Inka Bach. Geboren 1956 in Berlin (DDR). Lebt in Berlin (D).
Von Fall zu Fall

Susanne fotografierte vom Dach der debis-Zentrale das Baugelände. Klack. Objektiv zurück. Schließen. Klack. Schießen nennt es Max. Werd's nie lernen, mit Handschuhen den Film zu wechseln. Gleich ist die Sonne weg. Weiter. Gut. Klack. Schneller. Ruhig. Jetzt ist's gleich im Kasten. Genug. Hab ich's? Für einen Moment, einen Augenblick anhalten die unruhigen Bilder, die wirren Filme, die wechselnden, flüchtende Farben. Stoppen das Gewusel, Gewimmel. Auf ein Bild bannen. Ein einziges. Ordnen. Baustelle? Stelle? Steht denn hier was? Schneller. Ruhig. Noch einen Schritt vor und... Susanne spürte unter den Schuhen den Dachsims und unter den Schuhspitzen den Abgrund. "Kommen Sie sofort vom Rand weg!" Halts Maul, gleich ist die Sonne weg, hinter dem Betonskelett da - oder Torso? - was sagen die Architekten dazu? Sieht aus wie ein klappriger Saurier. Klack. Morgen ist es zu spät. Sie hörte den Bauleiter die Treppen hochhasten. "Hören Sie, wir haben Ihnen die Erlaubnis gegeben, Fotos zu machen, aber nicht vom 11. Geschoss 'runter zu springen." Aha, elfter. Klack. Steht noch nicht dran. "Wenn Sie nicht sofort zurückgehen, verlassen Sie auf der Stelle das Gelände." So schnell bin ich niemals, wie die hier die Wände fertig hertransportieren und in die Wüste stellen. Also doch Stelle? Die Stelle explodiert. Jeden Tag. Stelle ohne Stillstand. Stelle ohne Stille. Wände von der Stange. Ähneln die Rohbauten nicht Ruinen? Morgen gibt es die Ungeheuer nicht mehr. Schwarz, mit Gespensteraugen, ausgebrannt. Und die Sonne darin, brennendrot. Hab ichs? Morgen ist das verglast, voller Füllsel und Fassaden vorn und hinten. In welchem Zoo haben sie die Braunbären eingeschläfert, weil sie keinen Platz für sie hatten? Hier wär' Platz genug. Mit Braunbären den Platz bevölkern; machen sie sich nicht Sorgen um den zukünftigen toten Raum hier? Bären ohne Raum, Bären an den Potsdamer Platz! Oder Affen, Affen wären auch nicht schlecht. Immer dieser Sog in die Tiefe. Susanne vermied Blicke in Abgründe. Sah zum Glück nicht, wo sie sich befand. War blind. Vor den Augen, über den Abgrund hinweg, die Linse, in die Weite. Ihre Knie zitterten, die Hände nicht. Kalt war ihr. Plötzlich sah sie Feuer, lichterloh. Das Feuer, das sie aus Kindertagen kannte, aus einem immer wiederkehrenden Traum, den ersten, den sie überhaupt erinnerte. Das Feuer von Dresden, das ihre Mutter, nicht sie, erlebt hatte. Von dem sie träumte. Ihr Kindergarten fiel immer wieder vom Rand der Stadt in diese Flammen des Kessels. Susanne fotografierte das Feuer, in das Feuer, schoß hinein und nahm dann endlich die Rollei von den Augen, sah jetzt in die Tiefe, in die Tiefe, taumelte und kippte leicht nach vorn. Zwei Hände rissen sie brutaler als nötig an den Armen zurück. Das Feuer war verschwunden, die Sonne auch. Sie spürte den Geruch des Mannes, Zwiebeln und Schweiß, sein wütendes Durchatmen in ihrem Nacken. Wandte den Kopf. Sie fixierten sich schweigend. Susanne glaubte, der Bauleiter würde sie im nächsten Moment ohrfeigen. "Kommen Sie, ich lad Sie zu 'nem Kaffee ein. Ich muß Ihnen was erzählen." Na prima, Kaffee wär jetzt nicht schlecht, vor allem wieder warm werden. Susanne packte zusammen, ihre Knie zitterten noch. "Und, Sie haben wohl Schiß gehabt?", fragte sie gepreßt; es sollte leichthin klingen. "Ich muß dafür gerade stehen, wenn Ihnen was passiert. Sie haben keine Kinder, oder?" "Nein, warum?" "Sonst würden Sie hier nicht so 'rumturnen. Ich hab' zwei, die wollen mich am Abend noch mit Spinat beschmiern."

