Christian Paul Berger. Geboren 1957 in Passau, D. Lebt in Bregenz, A.

Im Sommerwind.

Eine Rückkehr. Versuch einer Überschreibung. [Auszug]


Es gibt nur wenige Sekunden, wo einem in sich Versunkenen bewußt wird, daß die Zeit vergeht - und immer geschieht dies von einer unbeschreiblichen Tiefe her; sie gleicht einer Hitze, die sich in die Fläche des gleichgültigen Bewußtseins eingräbt. Dessen oberflächlicher Teich, üblicherweise aus wäßrigeren Gedanken - sonst vom Sommer-Gehen, vom Gehen überhaupt, von diesem unbeschreiblichen Gehen in die Landschaft hinein - irgendwie geklart und gestillt - erlangt plötzlich den Zustand einer chaotischen Aufwallung. Häufig nur Augenblicke lang - an diesem fernen Nachmittag -, manchmal freilich, so wie jetzt, den ganzen, bereits gespürten Spaziergang lang, besser über die ganze Dauer des zügigen Anmarsches hinweg, er führt zum nunmehr mir gehörigen Bauernhof meines jüngst verstorbenen Großonkels Max, in Berging, weg von geglückten Landschaften, mehr als einen Augenblick lang also, fast als wärs eine Reise, zuweilen bereits in einer endlosen Kette spürbarer fixer Ideen, und in Erwartung neuer Bilder. So ist es jetzt auch tatsächlich der Fall. Streng von außen betrachtet, Paul Corinth, neuerdings Philosoph und Landwirt, hat sich also seines Wegs besonnen. Viele möglichen Notizen für den Abend im alten dunklen Studierzimmer des Onkels.
Ich bin Paul Corinth. Gestatte, Freund Benedetti, obwohl du es weißt, die Spaltung, und zwar aus rein erzählerischen Gründen - Schreiben spaltet, spaltet das Gehirn; * und es war mir schon immer ein Bedürfnis, mich von außen betrachten zu dürfen - mich sozusagen von einer mir nicht sofort vertrauten Gegen-Perspektive her - schreibend - in einen fundamentalen Dialog verwickeln zu lassen, der sich allerdings immer von einer vertrauten Ausgangs-Perspektive her entspinnen muß. Ich wäre nämlich kein Philosoph, wäre es nicht so.
Ferner wäre ich kein Musik-Liebhaber, hörte ich es nicht so.
[...]
Schreiben geschieht nach Funden und es geht gegen die ewige Not der Gleichgültigen, dagegen muß gefunden, dagegen muß geschrieben, dagegen muß gewußt werden, gegen all die sogenannten Selbstverständlichkeiten, gegen die rücksichtslose Gewohnheits-Auffassung, gilt es
Seh-Bereitschaft,
Hör-Bereitschaft,
ja Verzweiflungs-Bereitschaft zu gewinnen.
Du weißt es sicher, notierte er ferner an Benedetti.

Es ist freilich alles ganz anders als im Grizzana der letzten August-Tage des vergangenen Jahres, wo ich mit Benedetti in einem Zug wartend, unmittelbar vor dem Tunnel durch den Appenin, auf die zärtlichen Zypressen blickte. Zypressen üben eine zauberhafte Wirkung aus, sie sind die elegantesten Bäume, meinte damals Benedetti. Er sprach ferner von der Zypresse als dem durch und durch etruskischen, kurz als dem etruskischten aller Bäume, als dem Zeichen der Totengöttin, die ihren Finger zu den Sterblichen streckt. Sie deutet dem Totenvögerl. Sie mahnt den Augenblick ein - in ihrem unendlichem Kuß.

Hier, in Berging, nahe der Liegenschaft meines verstorbenen Großonkels Max, nahe seinem Laufstall mit den 36 Stück schwarzbunten Kühen, und nahe der Koppel mit den Trakehner-Pferden, gab es in diesem Augenblick, so mußte ich mir sagen, freilich keine derartigen, zauberischen Haine, voll mit Geheimnissen des etruskischen Todes, voll der Fülle und Auslassungen des Appenino di Grizzana, sondern vielmehr satte Bauern-Farben, durstend nach Wasser, und all die derben, militärisch gezogenen Pappel-Alleen im bläulich flimmernden Westen, strenge Geometrie der Perlenschnüre am Horizont; fest entlang der Eisenbahnlinie, die schon von Napoleons Soldaten gepflanzt wurden, als sie im Jahre 1809 die Berging naheliegende Stadt Schärding mit Kanonen beschossen, wie mein Onkel Max häufig feststellte.

Also merkwürdige Erinnerungen: Ist es tatsächlich eine mißglückte Landschaft, reizlos und übergewohnt, fragte sich Corinth? Schon in Florenz, oben auf der Piazza Michelangelo, ganz nahe beim Franziskaner-Kloster war, zwischen Corinth und Benedetti, von einer Reise durch mißglückte Landschaften die Rede. Von einer Heimkehr, einer aufs genaueste zu rekonstruierenden Rückfahrt in die Genauigkeit einer einst fühlbaren und jetzt rekonstruierbedürftigen Welt, deren tiefere Beschaffenheit nunmehr erneut zur Disposition steht - gleichsam von einer Verzweiflung her, daß in den geglückten Landschaften fast alles verloren sei.
Es geht allerdings jetzt, d.h. philosophisch gesehen, um völlig merkwürdige, freilich ganz einfache Vorfälle, wird später Corinth für Benedetti notieren, um lyrische Vorfälle, um lyrische Geometrie und um Zärtlichkeiten zwischen Wort und Landschaft.
Denn Benedetti ist Lyriker, er liebt Webern, er liebt das zarte Chaos des Sommerwindes, das sogenannte Lächeln der Etruskerin, der Tuszierin; er liebt die gläserne Welt des Opus 27. Benedetti, der sich ja auch intensiv mit der sogenannten hermetischen Lyrik befaßt hat:
Alles auf den Punkt gebrachte Verschlüsselungs-Sachen, sagte Benedetti, Auguren-Blicke und Leberschau. So auch die Lambacher Meditation, an sie erinnerte sich Corinth; eben als er ausgestiegen war, fiel ihm sofort die Lambacher Meditation ein.
Lambach contra Berging - Bernhard contra Benedetti. Schreiben ist Vorstellungsprophetie, merkte er für Benedetti an.
Und derartige Vorstellungsprophetie (vorgreifend in Unsichtbares) endet in eben der Auslöschung, die der hastig an Lambach vorüberziehende Zug (um Weihnachten 1993 von Wien kommend) damals von seiner Geschwindigkeit her erzeugte - blind, einfach Bewegung.
Wie jetzt: vielgliedrige Bewegung. Berging und Lambach.
[...]
Verschlüsselt der unhörbare (ja unerhörte) Zeitschlag den eminenten Kahlschlag, so macht dieser den eminenten Zeitschlag feingestimmten Ohren - gleichsam als Gegengeschenk - hörbar. In Art der Haydn-Quartette.

