhang mit dem Denken vom Überdenken
spricht, so scheint es, folgt man Benedettis Gedanken konsequent, daß
ein Schreiben in und um Berging nur vom Überschreiben Bernhards her
möglich ist, dessen Schreiben ja, so Corinth, in und um Lambach -
so wie ja nicht zuletzt auch Corinths Lambacher Meditation deutlich zum
Ausdruck bringen will - stattgefunden hat. Um es kurz zu sagen: Überschreib
oder stirb!, merkte Benedetti ferner noch an.
Appell an einen Traumwandler?
Suche deine mißglückte Landschaft von einer zärtlichen,
kunstvollen Überschreibung her. Vergiß nie, ein wenig auch
zu umschreiben, und einiges zu beschreiben - in der Hauptsache überschreibe
aber: Berging wird deine erste Überschreibung sein.
Schon jetzt, kurz vor der Ortschaft
Moos, etwa 200 Meter vor der Kreuzung zum Berginger Hof, von der aus man
bereits den hohen schmutzig-grauen Futter-Silo des Berginger Hofs sehen
kann, wurde mir Benedettis Forderung endgültig zur Einsicht. So stehe
ich, Paul Corinth, nunmehr selbst an der Verzweigung: Umschreibung
oder Überschreibung? Wieder sehe ich mich gleichsam von außen,
sehe mich von der merkwürdig engen, ja völlig komprimierten
Ortschaft Moos her, in Richtung großer Berginger Wald gehend, als
eben der Paul Corinth, dem Benedetti mit Nachdruck das Überschreiben
der Bernhardschen Schreibkunst geraten hatte. Meinte er es damit überhaupt
ernst?
Kann man die Grizzaner Verhältnisse überhaupt mit den Berginger,
die Zypressen und Pinien von San Benedetto bei Grizzana mit den Pappeln
der Eisenbirner Allee - nordwestlich von Berging - vergleichen, durchfuhr
es Corinth?
Ist Berging überhaupt überschreibbar? Zuerst mußte man
freilich das zu Überschreibende sehen. Sich die Frage stellen, ob
es in Berging überhaupt zu Überschreibendes gäbe, und wenn
ja, wie es zu überschreiben wäre, und nicht zuletzt wieder warum.
Sollte man nicht doch zuletzt einfach schreiben, und selbst dann einfach
schreiben, wenn es wie Bernhardsches, wie zu Überschreibendes klingt?
Es ist zu lernen, ist unbarmherzige Tatsache, sagte sich Corinth,
einen sperrigen Stein vom Bergiger Güterweg vor sich herschiebend,
daß man sich, und dies gilt selbst im völlig verlassenen
Vorfeld von Berging, niemals im luft- bzw. hier besser formuliert, im
wortleeren Raum befinden kann.
Man ist niemals im wortleeren Raum, so wenig wie man in der wortleeren
Zeit ist - und im übrigen: auch Blicke sind niemals wortleer.
Blick-Kunst - Landschafts-Kunst?
[...]
Auch Berging gehört, und dies muß ohne Beschönigung zur
Kenntnis genommen werden, wie alles hier in meiner oberösterreichischen
Heimat, längst zur Bernhard-Welt, verfällt somit ständig
den Bernhard-Worten, so wie Lambach schlechthin ein Bernhard-Wort, d.h.
zu Überschreibendes par excellence ist, und alles in Lambach Mögliche
und Unmögliche notwendigerweise zum Grundbestand des Bernhardschen
Welt-Nachlasses gehört, obwohl - oder besser: weil
- Bernhard nie ein Wort von Bedeutung über Lambach geschrieben hat.
Es ist freilich auch nie ein Wort über Berging in Bernhards uvre
aufgefunden worden, und doch ist Berging, sind seine Obstgärten,
sind die Treibhäuser meines Großonkels, ist der Laufstall meiner
Pächterin Fuchs, sind die schwarzbunten Holstein-Friesen-Kühe,
Bilder der konzentriertesten Bernhard-Welt, der ich, Corinth, nun - und
nicht nur als der Philosoph, als der Husserlsche Phänomenologe -
in völliger Unvoreingenommenheit zu begegnen habe.
Ist Berging also Solipsismus? Durst? Rückkehr? Seelenwind? Kastalische
Studie?
[...]
Ferner, so sagte Corinth noch zu sich, wird Bernhard alles auch
in Zukunft gehören, ja alles hier, und zwar ohne Ausnahme, auch ich
und mein Schreiben, beschloß Corinth ferner noch an Benedetti
zu berichten. Es ist vorläufig keine Flucht weg von Bernhard, weg
zu einem nicht-bernhardesken Berging denkbar, selbst mein Berginger Großonkel
Max war ja, wie Du von meinen, meinen Onkel betreffenden Erzählungen
des letzten Sommers her ja bereits ganz genau weißt, eine durch
und durch Bernhardsche Existenz, freilich frei von literarischer Verrücktheit,
aber voll der Berginger Verrücktheit - oder nicht viellciht besser
gesagt: voll der Ent-rücktheit? - , der auch ich jetzt anheimzufallen
drohe - es ist die Ver- oder Entrücktheit des Sommerwinds, der wogenden
Getreideflächen, des mond-zersichelten Himmels, der ewigen Rückkehr
der Dinge - Berginger Sein und Kleistsche Unendlichkeit. O wie zappelt
der Puppen-Tänzer unter dieser Sonne - ihm ist vielleicht in diesem
Leben noch zu helfen!