Im Bauwagen roch es nach Kippen, aber es war warm. Er reichte ihr den Plastikbecher mit Kaffee. "Vor acht Wochen hat's einen von unseren Arbeitern erwischt. Nicht abgestürzt, wie es Ihnen gefallen hätte, erschlagen, von einer Betonplatte, fünf mal fünf Meter. Wir hatten eine halbe Stunde Unterbrechung. Krankenwagen, Krankenhaus. Nächsten Tag ist er gestorben. 36 Jahre. Wir haben eine Schweigeminute eingelegt. Ich kannte ihn gar nicht. Hab' seinen Namen erst hinterher erfahren. Frank Lockum. Entschuldigen Sie, wenn ich zu heftig war." "Würden Sie mir die Stelle zeigen?"

Sie saßen nun nebeneinander in der Fensteröffnung eines zukünftigen Büroraumes in der 5. Etage der debis-Zentrale. In ihre Rücken fegte der Westwind. Die Baustelle lag im Flutlicht wie auch einst hier die Grenze, Bauarbeiter verloren sich auf dem Gelände, die Bauhöhlen kannten keine Dämmerung. "Wir haben damals die Wände vom 5. Geschoss hingesetzt. Er stand unten neben dem Kran und dirigierte den Kranführer mit der Betonplatte. Sie schwebte über ihm. Plötzlich löste sie sich. Und...er versuchte noch auszuweichen, aber sie war zu groß." "Warum hat sie sich gelöst?" "Wissen wir bis heute nicht. An der Technik kann's nicht gelegen haben. Der Kranführer hatte korrekt eingestellt, und bei der Montage waren genug Leute, die bezeugen, daß alles stimmte. Rätselhaft. Ein tragischer Unfall." Susanne wurde mißtrauisch. "Aber nicht aufgeklärt." Zu schnell und sicher kam dies "ein tragischer Unfall". Verschwieg der Bauleiter etwas, war's Schlendrian, deckte er womöglich einen seiner Arbeiter? Sie sah sich den Vorfall fotografieren, vielleicht hätte sie etwas festhalten können, was die Sache klären könnte, im nachhinein. Oder besser noch, sie hätte die Platte festgehalten mit ihrem Fotoapparat, und sie würde immer noch schweben. Für immer. Ohne je auf Frank Lockum zu stürzen und ihn zu zerquetschen. Mit dem Foto die Platte im Fall aufhalten. Klack. Da hängt sie, da bleibt sie. Wieder erfaßte sie der Sog der Tiefe, aber diesmal überkam sie die Lust, den Mann neben sich hinabstürzen zu sehen. Soll ich ihn 'runterschmeißen? Vorher noch umarmen? Aber da stand der Bauleiter auf, verabschiedete sich knapp.

Erst nur eine schwarze Rose über dem Knöchel; immer mehr Blumen, als Eva langsam mit den Blicken hinaufwanderte, Blumen, keine Drachen oder Totenköpfe, Blumen in Grün, Gelb, Orange, Gebinde über Rücken und Schultern, dehnten, zogen sich zusammen, Körperknospen, Schulterpflanzen; an der linken Brust eine blaue Blume. Verschwand in einem Pullover. Schade, sie hätte gern länger die Gewächse betrachtet. Klein, zierlich, sehr glattes, hennarotes Haar. Vorhin hatte Eva die Tätowierte auf der Straße fast übersehen, unscheinbar, in Jeans, Jeansjacke und mit einer Fotoausrüstung über der Schulter. Im Sportstudio war sie ein roter Wirbelwind, behend, Luftsprünge, Purzelbäume. Eva sah ihr nicht an, ob sie gleich in Wollsocken steigen würde oder in Dessous. War vom nackten schwer auf den sozialen Menschen zu schließen?
Zog wieder die Jeans an, warf Sporttasche und Fotoausrüstung über die Blumenschulter und schritt kraftvoll zum Ausgang. Ein Blick zur Uhr, Eva mußte sich beeilen, ihre Kinder warteten.