Lambach:
Die Abtei in ihrer einfachen Geometrie, dennoch zu groß: Türme draußen, ja der Turm par excellence, ferner eine hohe, weite und breite Mauerfront, kunstvoll zu hoch; endlose Fensterreihen, josefinisch-serielle Architektur - dennoch fensterlos, melancholische Leere. Flüchtiger Gedanke an das einzige, in Österreich noch erhaltene barocke Schultheater:

"Der Lustthall der Natur/ aus welchem wir von weiten
deß Taurus langen Gast/ den Winter/lachen aus;
Hier tieff spatziren gehn in einer Nais Hauß
die guelden heist und ist; Da alle Fruchtbarkeiten
auf Chloris gruener Brust/und Thetis Schoß sehn streiten
dort so viel Dryaden die Huegel machen krauß/
darvon Silenzs bricht/ "

Dann schräger Blick zur Klostermauer, zeitbeschmutzte Fundobjekte: Verborgene Orangerien (Gibt es sie? Wahrscheinlich sind sie immerhin),von ferne - einen Atemzug noch - der Blick in eine vertraute, klösterliche Sprach- und Bauwelt - aus der tiefen, winterlichen Sehnsucht einer Zugs-Passage heraus. Während der Ort prinzipiell unten ist, ist das Kloster prinzipiell oben.

Es war tatsächlich eine merkwürdige, fragile Stimmung - Weihnachten 1993, als ich vorbei kam: Stimmen im Zug, der Gedanke an den 1988 verstorbenen Bruder, an eine sehr geliebte, jetzt bereits steinalte Tante im nahen Vöcklabruck; die Kindheits-Bilder von den Spaziergängen in Wolfsegg, irgendwo eine Kohlegrube, Knappen-Kapellen: hineinmarschierend in versonnte lange Zypressen-Wege (in der Nähe des Haushamerfeldes in Frankenmarkt, wo um Leben und Tod gewürfelt wurde) und napoleonische Pappeln, die nicht eigentlich einen Winter kennen. Des Grenadier Lappenpapps (gefallen 1804 in Eisenbirn bei Schärding) Skelett im anthropologischen Kabinett von Kremsmünster. Groteske Anatomie. Eines frühen Tolstois Tagebuch. Zergliederung im Bild. Zergliederung in einem Gegenbild: Die Landschaft sprach zärtlich - aus der Kälte heraus.
Ihre Stimme ist möglicherweise wirklich so etwas wie Gesang des Totenvögerls, eines Phönixls gleichsam, gewesen. Oder auch die Stimme eines unendlich entfernten, fraglos eben noch milden, weil vorwinterlichen Flur-Gottes (aufgetaucht aus jener angesprochenen, nun für alle Zeiten wohl versunkenen, zauberischen Orangerie in Wolfsegg). Der Gott, der in seiner Verborgenheit allen Bernhardschen Landschaften innewohnt, und der sich nunmehr für mich - als Augenblick gelassener Augen - in einer Zugspassage inkarnierte, um ebenso rasch wieder verloren zu gehen. Erleuchtung ist eben immer Verdunkelung. Zulange Sehen immer Stumpfsinn.
[...]
Also Corinth
, sagte damals in Grizzana Benedetti, gewinnen sie ihre Auslöschung, es ehrt ja, wie der Italiener sagt, den Schüler, wenn er, in den Fußstapfen seines Meisters, durch die mißglückten Landschaften eilt, die jener schon vor ihm sah.
Zunächst sind wir ja alle Nachfolger,
meinte Bendetti..Die Mystik der Nachfolge. Nicht hinterher laufen - nachfolgen!
Nachfolger eines Mystikers sein, der wirklich etwas gesehen hat, denn nur so kann Schreiben zuletzt doch noch gelingen - Benedetti meinte dabei Mystik der Vernichtung, der Auslöschung. Geburt des Funkens, des Fünkleins im Herzen - Wiederkehr.
[...]
Wer sieht, überschreibt, steht in der Überschreibungs-Bereitschaft, gleichsam von einem ungeheuren Zwang zur Klarheit her, die sich nur als Überschreibungs-Klarheit verwirklichen läßt.
Überschreibe - um Gottes Willen - Bernhard, meinte Benedetti. Und er hat recht - und nicht allein dem ersten Anschein nach. Neben-Schreiben, neben Bernhard schreiben, ist heute längst unmöglich. Lieber nicht schreiben als neben-schreiben! Ein Nebengebäude zu errichten, nein, vielmehr, wie Nietzsche im Zusammenhang mit dem Denken vom Überdenken spricht, so scheint es, folgt man Benedettis Gedanken konsequent, daß ein Schreiben in und um Berging nur vom Überschreiben Bernhards her möglich ist, dessen Schreiben ja, so Corinth, in und um Lambach - so wie ja nicht zuletzt auch Corinths Lambacher Meditation deutlich zum Ausdruck bringen will - stattgefunden hat. Um es kurz zu sagen: Überschreib oder stirb!, merkte Benedetti ferner noch an.
Appell an einen Traumwandler?
Suche deine mißglückte Landschaft von einer zärtlichen, kunstvollen Überschreibung her. Vergiß nie, ein wenig auch zu umschreiben, und einiges zu beschreiben - in der Hauptsache überschreibe aber: Berging wird deine erste Überschreibung sein.