Immer war mein Onkel ein guter und rühriger Innviertler Landwirt
und begeisterter Gärtner, er besaß - schon als die neureichen
Landwirte im Innviertel das längst nicht mehr für zeitgemäß
hielten - anstatt der heute üblichen, durch und durch verhunzten
Stutzenlutz-Stube immer noch die Innviertler Kirschholz-Bauernstube, die
kunstvollste Bauernstube überhaupt, versehen mit einer heimeligen
und feinverzierten Kassettendecke und mit harz-duftenden, ockerbraunen
Kirschholz-Kommoden und den Biedermaier-Sekretären an den Wänden,
in denen er die Zeitungs-Artikel seiner Mutter, d.h. meiner Urgroßmutter
- als wären sie zarte Überbleibsel aus einer besseren, bewußteren,
oder wie er zu sagen pflegte: genaueren Zeit - verwahrte. Die Briefe
einer feinfühligen Landfrau, voll von Noblesse und einfacher, ja
Wittgensteinscher Klarheit, die mir mein Berginger Großonkel, manchmal
sogar mit Tränen in den Augen, am Abend auf der Berginger Pergola,
unter wildem Wein und wilden Birnen vorlas.
[...]
Mit Genuß habe er, so sagte mein Berginger Onkel, Bernhards Auslöschung
gelesen, dabei immer an seinen Schwager, meinen Großonkel, den Hofrat
Corinth denkend. Für ihn ist gerade Hofrat Corinth - ein leidenschaftlicher
Gau-Jäger - die durch und durch typische Auslöschungs-Existenz
gewesen, er habe dies freilich schon früher geahnt, so mein Großonkel
Max an jenem traurigen Spätsommer-Nachmittag der Bekenntnisse, also
noch bevor er jenen bemerkenswerten Aufsatz eines Innsbrucker Professors
Stöckeler über Bernhard und Stifter gelesen hätte, der
jüngst im Stifter-Jahrbuch des Stifter-Instituts in Linz erschienen
ist, und über Abklärung und Auslöschung handelt.
Ist, so Stöckeler, der Nachsommer ein radikal abklärender, so
ist dagegen Bernhards Roman die radikale Auslöschung.
Gärtner in der Orangerie. Jäger im Schlachthaus.
Ganz besonders sei ihm in diesem Aufsatz das Wort Abklärung
aufgefallen, meinte mein Großonkel zuletzt noch! Nach der Aufklärung
komme, so Stöckeler im besagten Stifter-Bernhard-Exposè, die
Abklärung. Gehorcht einerseits die Aufklärung dem Diderot,
so die Abklärung Stifter und die Auslöschung Bernhard. Dem harten
folgt, so mein Berginger Großonkel, quasi das sanfte Gesetz, dem
sanften quasi das auslöschende. Aufklärung - Abklärung
- Auslöschung - welch grandiose Dreiheit, pflegte er hinzuzufügen.
Jagd - Gärtnerei - Mystik - deutend und gestikulierend! um es - nicht
ohne Fingerspitzengefühl - zu präzisieren.
[...]
Aber der Berginger Großonkel? Durch und durch eine Abklärungs-Existenz?
Oder ein einfacher Innviertler Bauer?
[...]
Es gibt also hier, lieber Freund, nur die Ergebung in seine Welt
- und nicht etwa die Möglichkeit einer rücksichtslosen Bernhard-Überschreibung!
Aufklären, abklären, auslöschen! Das ist es, notierte er
abends für Benedetti. Freilich keinesfalls hündisch auf-, abklären
und keinesfalls zerstörerisch auslöschen - alles vielmehr im
Wehen des heutigen, heißen und verbrennenden Sommerwinds, ein wenig
sehnsüchtig und dem verspielten Wimpernschlag der Raine ergeben -
also Berging ergeben, Cèzanne gehorchend: malen, was zu sehen ist
- fühlen, was zu fühlen ist. Kuß und Streichelung der
großen Mama mit dem ironischen Wimpernschlag; vielleicht weiß
es Luis Borges - ein Fragment Exotik im Hirn! Tango und Kind of Blue.
Aufklärung - Abklärung - Auslöschung: aber nicht in Form
einer Be- oder Wiederbeschreibung, sondern zuletzt nur als die bewußte,
kunstvoll und radikal aufrichtig vollzogene Heimkehr in seltene, kostbare,
ja in kindliche Eindrücke, die ja allesamt Stücke seiner Welt
sind, trotzdem er diese, seine Welt nie sah, nie berührte. ¾
Des Meisters Statthalter ist vielmehr der verschmitzte Sichelmond über
der Höllerschen Tischlerei in der Ortschaft Moos. Ihn beherrscht
Schreiner, ehemals meines Großonkels Vorarbeiter im längst
liquidierten Bauunternehmen.