Auf dem Parkplatz vor dem Center nur noch drei Autos. An eines gelehnt fotografierte die Rothaarige mit Blitzlicht den nahen Potsdamer Platz. Über die Mauer der chinesischen Botschaft schauten ihr chinesische Kinder zu. "Wo fährst'n hin?" "Wittenbergplatz, hab's aber eilig." "Na prima. Nimmst mich mit? Muß zum Kempinski." "Siehst nicht so aus, als würdest du dort wohnen." "Japanischer Investor." Sie tippte auf die Fototasche, saß schon auf dem Beifahrersitz. "Ich heiß Susanne." "Na dann, ab in Westen!"

Das nächste Glas Rotwein. Wie sie die Gleichgültigkeit der Maschine haßte! Starrte die Trommel an, die unaufhörlich sich drehende. Starrte. Das Gerät blieb stehen. Was war das? Müdigkeit, der Wein? Sie kam zu sich, blinzelte irritiert. Die Waschmaschine lief wieder. Ist man schon betrunken? Eva ging zum Flurspiegel. Ihr müdes Gesicht sah sie an, in den braunen Augen ein seltsamer Glanz, schwarze Strahlen gingen von ihnen aus, eine Glut, die nicht zur Müdigkeit paßte. Kippte das volle Glas Wein hinunter, schaute sich noch einmal in die Augen, seltsame Augen.
Man säuft zu viel, morgens ist man wieder müde. Anne und Ludwig schlafen. Eva löschte das Licht neben den Kinderbetten und erschrak, als sie sich wieder bei Selbstgesprächen ertappte. Man muß mit sich neu beginnen. Aber wie? In ihren Man-Sätzen lag häufig ein Vorwurf, der ihr die Stimmung verdarb. Man geht ins Fitness-Center, das ist alles, was man tut. Wenn man das nicht mehr tut, ist man tot. Wenn Anne und Ludwig nicht wären, würde man sich dann umbringen? Nein, nicht mehr. Auch dafür ist es zu spät. In der Küche wieder ein volles Weinglas. Das wievielte heute Abend? Sie leerte es. Starrte den Wecker an, als könnte er ihr Antwort geben. Würde morgen früh wieder um sieben klingeln. Sie konnte den Blick nicht von ihm lassen, schaute und schaute, ohne auf die Uhrzeit zu achten. Mit einem Mal bewegte sich der Zeiger nicht weiter. Stehengeblieben. Man hätte morgen verschlafen. Sie nahm den Wecker, um ihn aufzuziehen. Er war aufgezogen. Er tickte wieder. Hoffentlich blieb er nicht in der Nacht stehen. Muß man einen neuen kaufen? Alles kostet. Das Geld rann weg. Es muß etwas geschehen. Aber was?

Etwas stimmte nicht. Sie holte ein Spielzeug aus dem Kinderzimmer, den Affen aus Blech auf einem Fahrrad mit Trommel in den Händen. Stellte das Ding auf den Küchentisch, zog es auf. Der Affe radelte und trommelte drauflos. Eva ging in die Hocke, um ihn von Nahem anzusehen, stierte, starrte. Der Affe hielt still. Panisches Lachen. Ist man krank? Vom Teufel besessen? Irre? Der Affe ratterte weiter, sie nahm ihn, schmiß ihn an die Wand.

Auf Zehenspitzen zurück ins Kinderzimmer; sie beugte sich über Anne, die aufgedeckt im Mondschein lag - man wollte doch Vorhänge besorgen!-, sich unruhig hin und her wälzte, im Traum schmatzte. Eva zögerte. Wird man es wirklich wagen? Sah aber zunächst nur lange gebannt auf das weiß leuchtende Kissen neben dem Kopf. Soll man? Der Blick glitt im Zeitlupentempo zum Gesicht. Jetzt starrte Eva fest entschlossen ihre Tochter an. Das Schmatzen hörte auf. Anne bewegte sich nicht mehr. Leblos. Getötet. Tot. Mörderin! Ich hab' sie umgebracht. "Nein!", schrie Eva und riß Anne aus dem Bett hoch, schüttelte sie. Das Mädchen knurrte erstaunt "Mama!" und schlief an Evas Schulter sofort wieder ein.