Schon jetzt, kurz vor der Ortschaft Moos, etwa 200 Meter vor der Kreuzung zum Berginger Hof, von der aus man bereits den hohen schmutzig-grauen Futter-Silo des Berginger Hofs sehen kann, wurde mir Benedettis Forderung endgültig zur Einsicht. So stehe ich, Paul Corinth, nunmehr selbst an der Verzweigung: Umschreibung oder Überschreibung? Wieder sehe ich mich gleichsam von außen, sehe mich von der merkwürdig engen, ja völlig komprimierten Ortschaft Moos her, in Richtung großer Berginger Wald gehend, als eben der Paul Corinth, dem Benedetti mit Nachdruck das Überschreiben der Bernhardschen Schreibkunst geraten hatte. Meinte er es damit überhaupt ernst?
Kann man die Grizzaner Verhältnisse überhaupt mit den Berginger, die Zypressen und Pinien von San Benedetto bei Grizzana mit den Pappeln der Eisenbirner Allee - nordwestlich von Berging - vergleichen, durchfuhr es Corinth?
Ist Berging überhaupt überschreibbar? Zuerst mußte man freilich das zu Überschreibende sehen. Sich die Frage stellen, ob es in Berging überhaupt zu Überschreibendes gäbe, und wenn ja, wie es zu überschreiben wäre, und nicht zuletzt wieder warum. Sollte man nicht doch zuletzt einfach schreiben, und selbst dann einfach schreiben, wenn es wie Bernhardsches, wie zu Überschreibendes klingt? Es ist zu lernen, ist unbarmherzige Tatsache, sagte sich Corinth, einen sperrigen Stein vom Bergiger Güterweg vor sich herschiebend, daß man sich, und dies gilt selbst im völlig verlassenen Vorfeld von Berging, niemals im luft- bzw. hier besser formuliert, im wortleeren Raum befinden kann.
Man ist niemals im wortleeren Raum, so wenig wie man in der wortleeren Zeit ist - und im übrigen: auch Blicke sind niemals wortleer.
Blick-Kunst - Landschafts-Kunst?
[...]
Auch Berging gehört, und dies muß ohne Beschönigung zur Kenntnis genommen werden, wie alles hier in meiner oberösterreichischen Heimat, längst zur Bernhard-Welt, verfällt somit ständig den Bernhard-Worten, so wie Lambach schlechthin ein Bernhard-Wort, d.h. zu Überschreibendes par excellence ist, und alles in Lambach Mögliche und Unmögliche notwendigerweise zum Grundbestand des Bernhardschen Welt-Nachlasses gehört, obwohl - oder besser: weil - Bernhard nie ein Wort von Bedeutung über Lambach geschrieben hat. Es ist freilich auch nie ein Wort über Berging in Bernhards Œuvre aufgefunden worden, und doch ist Berging, sind seine Obstgärten, sind die Treibhäuser meines Großonkels, ist der Laufstall meiner Pächterin Fuchs, sind die schwarzbunten Holstein-Friesen-Kühe, Bilder der konzentriertesten Bernhard-Welt, der ich, Corinth, nun - und nicht nur als der Philosoph, als der Husserlsche Phänomenologe - in völliger Unvoreingenommenheit zu begegnen habe.
Ist Berging also Solipsismus? Durst? Rückkehr? Seelenwind? Kastalische Studie?
[...]
Ferner, so sagte Corinth noch zu sich, wird Bernhard alles auch in Zukunft gehören, ja alles hier, und zwar ohne Ausnahme, auch ich und mein Schreiben, beschloß Corinth ferner noch an Benedetti zu berichten. Es ist vorläufig keine Flucht weg von Bernhard, weg zu einem nicht-bernhardesken Berging denkbar, selbst mein Berginger Großonkel Max war ja, wie Du von meinen, meinen Onkel betreffenden Erzählungen des letzten Sommers her ja bereits ganz genau weißt, eine durch und durch Bernhardsche Existenz, freilich frei von literarischer Verrücktheit, aber voll der Berginger Verrücktheit - oder nicht viellciht besser gesagt: voll der Ent-rücktheit? - , der auch ich jetzt anheimzufallen drohe - es ist die Ver- oder Entrücktheit des Sommerwinds, der wogenden Getreideflächen, des mond-zersichelten Himmels, der ewigen Rückkehr der Dinge - Berginger Sein und Kleistsche Unendlichkeit. O wie zappelt der Puppen-Tänzer unter dieser Sonne - ihm ist vielleicht in diesem Leben noch zu helfen!
Immer war mein Onkel ein guter und rühriger Innviertler Landwirt und begeisterter Gärtner, er besaß - schon als die neureichen Landwirte im Innviertel das längst nicht mehr für zeitgemäß hielten - anstatt der heute üblichen, durch und durch verhunzten Stutzenlutz-Stube immer noch die Innviertler Kirschholz-Bauernstube, die kunstvollste Bauernstube überhaupt, versehen mit einer heimeligen und feinverzierten Kassettendecke und mit harz-duftenden, ockerbraunen Kirschholz-Kommoden und den Biedermaier-Sekretären an den Wänden, in denen er die Zeitungs-Artikel seiner Mutter, d.h. meiner Urgroßmutter - als wären sie zarte Überbleibsel aus einer besseren, bewußteren, oder wie er zu sagen pflegte: genaueren Zeit - verwahrte. Die Briefe einer feinfühligen Landfrau, voll von Noblesse und einfacher, ja Wittgensteinscher Klarheit, die mir mein Berginger Großonkel, manchmal sogar mit Tränen in den Augen, am Abend auf der Berginger Pergola, unter wildem Wein und wilden Birnen vorlas.