Beide litten im blauweißgestreiften Gewand im Kräutergarten
in Dachau, beide schoben die Walze im Steinbruch in Flossenbürg.
Beide saßen oft auf der Terrasse des Berginger Hofs in Tränen
über entsetzliche Vergangenheiten. Beide haßten den Großen
Anstreicher. Beide liebten die Gerechtigkeit gelassener Nachmittage.
Schreiners blaue Arbeitsjoppe und der Trenker-Hut, das Stauffer-Fett.
Die Transmissions-Gespräche und der warme Geruch nach Silofutter.
Unauslöschliche Quadratur.
Weiters die Ergebung in die Welt meines Großonkels, des Bernhard-Lesers,
die Einfügung in seine Bernhard-Welt.
Der Meister ruft uns leise über des Onkels Glashäuser, über
seinen Kuhstall hinweg mit der Stimme des Windes, mit der Stimme des Mondes,
mit der Stimme der melkenden Pächterin. Mit dem Geräusch nach
Melkeimern in verfliesten Milchkammern. Mit dem Surren der Melkmaschine.
Mit dem Blick auf die Ring-Gebirge des Mondes durch die Plösselschen
Dialyte. Über restaurierte Barock-Grabsteine hinweg. Neben der apfelschälenden
Tante Luise.
In des Welten Meisters Worten glückt vieles, verstummt manches, wird
einiges klarer und verschwimmt ins Unendliche, paart sich mit der Grazie
heißer Spätsommer-Nachmittage.
Und die Landschaft! Gerade so wäre die jetzt bereits selteneren Elegien
zu intonieren:
Geht alles in uns auf mit
diesen Feldwegen
da Gott sich pries im Ansprung des Hundes
im trägen Sein der Katze
die sich sonnt
da Gott nachschuf köstlich seine Vergänglichkeit
sich zeichnete als Birkenhain und Windes Woge
sich nahm als Feldweg
uns zu beschenken mit dem bäurischen
Mäander zum Wald
da Gott neu eichte alle Herzschläge
und den nervösen Blutlauf
über unsre Adern hinaus
O diese zärtlich mißglückte
Landschaft, Freund Benedetti - im Sinne unserer Florentiner Spaziergänge
auf der Piazza Michelangelo, sie gleicht in vielem dem franziskanischen
Schleier, der über der Toscana bei Arezzo liegt. In dieser Hinsicht
bin ich, Corinth, Berginger Archäologe und Du, Benedetti, Arezzaner
Archäologe.
Archäologie der Gefühle!
Gegen alle Nach-Äfferei. Den Mosaiken des Spätsommers nahekommen
- so daß es zuletzt tatsächlich schwerfällt, etwas zu
überschreiben.
Ergebung in die Windpuppe! Hochzeit mit dem Wirbel bis zum Firmament.
Bartoks Streichquartett!
Diese Landschaft und ihr stärkstes Projekt: der Sommer-Nachmittag.
Hört in Weberns Skalen den Weg durch die Ortschaft Moos, vorbei an
einem einschichtigen Bauernhaus, errichtet auf einem Fundament mit gewürfeltem
Granit, zärtliche Musik, direkt in Stein erstarrt. Und die flüchtige
Lüftl-Malerei, der Bauern-Barock, labile Schnuttelei, hingehaucht
auf kalten Kalk-Untergrund. Dumpfes Weiß. Dieses kaum je - während
der vorangegangenen Besuche in St. Marienkirchen - bemerkte granitgewürfelte
Steinhaus, mit verbogenen und verbeulten Fensterkreuzen, diese Architektur
einer ironischen Erde, eines nicht völlig ernst genommenen Bau-Gedankens,
einer nicht zuende gedachten Planungs-Absicht, um nicht zu sagen, dieser
köstliche Pfusch, machte es ihm freilich leichter. Dann, schon etwas
scheuer (Benedetti hatte während der gemeinsamen Spaziergänge
um die Piazza Michelangelo herum schon oft angemerkt, daß erhöhte
Aufmerksamkeit scheu mache, den eingefleischten Alltags-Hochmut vertreibe,
aufs äußerste sehbereit mache), vorbei an einem Haus,
an einer von allen Arten des Holz- und Fässer-Gerümpels umlagerten
Tischlerei Höller.
[...]
Es ginge, so wird er ferner noch an Benedetti schreiben, um die tieferen
Hintergründe der typischen Sauwälder-Existenz, um das Sauwald-Naturell
schlechthin, um die tiefere Wirkung des höchsten aller Sauwälder
Granit-Berge, des Haugsteins, auf die mehr oder weniger granitenen Sauwald-Gemüter,
und es ginge nicht zuletzt auch um die urgeschichtlichen Geheimnisse jenes
Schardenberger Frohnwalds, dessen Ur-Gestein von reinem Pliozän,
so wie sich mein Berginger Großonkel Max einmal dezidiert ausdrückte,
weitverästelt gestört sei, ginge es ferner auch um die bemerkenswerten
keltischen Opfersteine, um jene geheimnisvollen Dolmen und um die längst
verwischten astralen Heiligtümer unserer keltisch-illyrischen Vorfahren.