Richtete man doch keinen ernsthaften Schaden an? So ganz sicher ist man sich nicht. Man wird das weiter beobachten. Sie legte das Mädchen wieder in ihr Bett, deckte es zu. Lief und lief durch die Wohnung, hin und her, auf und ab. Nicht schlecht, nicht schlecht, was man da entdeckt hat. Also, man kann doch etwas! Kann man doch etwas? Ist das etwas? Nützliches? Oder Hexerei, Weiberkram! - wie Kochen? Wird das Geld bringen, Geld einbringen? Eva fand keinen Schlaf. Sie vermied jeden Blick zum Wecker.

Kaltusch stand am Fenster, er stand lange da, sein Zimmer erleuchtet, das einzige im Haus, im ganzen Block. Auch er kann nicht schlafen. Sie drehte sich im Bett um, einige Minuten später zurück, er stand immer noch da. Er rauchte. Er warf die Zigarette in den Hof. Die glimmte kurz durch dunkle Luft. Eva stand auf, ging ans offene Fenster, sah zu Kaltusch hinüber, schloß für den Bruchteil einer Sekunde die Augen; als sie sie wieder öffnete, fiel er, kopfüber, fiel hinunter. Ihre Augen ein Blitz; sie ließ ihn nicht los, starrte hinunter zu dem fallenden Mann im Hof, hielt ihn auf mit ihrem Blick, mit dem Blick; er schwebte zwei Meter über dem Boden. Wenn man ihn nach oben ziehen könnte, wenn doch der Film jetzt rückwärts liefe! Sie starrte, starrte, riß die Augen immer weiter auf, sie begann zu weinen, weil sie die Augen nicht schließen durfte, starrte und hielt es doch nicht länger, nicht mehr länger aus, sie weinte jetzt vor Verzweiflung, weil sie wußte, gleich müßte sie die Augen schließen, begann zu rufen, laut in den Hof, Lichter gingen an, immer mehr, aber niemand war an den Fenstern, noch nicht, jetzt gab sie nach. Vielleicht war es dieser klare, kurze Gedanke, gleich käme jemand ans Fenster und sähe den Mann dort schweben, dieser Gedanke lenkte sie einen Augenblick ab, zu lange, sie schloß die Augen, der Mann nahm den Rest seines Falls, es ging sehr schnell. Der Kopf lag blutend, der Mund war offen, Blut floß aus dem Mund. Eva weinte nicht mehr. Sie hatte ihm die Qual des Falles verlängert, die Sekunden vor dem Aufprall zu Minuten hinausgezögert. "Was hat man getan, ihm angetan! Warum hat man ihn nicht fallen lassen, wie er es wollte? Warum hat man sich eingemischt?" Schrie. Was war mit ihren Augen geschehen! Fenster öffneten sich. Sie wandte sich ab. Es wurde laut im Hof. Sie hielt die Hände vors Gesicht, sie hielt sich die Ohren zu, weil sie weiter schreien mußte, sie sah nicht, daß Anne vor ihr stand. Das verschlafene Mädchen rannte hinaus, kam mit ihrem Bruder zurück, sie rissen an den Armen, rissen an der Mutter, die nicht zur Besinnung kam. Der Blick kehrte zurück, da endlich bemerkte sie die beiden, schüttelte sie ab, lief aus dem Schlafzimmer, die beiden ihr nach. Eva schloß sich im Badezimmer ein, die Kinder vor der Tür riefen. Vor dem Spiegel faßte sie sich. Warum half es, sich selbst zu sehen? Sie öffnete nach einer Weile und sagte gefaßt, ein Mensch sei aus dem Fenster gefallen.

Die Kinder wollten sehen. Zeit verging. Viel Zeit. Endlich die Sirene des Krankenwagens. Der große Raum zur Straße blau. Eva führte die Kinder dorthin, weg vom Hof, von dem blutenden Mann, führte sie ans Fenster zur Straße, bis die Krankenwärter mit der Trage kamen und sie in den Wagen schoben. Sie fing bei dem Anblick wieder an zu weinen, die Kinder blickten sie an, glaubten, zu verstehen. Da war der Krankenwagen schon weg. Sie liefen zurück zum Schlafzimmer; im dunklen Hof konnten sie nichts erkennen, nur wenn man wußte, wo der Mann gelegen hatte, sah man den Blutfleck. Eva nahm ihre beiden Kinder mit in ihr Bett, suchte in der Morgendämmerung ihre Nähe. "Wer war das?" "Der Hausmeister." "Kaltusch?" "Ja." "Ist er tot?" "Ja." Die Kinder gaben sich damit nicht zufrieden. "Mama, warum?" "Ich weiß nicht. Er war ein bißchen krank." "Was hatte er denn?" "Der Kopf." "Stimmt, er redet manchmal mit jemandem, der nicht da ist, aber lustig ist er." Anne gluckste. "War er.", ermahnte sie der Bruder. "Wenn es ihm gut ging, hat er manchmal die Straße noch an der nächsten Ecke gefegt." Sie lachten. Eva starrte an die Decke.