[...]
Mit Genuß habe er, so sagte mein Berginger Onkel, Bernhards Auslöschung gelesen, dabei immer an seinen Schwager, meinen Großonkel, den Hofrat Corinth denkend. Für ihn ist gerade Hofrat Corinth - ein leidenschaftlicher Gau-Jäger - die durch und durch typische Auslöschungs-Existenz gewesen, er habe dies freilich schon früher geahnt, so mein Großonkel Max an jenem traurigen Spätsommer-Nachmittag der Bekenntnisse, also noch bevor er jenen bemerkenswerten Aufsatz eines Innsbrucker Professors Stöckeler über Bernhard und Stifter gelesen hätte, der jüngst im Stifter-Jahrbuch des Stifter-Instituts in Linz erschienen ist, und über Abklärung und Auslöschung handelt. Ist, so Stöckeler, der Nachsommer ein radikal abklärender, so ist dagegen Bernhards Roman die radikale Auslöschung.
Gärtner in der Orangerie. Jäger im Schlachthaus.
Ganz besonders sei ihm in diesem Aufsatz das Wort Abklärung aufgefallen, meinte mein Großonkel zuletzt noch! Nach der Aufklärung komme, so Stöckeler im besagten Stifter-Bernhard-Exposè, die Abklärung. Gehorcht einerseits die Aufklärung dem Diderot, so die Abklärung Stifter und die Auslöschung Bernhard. Dem harten folgt, so mein Berginger Großonkel, quasi das sanfte Gesetz, dem sanften quasi das auslöschende. Aufklärung - Abklärung - Auslöschung - welch grandiose Dreiheit, pflegte er hinzuzufügen. Jagd - Gärtnerei - Mystik - deutend und gestikulierend! um es - nicht ohne Fingerspitzengefühl - zu präzisieren.
[...]
Aber der Berginger Großonkel? Durch und durch eine Abklärungs-Existenz? Oder ein einfacher Innviertler Bauer?
[...]
Es gibt also hier, lieber Freund, nur die Ergebung in seine Welt - und nicht etwa die Möglichkeit einer rücksichtslosen Bernhard-Überschreibung! Aufklären, abklären, auslöschen! Das ist es, notierte er abends für Benedetti. Freilich keinesfalls hündisch auf-, abklären und keinesfalls zerstörerisch auslöschen - alles vielmehr im Wehen des heutigen, heißen und verbrennenden Sommerwinds, ein wenig sehnsüchtig und dem verspielten Wimpernschlag der Raine ergeben - also Berging ergeben, Cèzanne gehorchend: malen, was zu sehen ist - fühlen, was zu fühlen ist. Kuß und Streichelung der großen Mama mit dem ironischen Wimpernschlag; vielleicht weiß es Luis Borges - ein Fragment Exotik im Hirn! Tango und Kind of Blue.
Aufklärung - Abklärung - Auslöschung: aber nicht in Form einer Be- oder Wiederbeschreibung, sondern zuletzt nur als die bewußte, kunstvoll und radikal aufrichtig vollzogene Heimkehr in seltene, kostbare, ja in kindliche Eindrücke, die ja allesamt Stücke seiner Welt sind, trotzdem er diese, seine Welt nie sah, nie berührte. ¾ Des Meisters Statthalter ist vielmehr der verschmitzte Sichelmond über der Höllerschen Tischlerei in der Ortschaft Moos. Ihn beherrscht Schreiner, ehemals meines Großonkels Vorarbeiter im längst liquidierten Bauunternehmen.
Beide litten im blauweißgestreiften Gewand im Kräutergarten in Dachau, beide schoben die Walze im Steinbruch in Flossenbürg. Beide saßen oft auf der Terrasse des Berginger Hofs in Tränen über entsetzliche Vergangenheiten. Beide haßten den Großen Anstreicher. Beide liebten die Gerechtigkeit gelassener Nachmittage.
Schreiners blaue Arbeitsjoppe und der Trenker-Hut, das Stauffer-Fett. Die Transmissions-Gespräche und der warme Geruch nach Silofutter.
Unauslöschliche Quadratur.
Weiters die Ergebung in die Welt meines Großonkels, des Bernhard-Lesers, die Einfügung in seine Bernhard-Welt.
Der Meister ruft uns leise über des Onkels Glashäuser, über seinen Kuhstall hinweg mit der Stimme des Windes, mit der Stimme des Mondes, mit der Stimme der melkenden Pächterin. Mit dem Geräusch nach Melkeimern in verfliesten Milchkammern. Mit dem Surren der Melkmaschine. Mit dem Blick auf die Ring-Gebirge des Mondes durch die Plösselschen Dialyte. Über restaurierte Barock-Grabsteine hinweg. Neben der apfelschälenden Tante Luise.
In des Welten Meisters Worten glückt vieles, verstummt manches, wird einiges klarer und verschwimmt ins Unendliche, paart sich mit der Grazie heißer Spätsommer-Nachmittage.
Und die Landschaft! Gerade so wäre die jetzt bereits selteneren Elegien zu intonieren:

Geht alles in uns auf mit diesen Feldwegen
da Gott sich pries im Ansprung des Hundes
im trägen Sein der Katze
die sich sonnt
da Gott nachschuf köstlich seine Vergänglichkeit
sich zeichnete als Birkenhain und Windes Woge
sich nahm als Feldweg
uns zu beschenken mit dem bäurischen
Mäander zum Wald
da Gott neu eichte alle Herzschläge
und den nervösen Blutlauf
über unsre Adern hinaus

O diese zärtlich mißglückte Landschaft, Freund Benedetti - im Sinne unserer Florentiner Spaziergänge auf der Piazza Michelangelo, sie gleicht in vielem dem franziskanischen Schleier, der über der Toscana bei Arezzo liegt. In dieser Hinsicht bin ich, Corinth, Berginger Archäologe und Du, Benedetti, Arezzaner Archäologe.
Archäologie der Gefühle!
Gegen alle Nach-Äfferei. Den Mosaiken des Spätsommers nahekommen - so daß es zuletzt tatsächlich schwerfällt, etwas zu überschreiben.
Ergebung in die Windpuppe! Hochzeit mit dem Wirbel bis zum Firmament.
Bartoks Streichquartett!
Diese Landschaft und ihr stärkstes Projekt: der Sommer-Nachmittag.
Hört in Weberns Skalen den Weg durch die Ortschaft Moos, vorbei an einem einschichtigen Bauernhaus, errichtet auf einem Fundament mit gewürfeltem Granit, zärtliche Musik, direkt in Stein erstarrt. Und die flüchtige Lüftl-Malerei, der Bauern-Barock, labile Schnuttelei, hingehaucht auf kalten Kalk-Untergrund. Dumpfes Weiß. Dieses kaum je - während der vorangegangenen Besuche in St. Marienkirchen - bemerkte granitgewürfelte Steinhaus, mit verbogenen und verbeulten Fensterkreuzen, diese Architektur einer ironischen Erde, eines nicht völlig ernst genommenen Bau-Gedankens, einer nicht zuende gedachten Planungs-Absicht, um nicht zu sagen, dieser köstliche Pfusch, machte es ihm freilich leichter. Dann, schon etwas scheuer (Benedetti hatte während der gemeinsamen Spaziergänge um die Piazza Michelangelo herum schon oft angemerkt, daß erhöhte Aufmerksamkeit scheu mache, den eingefleischten Alltags-Hochmut vertreibe, aufs äußerste sehbereit mache), vorbei an einem Haus, an einer von allen Arten des Holz- und Fässer-Gerümpels umlagerten Tischlerei Höller.
[...]
Es ginge, so wird er ferner noch an Benedetti schreiben, um die tieferen Hintergründe der typischen Sauwälder-Existenz, um das Sauwald-Naturell schlechthin, um die tiefere Wirkung des höchsten aller Sauwälder Granit-Berge, des Haugsteins, auf die mehr oder weniger granitenen Sauwald-Gemüter, und es ginge nicht zuletzt auch um die urgeschichtlichen Geheimnisse jenes Schardenberger Frohnwalds, dessen Ur-Gestein von reinem Pliozän, so wie sich mein Berginger Großonkel Max einmal dezidiert ausdrückte, weitverästelt gestört sei, ginge es ferner auch um die bemerkenswerten keltischen Opfersteine, um jene geheimnisvollen Dolmen und um die längst verwischten astralen Heiligtümer unserer keltisch-illyrischen Vorfahren. In Witterungs- Andeutungen, stark zitternd und chaotisch oszillierend im nordöstlichen Glast, ist eine Spur dieses Frohnwalds zu sehen, sein Wimpern-Bogen erstreckt sich, so glaubt Corinth nun doch noch zu bemerken, perspektivisch zu den Bergen des Bayerischen Walds. Eine tiefe, archaiische Sehnsucht. Freilich jetzt war Corinth erst beim Geheimnis des intensiven, des scharfen Haugstein-Winds, der sich freilich um nichts Berging Betreffendes kümmert, zumal sich ja Berging bereits im Voralpenland-Klima befindet. Doch auch hier ein Sommerwind, Corinth spürte ihn durch das grüne Jagdhemd strömen, spürte seine schneidende Hitze in den Augen, spürte ihn um den schweißnassen Brustkorb herum, ein Wind, der alles Bernhard Betreffende durch seine Erhitzung der Kopf-Kalotte verweht, da war er nun, eben erst beim zweiten Berginger Marterl, beim sogenannten Notburga-Marterl angelangt. Der nunmehr unheimliche, tödliche Sommerwind. Seine tiefen, abgründigen Flageoletts durch die kleine Berginger Schneise waren Strömungsmystik - das wird auch an Benedetti, der als italienischer Goethe-Forscher stets an einer Phänomenologie des Klimas interessiert ist, zu berichten sein, fuhr es ihm durch den bereits ermüdeten Kopf, insbesondere in dieser offenen, fast schon pannonischen Landschaft, nur noch wenige Kilometer vor dem Berginger Hof. Viele Ur-Phänomene, deren Gewahrwerden uns erschreckt, murmelte er dem Wind entgegen, der seiner verspielten Einsamkeit nun landlerischer denn je Widerpart zu leisten schien. Eine weitoffene Bocca, wie in den Gärten des Palazzo Pitti, freilich hier geformt aus dem mikroskopisch kleinen Bild des Höllen-Gebirges. Schön hörte man auch vereinzeltes Brüllen der Holstein-Friesen-Kühe, hörte man, herangetragen durch die Höllengebirgs-Winde, das Geräusch eines Mengele-Ladewagens, ein Klappern, genauer gesagt, ein Scheppern, sich erzeugend durch Anheben der Hydraulik beim Steyr-Traktor. Dann, in völliger Hitze flirrend, zerfließend, die Berginger Schneise und der weite Blick auf die Pliozän-Findlinge, auf die Verlassenschaften des mysteriösen Pliozän-Gletschers. So manche magische Heimatkunde-Stunde in der Esternbergischen Volksschule drehte sich um seine Mysterien, die freilich dem geologisch nicht sehr versierten Corinth immer ein Rätsel bleiben werden. Dann intensive Gedanken an die zärtliche Riedelbacher Bach-Landschaft mit ihrer granitenen Teufelskanzel, jener bemerkenswerten Granit-Nase, Vorsprung in der sogenannten Esternberger Reschau, der versonntesten aller Sauwälder Bach-Täler mit zarten, hölzernen Bauernhäusern, dem sogenannten Reschau-Haus. Dieser Reschau, namentlich dem Riedelbach entlang, wurde jüngst die alles verschandelnde Esternberger Kanalisation gelegt. Ein Kultur- und Fremdenverkehrs-Verbrechen erster Güte, Bild einer völligen Abstumpfung und nachhaltigen Kultur-Resistenz. Erkannte sofort in der entsetzlichen Hitze - es war bereits drei Uhr Sommerzeit - eine leichte Spur einer Verödung der Feld-Furchen, stand noch eher ahnungslos vor dem Phänomen einer permanenten - freilich weitgehend auch latenten - Verkarstung bzw. Agrar-Verrohung (wie sich mein verstorbener Berginger Großonkel gerne ausdrückte), die auch vor Berging nicht wirklich halt machte, erahnte einige Linienzüge der Verwehung der Acker-Krume, verweilte ihn Gedanken bei der Antrocknung und partiellen Ausdörrung jener Hopfen-Pflanzen, die nunmehr im Nordosten bereits schemenhaft, - aufgezogen auf hohen eingeschrägten Stangen - sichtbar wurden, und über deren rustikaler Schönheit zweifellos vieles an Benedetti zu berichten sein wird. Corinth war bei der Berginger Sonne, bei den verzweifelten Schüssen der Jagdgewehre zu Frühlingsbeginn, dem wie man hierzulande sagt: Aper-Schießen, dann beim abergläubischen Läuten der Glocken zur Vertreibung des Blitzschlags, bei den hohen Palmstangen, die die Berginger Bauern-Kinder am Palmsonntag stolz vor sich hertrugen, beim Milch-Inspektor Moser, der von der Schärdinger Molkerei-Genossenschaft kommend, den strengen bakteriologischen Blick aufsetzte, eine durch und durch versoffene Existenz im übrigen, bei den Berginger Hundstagen, den entsetztlichsten Hundstagen für Agina pectoris-Kranke (wie ich einer bin, lieber Benedetti), und in deren Hitze, so Onkel Max, für kurze Zeit alles zerbröckelt und zerflimmert - als handelte es sich um Stellen in der Mahlerschen vierten Synphonie. Gleichsam Licht-Kleckse.