In Witterungs- Andeutungen, stark zitternd und chaotisch oszillierend
im nordöstlichen Glast, ist eine Spur dieses Frohnwalds zu sehen,
sein Wimpern-Bogen erstreckt sich, so glaubt Corinth nun doch noch zu
bemerken, perspektivisch zu den Bergen des Bayerischen Walds. Eine tiefe,
archaiische Sehnsucht. Freilich jetzt war Corinth erst beim Geheimnis
des intensiven, des scharfen Haugstein-Winds, der sich freilich um nichts
Berging Betreffendes kümmert, zumal sich ja Berging bereits im Voralpenland-Klima
befindet. Doch auch hier ein Sommerwind, Corinth spürte ihn durch
das grüne Jagdhemd strömen, spürte seine schneidende Hitze
in den Augen, spürte ihn um den schweißnassen Brustkorb herum,
ein Wind, der alles Bernhard Betreffende durch seine Erhitzung der Kopf-Kalotte
verweht, da war er nun, eben erst beim zweiten Berginger Marterl, beim
sogenannten Notburga-Marterl angelangt. Der nunmehr unheimliche, tödliche
Sommerwind. Seine tiefen, abgründigen Flageoletts durch die kleine
Berginger Schneise waren Strömungsmystik - das wird auch an Benedetti,
der als italienischer Goethe-Forscher stets an einer Phänomenologie
des Klimas interessiert ist, zu berichten sein, fuhr es ihm durch den
bereits ermüdeten Kopf, insbesondere in dieser offenen, fast schon
pannonischen Landschaft, nur noch wenige Kilometer vor dem Berginger Hof.
Viele Ur-Phänomene, deren Gewahrwerden uns erschreckt, murmelte er
dem Wind entgegen, der seiner verspielten Einsamkeit nun landlerischer
denn je Widerpart zu leisten schien. Eine weitoffene Bocca, wie in den
Gärten des Palazzo Pitti, freilich hier geformt aus dem mikroskopisch
kleinen Bild des Höllen-Gebirges. Schön hörte man auch
vereinzeltes Brüllen der Holstein-Friesen-Kühe, hörte man,
herangetragen durch die Höllengebirgs-Winde, das Geräusch eines
Mengele-Ladewagens, ein Klappern, genauer gesagt, ein Scheppern, sich
erzeugend durch Anheben der Hydraulik beim Steyr-Traktor. Dann, in völliger
Hitze flirrend, zerfließend, die Berginger Schneise und der weite
Blick auf die Pliozän-Findlinge, auf die Verlassenschaften des mysteriösen
Pliozän-Gletschers. So manche magische Heimatkunde-Stunde in der
Esternbergischen Volksschule drehte sich um seine Mysterien, die freilich
dem geologisch nicht sehr versierten Corinth immer ein Rätsel bleiben
werden. Dann intensive Gedanken an die zärtliche Riedelbacher Bach-Landschaft
mit ihrer granitenen Teufelskanzel, jener bemerkenswerten Granit-Nase,
Vorsprung in der sogenannten Esternberger Reschau, der versonntesten aller
Sauwälder Bach-Täler mit zarten, hölzernen Bauernhäusern,
dem sogenannten Reschau-Haus. Dieser Reschau, namentlich dem Riedelbach
entlang, wurde jüngst die alles verschandelnde Esternberger Kanalisation
gelegt. Ein Kultur- und Fremdenverkehrs-Verbrechen erster Güte, Bild
einer völligen Abstumpfung und nachhaltigen Kultur-Resistenz. Erkannte
sofort in der entsetzlichen Hitze - es war bereits drei Uhr Sommerzeit
- eine leichte Spur einer Verödung der Feld-Furchen, stand noch eher
ahnungslos vor dem Phänomen einer permanenten - freilich weitgehend
auch latenten - Verkarstung bzw. Agrar-Verrohung (wie sich mein verstorbener
Berginger Großonkel gerne ausdrückte), die auch vor Berging
nicht wirklich halt machte, erahnte einige Linienzüge der Verwehung
der Acker-Krume, verweilte ihn Gedanken bei der Antrocknung und partiellen
Ausdörrung jener Hopfen-Pflanzen, die nunmehr im Nordosten bereits
schemenhaft, - aufgezogen auf hohen eingeschrägten Stangen - sichtbar
wurden, und über deren rustikaler Schönheit zweifellos vieles
an Benedetti zu berichten sein wird. Corinth war bei der Berginger Sonne,
bei den verzweifelten Schüssen der Jagdgewehre zu Frühlingsbeginn,
dem wie man hierzulande sagt: Aper-Schießen, dann beim abergläubischen
Läuten der Glocken zur Vertreibung des Blitzschlags, bei den hohen
Palmstangen, die die Berginger Bauern-Kinder am Palmsonntag stolz vor
sich hertrugen, beim Milch-Inspektor Moser, der von der Schärdinger
Molkerei-Genossenschaft kommend, den strengen bakteriologischen Blick
aufsetzte, eine durch und durch versoffene Existenz im übrigen, bei
den Berginger Hundstagen, den entsetztlichsten Hundstagen für Agina
pectoris-Kranke (wie ich einer bin, lieber Benedetti), und in deren Hitze,
so Onkel Max, für kurze Zeit alles zerbröckelt und zerflimmert
- als handelte es sich um Stellen in der Mahlerschen vierten Synphonie.