Das ist wie auf Watte gehen, Berlin ist ein Wattebausch, man ist selbst ein Wattebausch, ein Wittebausch, Wittebauch, Wattebauch, Witteberg, nein Berg nicht, Berge gibt es hier nicht am Wittenbergplatz, nur Täler weit oh..., Dampf, Kessel, nichts Buntes, Schaum, Seifenblasen, Schall und Rauch, unwirklich, ein Traum, ein Alptraum, schläft man doch? Nein, man steht mit der Sporttasche über der Schulter auf der Lietzenburger Straße im Novembernebel, trägt Schwarz. Man geht auf ein Dutzend Bräute zu, also träumt man doch, man ist, ohne Bräutigam, in eine Ansammlung von Bräuten geraten, man ist in der Waschküche die einzige Braut in Schwarz, und Brautkleider, Weiß in Weiß, in dem Geschäft an der Ecke. Eva wußte plötzlich, warum sie nicht geheiratet hatte. So etwas steht einem nicht. Alles ist eine Frage des Stils, alles ist Oberfläche, alles Grammatik.

Man wünscht sich seit langem schon, nicht nur Details anzuhalten, sondern alles. Alles, alle Oberflächen, alle Stile. Schlafen. Ausschlafen. Man darf Dornröschen in Schwarz sein und einhundert Jahre schlafen, und die ganze Welt schläft; man wacht erholt auf und hat nichts verpaßt; es darf weitergehen, ausgeschlafen; man braucht auch keinen Prinzen, nur Schlaf, keinen Prinzen, auch er darf schlafen. Vielleicht wird man mit ihm, an seiner Seite, wach werden. Die Angst im Nacken, etwas zu verpassen, durchwacht sie die Nächte seit der Kindheit, deshalb gehört die Erschöpfung zu ihr, wie die Schuhgröße. Will er sie jagen? Soll man rennen? Der Wagen raste auf sie zu. Sie rannte ein bißchen, aber die Sporttasche war zu schwer, es war zu früh und sie zu müde. Warum will man so unausgeschlafen auf die Straße? Sie blieb entschlossen auf der Fahrbahn stehen, sah das ebenso entschlossene Gesicht des Fahrers; in ihrer Wut stemmte sie sich dem Auto entgegen. Mit strafendem Blick. Der Wagen hielt mitten auf der Lietzenburger Straße; der Mann saß ratlos am Steuer rüttelnd. Eva ging zum Bürgersteig, ließ das Fahrzeug dabei nicht aus den Augen. Hinter ihm hupten schon andere Fahrer. Und gleich darauf deren anschwellendes Ochsengebrüll. Jetzt zwinkerte sie den Scheinwerfern zu, und der Wagen fuhr weiter. Verwundert sah der Fahrer Eva lachen und im Rückspiegel die aufgebrachten Autofahrer, blickte noch einmal zu Eva hinüber und fuhr schließlich kopfschüttelnd an den Straßenrand. Eva tanzte ein paar Tangoschritte in die Ansbacher Straße. Der neue Blick, schützt er? Ist man nicht mehr wehrlos Blicken ausgeliefert? Das hatte ihr Spaß gemacht, jetzt war sie wach. War fast schon auf der Höhe vom KaDeWe. Der Mann aber stieg aus und rannte ihr nach. Eva bekam es mit der Angst. Hatte er sie durchschaut? Soll man sich im Kaufhaus verstecken? Nein, er war schneller, sprach sie an. Sie lehnte die Einladung ab, wünschte ihm einen schönen Morgen und gute Weiterfahrt.