[...]
Auch die farbenfrohe heilige Notburga im Lüfterl-Bild der Höllerschen Tischlerei, in zartem Pastell der Sonnenseite preisgegeben, würde in diesem heißen Licht, in diesem fürchterlichen August-Licht ertrinken.
[...]
Weniger Licht, seufzte dann Onkel Max an derartigen, längst vergangenen August-Abenden am Telefon. Sollte man sie, damit dem heißen flirrenden Sommer-Nachmittag folgend, entsprechend dem Bild der Berginger Kreuzung einfach überschreiben, auslöschen im Sinne einer verbrauchten Benützer-Oberfläche?
[...]
Es gab also nichts den Berginger Nachmittag Betreffendes in Corinths Denk- und Realitätsbestand, was den Berginger Sachverhalten standhalten konnte. Der Berginger Nachmittag blieb für sich, war lediglich ausgegossen in das Netz einer noch unentdeckten, körperlichen Struktur, in den Wirkungsbereich von merkwürdigen, ja zutiefst geheimnisvollen Inkarnationen. Hatte Benedetti recht, dann sollte man, so schien es Corinth zuletzt, konsequent dem Berginger Vordergrund folgen, in Art einer Aufdeckung eines speziellen Berginger Komplexes, wie er es ja als Philosoph schon immer gewöhnt war - und zwar durchaus noch im Sinne der Lambacher Meditation -, oder sollte man nicht vielmehr der Berginger Tiefe, jener bislang noch unhörbaren Sprache sein Ohr schenken, immer mehr, ja bis zum äußersten aufmerksam werden; ging es also zuletzt um die trans-bernhardische Berginger Welt, um ein Geheimnis also, das der philosophischen Kultur unter allen Umständen erschlossen werden mußte? Also die Stimmen hören, die sich augenblicklich im Sommerwind andeuteten, als handelte es sich um das ferne Erklingen des Webernschen Stückes gleichen Namens - im Sinne einer zarten, vorerst bloß angedeuteten Intuition, so wie sie Corinth und Benedetti angesichts des Grizzaner Appenins - zumal im letzten August in einer silberverschleierten Mondnacht am Grizzaner Bahnhof - elegisch überkam und seiner überaus verzauberten Zypressen-Haine? Corinths braunes Haar flatterte jetzt - wie damals auch im Zugfenster - im zarten, langsam sich abkühlenden und wieder aufheizenden Sommerwind, er hörte ferne Stimmen, als käme er an einem alten Paar, an Philemon und Baucis an der Sonnenbank vorbei. Dabei waren es nur die Höllerschen Altbauern-Leute, deren Murmeln er vernahm, sie schlichen entlang der Straße und grüßten höflich, ohne freilich zu vergessen, sich noch einmal umzudrehen, um dem offensichtlich Damischen nachzuschauen, der ohne Strohhut ging. Arabische Weisheit! Corinth war so versunken in den Berginger Sommer-Nachmittag, daß es den Höllerschen Altbauern-Leuten im jeden Fall auffallen mußte, daß er nicht an die Gefahren des Hitzeschlags dachte, daß er ferner ein - wenngleich weitgehend aufgekrempeltes - grünes Flanellhemd trug. Im übrigen gehen in Berging nur alte, keinesfalls aber junge Leute, oder gar Leute mittleren Alters wie Corinth zu Fuß. Zu-Fuß- Gehen gilt nämlich der engagierten, übermotorisierten, im Bewegungs-Fieber agierenden Berginger Jungbauernschaft als der höchste Ausdruck der Verrücktheit, nicht zuletzt als Ausdruck der geistigen und materiellen Armut. Berginger Bewegungskultur wurzelt seit jeher in Hydrauliken, in Hebern, in Mähdreschern, in Mähbalken, in auffrisierten Kronreiff-Trunkenbolz-Motor-Rädern, in Kraft-Wägen mit Spoilern, in Suzuki-Maschinen mit sechs Zylindern, in gewaltigen Mistladern und noch größeren Vieh-Transportern. Es galt und gilt das Axiom von der Kraft als Bewegung und von der Bewegung als Kraft Nicht etwa im Sinne einer motorischen Eleganz einer Vespa, so wie sie Benedetti einmal als den Mythos des italienischen Bewegungs-Alltags beschrieb, und zwar damals auf den Stufen zur romanischen Kirche über der Piazza Michelangelo. Dort, wo tausende Vespas geparkt stehen, auf die eislutschende Florentiner Handels- und Oberschülerinnen zugehen - in einem seltsamen Geschehen von Farbströmungen. Fliegende Haare, fliegende Haarschleifen, hübsche Röcke, eng an das Nappa der Vespa-Sitze geschmiegt. Es war freilich bereits Herbst, als unten beim Zeitungsstand der Piazza Michelangelo Corinths Tochter Giulietta auf Benedettis Sohn Giovanni wartete und dabei kokett auf dem Nappa-Sitz ihrer Vespa saß, auf einer Höchstform der kultivierten Bewegungsbereitschaft, wie sich Benedetti einmal Giulietta gegenüber diesbezüglich ausdrückte. So sahen die Höllerschen Altbauern-Leute länger gebannt dem schlendernden, zutiefst konzentrierten Corinth nach, der im übrigen auf seinem Rücken den blaugelben Moretti-Sportrucksack trug. Eine gelbe Bewegungspuppe verschwand - als wäre sie flirrende, zerfließende August-Vision in müden, längst satten Augen - hinter dem Gesträuch der nunmehr dritten Berginger Wegschneise, von der ab es wieder bergauf, und zwar jetzt direkt auf den Berginger Hügel ging, auf dem sich das nunmehr Corinth gehörende, an die Pächterin Fuchs verpachtete Berginger Gut befindet. Dabei war es nur ein Strauch, der seinen Schatten warf, was zuletzt die verwunderten Höllerschen Altbauernleute sehen konnten, war also eine satte Täuschung des flirrenden Sommerlichts, überzeichnet durch die Wirkung des Sommerwinds, durch jenen höchst musikalischen Sommerwind also, der jetzt mit bracchialem Vibrato - ganz gegen den üblichen Strömungsstrich vom Höllengebirge her - offensichtlich vom Haugstein her kämmte - und zwar ganz nahe bei der Scheune der Höllerschen Tischlerei. Der Tischler Höller, Neffe der Höllerschen Altbauernleute, konnte schemenhaft in der Höllerschen Werkstatt gesehen werden, als er gerade ein Max-Brett abzuschleifen im Begriffe war, also ein Max-Kunst-Brett, ein Gmundner Brett, wie sich mein Berginger Großonkel Max in seinem Treib- oder Tropenhaus zuweilen im Zusammenhang mit einem Max-Pflanzen-Brett auszudrücken pflegte, ein Gmundner - oder vielleicht sogar ein Ebenseer Max-Brett oder, kurz gesagt, eine ganz ordinäre Spannholz-Platte. So wie es Corinth nunmehr der Sommerwind leichter machte zu existieren, indem er unbeschreiblich still, neue, offensichtlich vom