Gleichsam Licht-Kleckse.
[...]
Auch die farbenfrohe heilige Notburga im Lüfterl-Bild der Höllerschen
Tischlerei, in zartem Pastell der Sonnenseite preisgegeben, würde
in diesem heißen Licht, in diesem fürchterlichen August-Licht
ertrinken.
[...]
Weniger Licht, seufzte dann Onkel Max an derartigen, längst
vergangenen August-Abenden am Telefon. Sollte man sie, damit dem heißen
flirrenden Sommer-Nachmittag folgend, entsprechend dem Bild der Berginger
Kreuzung einfach überschreiben, auslöschen im Sinne einer verbrauchten
Benützer-Oberfläche?
[...]
Es gab also nichts den Berginger Nachmittag Betreffendes in Corinths Denk-
und Realitätsbestand, was den Berginger Sachverhalten standhalten
konnte. Der Berginger Nachmittag blieb für sich, war lediglich ausgegossen
in das Netz einer noch unentdeckten, körperlichen Struktur, in den
Wirkungsbereich von merkwürdigen, ja zutiefst geheimnisvollen Inkarnationen.
Hatte Benedetti recht, dann sollte man, so schien es Corinth zuletzt,
konsequent dem Berginger Vordergrund folgen, in Art einer Aufdeckung eines
speziellen Berginger Komplexes, wie er es ja als Philosoph schon immer
gewöhnt war - und zwar durchaus noch im Sinne der Lambacher Meditation
-, oder sollte man nicht vielmehr der Berginger Tiefe, jener bislang noch
unhörbaren Sprache sein Ohr schenken, immer mehr, ja bis zum äußersten
aufmerksam werden; ging es also zuletzt um die trans-bernhardische Berginger
Welt, um ein Geheimnis also, das der philosophischen Kultur unter allen
Umständen erschlossen werden mußte? Also die Stimmen hören,
die sich augenblicklich im Sommerwind andeuteten, als handelte es sich
um das ferne Erklingen des Webernschen Stückes gleichen Namens -
im Sinne einer zarten, vorerst bloß angedeuteten Intuition, so wie
sie Corinth und Benedetti angesichts des Grizzaner Appenins - zumal im
letzten August in einer silberverschleierten Mondnacht am Grizzaner Bahnhof
- elegisch überkam und seiner überaus verzauberten Zypressen-Haine?
Corinths braunes Haar flatterte jetzt - wie damals auch im Zugfenster
- im zarten, langsam sich abkühlenden und wieder aufheizenden Sommerwind,
er hörte ferne Stimmen, als käme er an einem alten Paar, an
Philemon und Baucis an der Sonnenbank vorbei. Dabei waren es nur die Höllerschen
Altbauern-Leute, deren Murmeln er vernahm, sie schlichen entlang der Straße
und grüßten höflich, ohne freilich zu vergessen, sich
noch einmal umzudrehen, um dem offensichtlich Damischen nachzuschauen,
der ohne Strohhut ging. Arabische Weisheit! Corinth war so versunken in
den Berginger Sommer-Nachmittag, daß es den Höllerschen Altbauern-Leuten
im jeden Fall auffallen mußte, daß er nicht an die Gefahren
des Hitzeschlags dachte, daß er ferner ein - wenngleich weitgehend
aufgekrempeltes - grünes Flanellhemd trug. Im übrigen gehen
in Berging nur alte, keinesfalls aber junge Leute, oder gar Leute mittleren
Alters wie Corinth zu Fuß. Zu-Fuß- Gehen gilt nämlich
der engagierten, übermotorisierten, im Bewegungs-Fieber agierenden
Berginger Jungbauernschaft als der höchste Ausdruck der Verrücktheit,
nicht zuletzt als Ausdruck der geistigen und materiellen Armut. Berginger
Bewegungskultur wurzelt seit jeher in Hydrauliken, in Hebern, in Mähdreschern,
in Mähbalken, in auffrisierten Kronreiff-Trunkenbolz-Motor-Rädern,
in Kraft-Wägen mit Spoilern, in Suzuki-Maschinen mit sechs Zylindern,
in gewaltigen Mistladern und noch größeren Vieh-Transportern.