Ernsthaft verhindern kann man das nicht, nur hinauszögern, verschieben, das geht. Oder kann man vielleicht doch ein bißchen verändern? Immerhin, das wäre wirklich einmal etwas Neues! Der Tag fing nicht schlecht an. Halb zehn, und doch so dunkel, als würde es nie Tag werden. Wie gut das Wetter zum Baulärm paßt! Autos standen hundert Meter weit vor den Ampeln vom Rosenthaler Platz, die Luft war novemberrauh, stank. Trostlosigkeit. Winterschlaf wäre angesagt, einfach verpennen den ganzen Dreck, wie die Bären und Maulwürfe, die Bärinnen und Maulwürfinnen. Eine alte Frau schlurfte auf die Post zu. Blieb mit Susanne erschrocken vor der Fassade stehen. Aus der miefigen DDR- Post war eine Verkaufshalle mit Post geworden. Schick, aber häßlich. Demnächst mal in die Luft sprengen, die Liste der zu sprengenden Objekte wird immer länger. Es gab Milch auf der Post, Scheuermilch, Bier, Salami und Erdnußflips. Das Ambiente erinnerte an eine Tankstelle. Prickelnd? Lange Schlangen an den drei Postschaltern, Leere bei der Salami. Um das Warten zu überbrücken, sammelte Susanne aus den Regalen Briefumschläge, Hefter, Uhu ein, während sie ihre vollen Tüten zentimeterweise weiterschob. Unter den Wartenden machte sich Unmut breit, es ging nicht voran. Der Schapkaträger vorn, der sowieso gleich drankam, beschwerte sich, daß die Frauen am Schalter nach DDR-Gewohnheit extra langsam arbeiteten, ein anderer Genosse rief, drei Schalter seien zu wenig für solch eine belebte Gegend. Na prima, kriegen ja inzwischen richtig das Maul auf, die Maulwürfe und Wendedemokraten. Susanne sah das Hutzelweib zwischen den Menschen umherirren, suchend. Schüchtern vorn an einem Schalter: "Wo sind denn die Telefone geblieben? Hier waren doch immer welche." Es gibt keine mehr. Ungläubig, unbeweglich. Ganz leise, den Kopf schüttelnd: "Eine Post ohne Telefon? Ich hab' zu Hause keins, und es soll noch Monate dauern, bis ich eins kriege. Es muß doch ein Telefon bei der Post geben!" Gebeugt geht sie fort. Susanne zwang sich zur Ruhe, sie kannte sich und ihre Wut, aber sie ließ die Frau nicht aus den Augen. Als sie auf ihrer Höhe war, schmiß Susanne Briefumschläge, Hefter und Uhu zurück ins Regal, als könnte sie der Frau so ihre Anteilnahme zeigen, doch diese bemerkte das gar nicht. Eine der unterbeschäftigten Verkäuferinnen rief Susanne nach: "Bezahlen Sie die Umschläge bei der Milch!" Unbedingt in die Luft sprengen, das Anwesen.

Wo war das dunkle Nebelgrau? Die Sonne lockte ihre Maulwurfnase aus Mantelkragen und Wollschal. Sein LKW parkte in zweiter Spur. Max wartete im hellen Licht vor der Buchhandlung. Wenn sie ihn in der militanten Aufmachung sah, in der der schmächtige Körper noch schmächtiger wirkte, bekam Susanne jedesmal einen leichten Schrecken. Das jungenhafte Gesicht strahlte ihr entgegen. "Auf der Autobahn is'n Laster mit Ketchup umgekippt," rief er ihr schon über zehn Meter zu. "Na prima!" Mit einem Satz pustet er immer allen Ärger weg. Sie umhalste ihn auf Zehenspitzen, und für einige Sekunden gerieten Büschel blond- und rotgefärbter Haare ineinander. "Und, was wirst du heute für Fotos schießen?" Er nahm ihr eine Einkaufstüte ab und machte Anstalten, sie auf der Straße auszupacken. "Wasserstadt Spandau, auch wieder nur Investitionsruinen, kann sich keiner leisten, die Wohnungen. Demnächst mal in die Luft sprengen. Vorher will ich noch ins Fitness-Studio." Max riß Plastikfolie auf, biß in ein Stück Edamer. "Hunger?" Ihre Frage klang fast zärtlich. "Und wie!" Na, dann laß uns mal wie richtige Leute frühstücken!