Haugstein kommende Strömungsräume aufschloß, die keiner Reminiszenzen an Thomas Bernhard mehr bedurften, so gab es nun sofort wieder neues Undefiniertes, ein jenseits von Bernhard und Stifter sich aufschließendes Seh-Gut, einen neuen Klimaten, der Corinth gleich auf die leichteste und schäumendste Art zu Herz ging. Es schlug nun tatsächlich leichter, und während sich der Tischler Höller noch interessiert aus dem Fenster seiner Werkstatt beugte, sank ein klimatisch induziertes, sehr affektgeladenes Stör- Gewicht (vom Höllengebirgs-Wind veranlaßt) zurück in den offenen Bauch-Raum Corinths, um dort sofort in Auflösung, in ein Hungergefühl überzugehen. Auch ein Blick auf die ins tiefste, ja existenziellste Blau getauchte Mondsichel, gezogen freilich in zartem Gelb, noch im Nordosten über dem Wimpernbogen des Höllengebirges hängend, reine Lichtgravierung im Glast-Dom, erwies sich der rücksichtslosen Härte, insbesondere der eben bei der Berginger Schneise verlassenen Bernhard-Welt gegenüber, als eindeutig befreiend.
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Schon zeigten sich dem zügig marschierenden Corinth die ersten Konturen des Berginger Gehöftes, das ein Vierseiter ist, so wie man sie im oberösterreichischen Innviertel häufig findet. Unten, in der kleinen Mulde, neben dem Berginger Löschteich, befindet sich das zweistöckige Wohnhaus, bewachsen mit wilden Birnen und wildem Wein. Ein grün-braunes Haustor mit weißgefärbelten schmiedeisernen Ornamenten und im Korridor die kühle Nässe des Steinboden, so viel spürte Corinth schon jetzt. Er sah schon das zärtlich angelegte Salettl, in dem er oft geträumt hatte, und dabei Eingemachtes von der Tante Sophie bekommen hat.
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[...] tief eingetaucht in den schweren erotischen Nachmittags-Geruch der Berginger Welt, bemerkte Corinth den Sonnen-Raub auch als eine durch und durch Berginger Angelegenheit, ja als die Berginger Angelegenheit schlechthin, hoch stand die Sonne über dem Landstrich, brennend entfaltet in splirrende Netze der Auslöschung, stahl sie sich alle Sichtbarkeiten und war dennoch Ursache eines tiefen, mystischen Glücks. Stand ihrerseits bereit zur Überschreibung und zum Sehen, was zu sehen ist. Öffne die Augen, meditierte Corinth zu seinem tieferen Gegen-Ich, öffne dein Herz! So gesehen, so gespürt, so notierte Corinth noch an diesem Abend für Benedetti, muß man Bernhard wirklich dankbar sein. Seine Auslöschung ist ja zuletzt auch noch optisches Phänomen. Was er sah, war etwas besonders Mißglücktes, gerade jetzt tauchte Ähnliches, und zwar 100 Schritte hinter dem großen Berginger Wald vor Corinth auf, völlig Verlorenes, einige tiefe Rückfälle in Verschwundenes. Es war, als zeigte sich eine Ikone der Kindheit - ein Bild der kindlichen Existenz des Corinth, als zeigten sich ihm gleichwohl Visionen als wahre und echte Gestaltungen, die er normalerweise aufs rücksichtloseste ignoriert, verächtlich gemacht und als Verrücktheiten angesehen hätte Das Erlebnis des Wind-Rauschens im Berginger Waldes führte ihn ferner, wie an Benedetti sofort zu berichten ist, zum Eisenbirner Schlachtfeld zurück, zum Spiel mit den Zinnsoldaten, zu den Sonntags-Nachmittagen im Garten des Esternberger Hauses, wo die Mutter Märchen vorlas - und wo heißer Tee serviert wurde, und wo - ganz anders als heute - so wie jetzt im Berginger Sommerwind geträumt wurde. Aus einer jetzt noch völlig unauslotbaren Tiefe heraus, zeigte sich Corinth der Weg zum Berginger Hof - noch ganz in der Nähe der Tischlerei Höller - als ein Fall in die Seh-Bereitschaft, in die Annahme des Sichtbaren, in die Wiederentdeckung aller jener mißglückten Landschaften, die in den vergangenen zwanzig jahren verlorengegangen zu sein schienen.
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nahe dem Eisenbirner Schlachtfeld, nahe dem verflossenen Tod, alleine mit der gleichgültigen Sonne, die dennoch blitzte - manchmal zärtlich, manchmal, als wäre sie reine Inkarnation eines Lichtblitzes, Todestreffer in ein sehnsüchtiges Herz, dessen saturnische Melancholien auslöschend.
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So entzündet nun die Sonne das Berginger Gut, durch die Scheune fiel quer ein streng gezeichneter Staubstreifen Lichts und verlieh dem Obstgarten und seinem gelbgrünen Wiesengrund eine merkwürdige Beleuchtung im Sinne des Euklidschen Parallelen-Postulats, die Corinth nunmehr augenblicklich ganz und gar gefangen nahm. Er blieb stehen, der Camera obscura und ihrem Strahlenwurf bis zu einer möglichen Quelle, ja Öffnung hin nachforschend, erfüllt mit ätherischem Heu-Geruch und frischem Geruch nach den einigen wenigen Früh-Äpfeln, die noch in den Gravensteiner-Kronen vergessen waren. Lichtstaub, ein kosmischer Strahl, einfach durch die geschnitzte Holz-Belüftung des Berginger Stadels. Strahlt als gliche sie jener lautlosen Gestalt eines Franziskaners, die Benedetti immer mit größter Aufmerksamkeit verfolgte, wie ein Vogel, oder gar wie eine Echse das geschärfte Auge rollend, rasch - wie Aschenflug - über den Boden huschende Lichtformen fixierend - kurz einem Rauschen nachfühlend, von tiefer Langsamkeit zeugend und eminent in der Pötzlichkeit seiner Erscheinung. Ungeheure Auslöschung, durch das Rosetten-Fenster auf der Nordseite, fahles gelb-blaues Licht. Franziskanische Tiefe. Nicht minder hier ungeheure Auslöschung und Konzentration beim Obstgarten. Oder die Geschichte vom Sonnengesang in der Nähe der Villa Spada, 2 km südöstlich von der Piazza Michelangelo, bereits mitten im Dickicht, ein altes toscanisches Bauerngut, in dessen Dachfirst ein foro gnomonico angebracht war, durch das die Sonne - und zwar genau mittags - auf eine Linie aus Messing, gespannt im Hauptgang, projiziert wird. Die Teilung des elliptischen Sonnenbilds verrät den Augenblick des Mittags, da die Sonne am höchsten steht. Die Berginger Lichtfigur dagegen zeigte Corinth die Rückkehr der erfrischenden Kühle, auch Geräusche der Vorbereitungen für die Stallarbeit waren bereits zu hören. Kühe muhten unruhig. Ängstlich marschierte Corinth jetzt näher, in seltsamer Trauer des Todes des Berginger Großonkels gedenkend, in einer Art Anflug.
Sind nun derartige Anflüge die Quellen der Lobpreisungen des Sonnengesangs? Dieses Rätsel, oft zwischen Benedetti und Corinth dikutiert, blieb und bleibt jetzt in Berging ungelöst. Was hat es auf sich jenes unerhörte Benedetto sia, das jetzt in den Lichtstrahlen spielt - quer durch die Scheune - als wärs eine tanzende Flamme, der lichte Punkt des Nachmittags. Der Herr der Winde und der ätherischen Gerüche.
[...]