Es galt und gilt das Axiom von der Kraft als Bewegung und von der Bewegung
als Kraft Nicht etwa im Sinne einer motorischen Eleganz einer Vespa, so
wie sie Benedetti einmal als den Mythos des italienischen Bewegungs-Alltags
beschrieb, und zwar damals auf den Stufen zur romanischen Kirche über
der Piazza Michelangelo. Dort, wo tausende Vespas geparkt stehen, auf
die eislutschende Florentiner Handels- und Oberschülerinnen zugehen
- in einem seltsamen Geschehen von Farbströmungen. Fliegende Haare,
fliegende Haarschleifen, hübsche Röcke, eng an das Nappa der
Vespa-Sitze geschmiegt. Es war freilich bereits Herbst, als unten beim
Zeitungsstand der Piazza Michelangelo Corinths Tochter Giulietta auf Benedettis
Sohn Giovanni wartete und dabei kokett auf dem Nappa-Sitz ihrer Vespa
saß, auf einer Höchstform der kultivierten Bewegungsbereitschaft,
wie sich Benedetti einmal Giulietta gegenüber diesbezüglich
ausdrückte. So sahen die Höllerschen Altbauern-Leute länger
gebannt dem schlendernden, zutiefst konzentrierten Corinth nach, der im
übrigen auf seinem Rücken den blaugelben Moretti-Sportrucksack
trug. Eine gelbe Bewegungspuppe verschwand - als wäre sie flirrende,
zerfließende August-Vision in müden, längst satten Augen
- hinter dem Gesträuch der nunmehr dritten Berginger Wegschneise,
von der ab es wieder bergauf, und zwar jetzt direkt auf den Berginger
Hügel ging, auf dem sich das nunmehr Corinth gehörende, an die
Pächterin Fuchs verpachtete Berginger Gut befindet. Dabei war es
nur ein Strauch, der seinen Schatten warf, was zuletzt die verwunderten
Höllerschen Altbauernleute sehen konnten, war also eine satte Täuschung
des flirrenden Sommerlichts, überzeichnet durch die Wirkung des Sommerwinds,
durch jenen höchst musikalischen Sommerwind also, der jetzt mit bracchialem
Vibrato - ganz gegen den üblichen Strömungsstrich vom Höllengebirge
her - offensichtlich vom Haugstein her kämmte - und zwar ganz nahe
bei der Scheune der Höllerschen Tischlerei. Der Tischler Höller,
Neffe der Höllerschen Altbauernleute, konnte schemenhaft in der Höllerschen
Werkstatt gesehen werden, als er gerade ein Max-Brett abzuschleifen im
Begriffe war, also ein Max-Kunst-Brett, ein Gmundner Brett, wie sich mein
Berginger Großonkel Max in seinem Treib- oder Tropenhaus zuweilen
im Zusammenhang mit einem Max-Pflanzen-Brett auszudrücken pflegte,
ein Gmundner - oder vielleicht sogar ein Ebenseer Max-Brett oder, kurz
gesagt, eine ganz ordinäre Spannholz-Platte. So wie es Corinth nunmehr
der Sommerwind leichter machte zu existieren, indem er unbeschreiblich
still, neue, offensichtlich vom Haugstein kommende Strömungsräume
aufschloß, die keiner Reminiszenzen an Thomas Bernhard mehr bedurften,
so gab es nun sofort wieder neues Undefiniertes, ein jenseits von Bernhard
und Stifter sich aufschließendes Seh-Gut, einen neuen Klimaten,
der Corinth gleich auf die leichteste und schäumendste Art zu Herz
ging. Es schlug nun tatsächlich leichter, und während sich der
Tischler Höller noch interessiert aus dem Fenster seiner Werkstatt
beugte, sank ein klimatisch induziertes, sehr affektgeladenes Stör-
Gewicht (vom Höllengebirgs-Wind veranlaßt) zurück in den
offenen Bauch-Raum Corinths, um dort sofort in Auflösung, in ein
Hungergefühl überzugehen. Auch ein Blick auf die ins tiefste,
ja existenziellste Blau getauchte Mondsichel, gezogen freilich in zartem
Gelb, noch im Nordosten über dem Wimpernbogen des Höllengebirges
hängend, reine Lichtgravierung im Glast-Dom, erwies sich der rücksichtslosen
Härte, insbesondere der eben bei der Berginger Schneise verlassenen
Bernhard-Welt gegenüber, als eindeutig befreiend.
[...]
Schon zeigten sich dem zügig marschierenden Corinth die ersten Konturen
des Berginger Gehöftes, das ein Vierseiter ist, so wie man sie im
oberösterreichischen Innviertel häufig findet. Unten, in der
kleinen Mulde, neben dem Berginger Löschteich, befindet sich das
zweistöckige Wohnhaus, bewachsen mit wilden Birnen und wildem Wein.
Ein grün-braunes Haustor mit weißgefärbelten schmiedeisernen
Ornamenten und im Korridor die kühle Nässe des Steinboden, so
viel spürte Corinth schon jetzt. Er sah schon das zärtlich angelegte
Salettl, in dem er oft geträumt hatte, und dabei Eingemachtes von
der Tante Sophie bekommen hat.
[...]