War alles nur Zufall? Man muß den Beweis liefern. Sich selbst. Das würde vorläufig genügen. Und noch mit niemand darüber sprechen, mit niemandem. Bevor man nicht den Beweis hat, würde man sie nur auslachen, oder schlimmer noch, einliefern. Kaum muß man auf eigenen Füßen stehen, dreht man durch, fängt an zu spinnen und sieht Gespenster. Soll man zum Augenarzt gehen oder besser gleich zum Psychiater? Nein, man bleibt schön ruhig, lebt weiter so, als wäre nichts geschehen und versucht, möglichst wenig Unheil anzurichten. So zum Spaß, zwischendurch, da darf man dann mal nach dem Beweis suchen. Ganz unauffällig. An der Ecke der Uhlandstraße zwinkerte ihr ein freundlicher Bekannter zu, ein guter alter Freund; seine blauen Rhomben blitzten, reflektierten das Sonnenlicht; sie zwinkerte zurück. Erst jetzt fiel ihr auf, daß die Sonne schien. Die Ampel war noch rot. Ein Haus birgt keine Gefahr, es hält den Blick aus, hält ihm stand, es bewegt sich nicht, wie tröstlich, also kann es auch nicht stehenbleiben. Sie schaute zu ihm hinauf und ruhte ihre Augen an der eleganten Fassade aus. Die Ampel grün, tschüß, Rhombenhaus. Ein Schwulenpaar mit Terrier sah sie verwundert an, gleich darauf drehte sich ein soignierter Herr nach ihr um, am Kempinski eine Asiatin. Was war los? Sahen ihr schon die Leute auf der Straße den Blick an? Nein, jetzt merkte es Eva selbst, man führt im Gehen Selbstgespräche. Sie stellte sich vor die Auslagen eines Schuhgeschäfts. Einen Moment Schutz suchen, zur Besinnung kommen! Jetzt bloß nicht durchdrehen! Es laufen genug Verrückte in Berlin herum, nur jetzt nicht auffallen! Man schaut sich die Schuhe an, das ist etwas Normales, Frauen schauen sich immer gerne Schuhe an.

Krähen durchflogen die Dämmerung über dem Tauentzien. Novembernachmittag. Lichter vom Europacenter, die Reklame schon seit einigen Tagen vorweihnachtlich. Neben dem Aufgang zum Fitness-Center Pullover im Sonderangebot. Ein Bettler fror im gebügelten Hemd, vor sich ein Schild: Benötige Geld für eine Operation. So liegen die Bettlerinnen in den polnischen Städten vor den Passanten auf den Knien. So knien auch die Frauen oben im Sportstudio bei ihren Übungen. Eva grüßte den Wachschutzmann, der die Zeitung fest im Schoß hielt, sein Kofferradio lief neben dem Plastikstuhl; sie wechselte ein paar Worte mit ihm, er sah sie erstaunt an. Das war jedesmal so, wenn sie ins Sportstudio kam. Wenn sie ging, verabschiedete er sie wie eine alte Bekannte. Er würde es auch wieder in zwei Stunden tun. Und doch - war nicht alles anders? Man traut sich nicht, ihm ins Gesicht zu sehen, nicht, die Fahrstuhltür anzusehen, den großen Spiegel der Eingangshalle. In diesem Spiegel alles noch einmal, er und sie, die Fahrstuhltür, das Treppenhaus und sogar ihre Blicke. All das ein doppeltes Risiko. Ihr Blick irrte, flirrte, sprang, während sie sprach und wartete, während sie harmlos tat. Hielt nicht zwei Sekunden still, auch nicht, als sie nur auf ihre Fußspitzen sah. Nicht länger auf den Fahrstuhl warten. Nicht stehen bleiben. Kein Stillstand. Vor Eva ging eine Indianerin in Stiefeln die Treppe hinauf; der kleine, dralle Körper wippte, die langen, sehr glatten Haare machten seltsamerweise die hüpfenden Bewegungen nicht mit. Nicht hinsehen!