Und schon ist die Maschine der Überlegungen angeworfen, neidisch und arrogant, unmittelbare Pracht des Tags, die Stimmen des Sommerwinds zu vertreiben. Eben bereits unmittelbar vor der Milchkammer. Welch prachtvolle Meditation und welche Bedrohungen durch den Stumpfsinn des philosophischen Denkens, jener ewigen Mißglückungs-Bereitschaft. Es sind die Spaltungen, dachte er, also die andere Natur, die Gegen-Natur, die tödliche Unglücks-Natur in ihm aufhebend, die Denk-Natur vertreibend, das Krächzen der Denk-Dämonen vertreibend, reiner Anflug einer Vogelstimme.

[...] reiner Klang, reiner Raum, reine Sonne: Sehe, was zu sehen ist; höre, was zu hören ist. Das steht seit diesem Abend im Tagebuch des Corinth. Etwas macht sich nun - rückblickend - hörbar, so schrieb er dann zuletzt am Abend auch noch in sein Notizbuch, das glücklich macht, schier Unbegreifliches. Alles banale Wissen entlarvende Weisheit, ja sogar bäurische Weisheit, nach Heu und Honighaar riechend. In meinem verpfuschten Handwerk des Lebens macht sich nun, scheints, so in seinem ersten Berginger Brief an Benedetti, ein neuer Meister in zwei Gestalten hörbar, der Sommerwind und das Nachmittags-Vöglein. Steht dahinter das Läuten der Totenglocke, oder der dumpfe Blick des Mesners, der in der Esternberger Leichenhalle die Totenkerze entzündete, als mein Großvater vor Jahren - und dann später mein Bruder Johannes - bleich auf dem Katafalk lagen, fast mit gelblichem Gesicht - ohne Raum- und Zeitfühlung? Verschwunden, nur noch spürbar in einem diffusen und bis zuletzt völlig unentzifferbaren Schmerz? Empörend und überwältigend. Unfaßbar und Genauigkeit des Hörbilds. Nach jenen hundert Schritten über die Berginger Anhöhe hinweg zum Obstgarten, und dann zur Scheune, zeigt sich - oben angekommen - bereits das weite Feld, mit wogendem Korn, mit Brau-Gerste bestellt. Der Blick fiel geradezu hinein, war überrascht von der Fülle des Lebendigen. Schon am Rain, neben dem Berginger Marterl mit dem verwaschenen Bild der heiligen Notburga, begann eine seltsame Verwandlung. So weit ich mich erinnere, war ich gerade dabei, mir die Hose heraufzuziehen, und das Hemd aufzukrempeln, mich also den Gestaltungen der Hitze und des Sommerwinds zu stellen: eine Ortsbestimmung anzustellen, mit der Nase in diese schweren Geruchswelten aus Korn und Kuhmist einzutauchen. Es war mir, als wärs eine Emanation des Mondes, dessen Sichel ja über dem Birken-Hain im Nordosten - festverankert und dennoch zärtlich - spürbar wurde. Trotz der Kälte des Mondes, trotz des kühlen Silberhaars, daß er in den Nächten webt. Jetzt lächelte er und man sieht in der Fluglinie auch die sanft eingewiegten Gehöfte, große Burgen in grünen Hügeln.
Gleichwohl rinnt jetzt auch bei der Milchkammer Schweiß die Stirne herunter, es ist noch immer sehr heiß: Insgesamt tatsächlich lyrisch, denn eine ferne Musik verdichtet sich. Sie war sogar eine zu deutliche Stimme seiner Kindheit, in die er nun wieder zurückkehrte, gleichsam als wäre er ein Meteor, der aus fernen Welten einfährt und zerbirst.
... wirklich eine provokante Lautlosigkeit, die provokanteste Lautlosigkeit schlechthin, durchfuhr es Corinth, ich bin sie nicht gewöhnt und kann daher nicht einfach weghören. Aber man sie nicht einfach auch aufzeichnen, oder gar abbilden. Doch sollte man sich in sie hineinfallen lassen, es ist jetzt Zeit dazu. In der Mitte des Lebens, wo man - aus merkwürdigem Anlaß zurückkehrt - in die mißglückten Landschaften, denen man freilich immer noch angehört. Das wird deutlich, ich werde es mir von jetzt ab merken müssen, daß ich zurückgekehrt bin - und sei'snoch so eine primitive Rückkehr.
Aus dem Rauschen der langsamen, der rücksichtslos langsam gewordenen Welt Undeutliches vernehmend, dachte er noch immer vor sich hin, da zeigte sich plötzlich Frau Fuchs, von der Milchkammer her.