[...] tief eingetaucht in den schweren erotischen Nachmittags-Geruch der
Berginger Welt, bemerkte Corinth den Sonnen-Raub auch als eine durch und
durch Berginger Angelegenheit, ja als die Berginger Angelegenheit
schlechthin, hoch stand die Sonne über dem Landstrich, brennend entfaltet
in splirrende Netze der Auslöschung, stahl sie sich alle Sichtbarkeiten
und war dennoch Ursache eines tiefen, mystischen Glücks. Stand ihrerseits
bereit zur Überschreibung und zum Sehen, was zu sehen ist. Öffne
die Augen, meditierte Corinth zu seinem tieferen Gegen-Ich, öffne
dein Herz! So gesehen, so gespürt, so notierte Corinth noch an
diesem Abend für Benedetti, muß man Bernhard wirklich dankbar
sein. Seine Auslöschung ist ja zuletzt auch noch optisches Phänomen.
Was er sah, war etwas besonders Mißglücktes, gerade jetzt tauchte
Ähnliches, und zwar 100 Schritte hinter dem großen Berginger
Wald vor Corinth auf, völlig Verlorenes, einige tiefe Rückfälle
in Verschwundenes. Es war, als zeigte sich eine Ikone der Kindheit - ein
Bild der kindlichen Existenz des Corinth, als zeigten sich ihm gleichwohl
Visionen als wahre und echte Gestaltungen, die er normalerweise aufs rücksichtloseste
ignoriert, verächtlich gemacht und als Verrücktheiten angesehen
hätte Das Erlebnis des Wind-Rauschens im Berginger Waldes führte
ihn ferner, wie an Benedetti sofort zu berichten ist, zum Eisenbirner
Schlachtfeld zurück, zum Spiel mit den Zinnsoldaten, zu den Sonntags-Nachmittagen
im Garten des Esternberger Hauses, wo die Mutter Märchen vorlas -
und wo heißer Tee serviert wurde, und wo - ganz anders als heute
- so wie jetzt im Berginger Sommerwind geträumt wurde. Aus einer
jetzt noch völlig unauslotbaren Tiefe heraus, zeigte sich Corinth
der Weg zum Berginger Hof - noch ganz in der Nähe der Tischlerei
Höller - als ein Fall in die Seh-Bereitschaft, in die Annahme des
Sichtbaren, in die Wiederentdeckung aller jener mißglückten
Landschaften, die in den vergangenen zwanzig jahren verlorengegangen zu
sein schienen.
[...]
nahe dem Eisenbirner Schlachtfeld, nahe dem verflossenen Tod, alleine
mit der gleichgültigen Sonne, die dennoch blitzte - manchmal zärtlich,
manchmal, als wäre sie reine Inkarnation eines Lichtblitzes, Todestreffer
in ein sehnsüchtiges Herz, dessen saturnische Melancholien auslöschend.
[...]
So entzündet nun die Sonne das Berginger Gut, durch die Scheune fiel
quer ein streng gezeichneter Staubstreifen Lichts und verlieh dem Obstgarten
und seinem gelbgrünen Wiesengrund eine merkwürdige Beleuchtung
im Sinne des Euklidschen Parallelen-Postulats, die Corinth nunmehr augenblicklich
ganz und gar gefangen nahm. Er blieb stehen, der Camera obscura und ihrem
Strahlenwurf bis zu einer möglichen Quelle, ja Öffnung hin nachforschend,
erfüllt mit ätherischem Heu-Geruch und frischem Geruch nach
den einigen wenigen Früh-Äpfeln, die noch in den Gravensteiner-Kronen
vergessen waren. Lichtstaub, ein kosmischer Strahl, einfach durch die
geschnitzte Holz-Belüftung des Berginger Stadels. Strahlt als gliche
sie jener lautlosen Gestalt eines Franziskaners, die Benedetti immer mit
größter Aufmerksamkeit verfolgte, wie ein Vogel, oder gar wie
eine Echse das geschärfte Auge rollend, rasch - wie Aschenflug -
über den Boden huschende Lichtformen fixierend - kurz einem Rauschen
nachfühlend, von tiefer Langsamkeit zeugend und eminent in der Pötzlichkeit
seiner Erscheinung. Ungeheure Auslöschung, durch das Rosetten-Fenster
auf der Nordseite, fahles gelb-blaues Licht. Franziskanische Tiefe. Nicht
minder hier ungeheure Auslöschung und Konzentration beim Obstgarten.
Oder die Geschichte vom Sonnengesang in der Nähe der Villa Spada,
2 km südöstlich von der Piazza Michelangelo, bereits mitten
im Dickicht, ein altes toscanisches Bauerngut, in dessen Dachfirst ein
foro gnomonico angebracht war, durch das die Sonne - und zwar genau mittags
- auf eine Linie aus Messing, gespannt im Hauptgang, projiziert wird.
Die Teilung des elliptischen Sonnenbilds verrät den Augenblick des
Mittags, da die Sonne am höchsten steht. Die Berginger Lichtfigur
dagegen zeigte Corinth die Rückkehr der erfrischenden Kühle,
auch Geräusche der Vorbereitungen für die Stallarbeit waren
bereits zu hören. Kühe muhten unruhig. Ängstlich marschierte
Corinth jetzt näher, in seltsamer Trauer des Todes des Berginger
Großonkels gedenkend, in einer Art Anflug.
Sind nun derartige Anflüge die Quellen der Lobpreisungen des Sonnengesangs?