Im vierten Stock schwebt die Fitness-Welt über Breitscheidtplatz und Zoologischem Garten. Die neue Gedächtniskirche trägt ihre goldene Waffelkugel und darüber das goldene Kreuz, als wäre auch das Weihnachtsdekoration, der Einkaufsrummel schallgedämpft von oben. Eva gab am Tresen die Chipkarte ab, die in den Computer wanderte, dann in ein Fach, aus dem sie einen Schlüssel für den Umkleidespind bekam.
Die Rothaarige kommt diesmal ein paar Minuten zu spät.
Empfehlungen und Hinweise auf den Tafeln im Umkleideraum, Hausordnung, medizinische und kosmetische Tips. "Kein Schweiß aufs Holz. Handtuch drunter legen."

Auf dem Rücken liegend, sah Eva an der Decke die Passanten vom Tauentzien auf dem Kopf gehen. An der Wand Reklame des Tauentzien in Spiegelschrift. Sie setzte die bekannten Logos automatisch um, Namen von Kameras blitzten auf; sie fragte sich, ob der Blick durch Kameras wohl brannte. Zwei gelbe Kräne nehmen die Gedächtniskirche in die Mitte. An der Frontwand reflektieren entfernt die Reklamelichter der Budapester Straße.

Hintern hoch, Hintern runter, achtmal langsam, achtmal schnell, achtmal oben bleiben, dann wieder langsam, den Lendenwirbel dabei am Boden liegen lassen, den Po zusammenkneifen, dann die linke Pobacke anheben, dann die rechte, immer abwechselnd, wieder beide Pobacken zusammen anheben, achtmal langsam, achtmal schnell, come on Ladies, ihr schafft es! Die Trainerin war aus Kanada. Hopp, hopp, hopp, die letzten Acht, und jetzt noch einmal alles von vorn - die wirklich allerletzten Acht, langsam ablegen, geschafft, entspannen, die Pobacken ausschütteln, tief durchatmen.

Susanne hing kopfüber, mit ausgebreiteten Armen wie der Gekreuzigte, an einem Trainings-Gerät. Diente dem Dehnen der Wirbelsäule, die Bandscheiben wurden so ausgehängt. Den ganzen Fitnessraum von unten überblicken, eben nur alles auf dem Kopf stehend. Langsam drehte sie sich wieder auf die Füße und zog sie aus den Halterungen. Ging zu einem der Fahrräder, die nicht fahren, radelte drauflos.

In zehn Meter Entfernung, auf dem Rad, vor dem Spiegel Susanne, doppelt; Evas Augen blieben an ihr hängen. Nur kurz, aber zu lang. Susanne erstarrte. Für einen Moment, niemand bemerkte es, doch lang genug, um aus dem Tritt zu kommen. Eva blinzelte sofort, erlöste sie. Leicht verwirrt, zwei, drei Sekunden, und Susanne fand den Takt wieder. War verwundert, was mit ihr geschah, stieg vom Rad.

Und da war zwischen Susanne und ihr ein Affe. War durchs offene Fenster hereingesprungen, die Hauswand außen hochgeklettert, Etage für Etage, bis in die vierte, war im Frauenfitness-Center Tauentzien gelandet. Saß jetzt auf dem Rad, auf dem eben noch Susanne erstarrt war, drückte alle Knöpfe am Lenkrad, die den Puls messen und die Intervalle einstellen, sprang im nächsten Moment zwischen den Frauen auf Eva zu, ihr auf den Rücken, hielt ihr die Augen zu. Mit einem Salto zu den Geräten. Susanne lief in den Garderobenraum, holte die Rollei aus dem Spind. Eva versuchte indessen, den Affen mit den Augen aufzuhalten, vergeblich, der sprang so schnell, daß nicht einmal zu erkennen war, ob Weibchen oder Männchen, probierte die Geräte der Reihe nach, mal Kopf unten, mal Kopf oben. Es blitzte. Er hielt inne, entdeckte die Kamera in Susannes Händen - und schnappte sie sich. Nahm sie mit zum nächsten Gerät, fotografierte von dort zurück, fotografierte Susanne. Die staunte. Klack. Und wieder Klack. Blitz. Als drei Männer mit einem Netz hereinstürmten, ihn zu fangen, warf er die Rollei auf den Boden, hielt Eva noch einmal die Augen zu, sprang zurück zum offenen Fenster und wieder hinaus, weiter nach oben, zum Dach, übers Dach, über die Dächer davon. Die Männer empfing nur das Lachen der Frauen.