Dieses Rätsel, oft zwischen Benedetti und Corinth dikutiert, blieb
und bleibt jetzt in Berging ungelöst. Was hat es auf sich jenes unerhörte
Benedetto sia, das jetzt in den Lichtstrahlen spielt - quer durch
die Scheune - als wärs eine tanzende Flamme, der lichte Punkt des
Nachmittags. Der Herr der Winde und der ätherischen Gerüche.
[...]
Und schon ist die Maschine
der Überlegungen angeworfen, neidisch und arrogant, unmittelbare
Pracht des Tags, die Stimmen des Sommerwinds zu vertreiben. Eben bereits
unmittelbar vor der Milchkammer. Welch prachtvolle Meditation und welche
Bedrohungen durch den Stumpfsinn des philosophischen Denkens, jener ewigen
Mißglückungs-Bereitschaft. Es sind die Spaltungen, dachte
er, also die andere Natur, die Gegen-Natur, die tödliche Unglücks-Natur
in ihm aufhebend, die Denk-Natur vertreibend, das Krächzen der Denk-Dämonen
vertreibend, reiner Anflug einer Vogelstimme.
[...] reiner Klang, reiner
Raum, reine Sonne: Sehe, was zu sehen ist; höre, was zu hören
ist. Das steht seit diesem Abend im Tagebuch des Corinth. Etwas macht
sich nun - rückblickend - hörbar, so schrieb er dann zuletzt
am Abend auch noch in sein Notizbuch, das glücklich macht, schier
Unbegreifliches. Alles banale Wissen entlarvende Weisheit, ja sogar bäurische
Weisheit, nach Heu und Honighaar riechend. In meinem verpfuschten Handwerk
des Lebens macht sich nun, scheints, so in seinem ersten Berginger Brief
an Benedetti, ein neuer Meister in zwei Gestalten hörbar, der Sommerwind
und das Nachmittags-Vöglein. Steht dahinter das Läuten der Totenglocke,
oder der dumpfe Blick des Mesners, der in der Esternberger Leichenhalle
die Totenkerze entzündete, als mein Großvater vor Jahren -
und dann später mein Bruder Johannes - bleich auf dem Katafalk lagen,
fast mit gelblichem Gesicht - ohne Raum- und Zeitfühlung? Verschwunden,
nur noch spürbar in einem diffusen und bis zuletzt völlig unentzifferbaren
Schmerz? Empörend und überwältigend. Unfaßbar und
Genauigkeit des Hörbilds. Nach jenen hundert Schritten über
die Berginger Anhöhe hinweg zum Obstgarten, und dann zur Scheune,
zeigt sich - oben angekommen - bereits das weite Feld, mit wogendem Korn,
mit Brau-Gerste bestellt. Der Blick fiel geradezu hinein, war überrascht
von der Fülle des Lebendigen. Schon am Rain, neben dem Berginger
Marterl mit dem verwaschenen Bild der heiligen Notburga, begann eine seltsame
Verwandlung. So weit ich mich erinnere, war ich gerade dabei, mir die
Hose heraufzuziehen, und das Hemd aufzukrempeln, mich also den Gestaltungen
der Hitze und des Sommerwinds zu stellen: eine Ortsbestimmung anzustellen,
mit der Nase in diese schweren Geruchswelten aus Korn und Kuhmist einzutauchen.
Es war mir, als wärs eine Emanation des Mondes, dessen Sichel ja
über dem Birken-Hain im Nordosten - festverankert und dennoch zärtlich
- spürbar wurde. Trotz der Kälte des Mondes, trotz des kühlen
Silberhaars, daß er in den Nächten webt. Jetzt lächelte
er und man sieht in der Fluglinie auch die sanft eingewiegten Gehöfte,
große Burgen in grünen Hügeln.
Gleichwohl rinnt jetzt auch bei der Milchkammer Schweiß die Stirne
herunter, es ist noch immer sehr heiß: Insgesamt tatsächlich
lyrisch, denn eine ferne Musik verdichtet sich. Sie war sogar eine zu
deutliche Stimme seiner Kindheit, in die er nun wieder zurückkehrte,
gleichsam als wäre er ein Meteor, der aus fernen Welten einfährt
und zerbirst.
... wirklich eine provokante Lautlosigkeit, die provokanteste Lautlosigkeit
schlechthin, durchfuhr es Corinth, ich bin sie nicht gewöhnt und
kann daher nicht einfach weghören. Aber man sie nicht einfach auch
aufzeichnen, oder gar abbilden. Doch sollte man sich in sie hineinfallen
lassen, es ist jetzt Zeit dazu. In der Mitte des Lebens, wo man - aus
merkwürdigem Anlaß zurückkehrt - in die mißglückten
Landschaften, denen man freilich immer noch angehört. Das wird deutlich,
ich werde es mir von jetzt ab merken müssen, daß ich zurückgekehrt
bin - und sei'snoch so eine primitive Rückkehr.
Aus dem Rauschen der langsamen, der rücksichtslos langsam gewordenen
Welt Undeutliches vernehmend, dachte er noch immer vor sich hin, da zeigte
sich plötzlich Frau Fuchs, von der Milchkammer her.
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