Jan Lurvink. Geb 1965 in Wallbach, Aargau. Lebt in Basel, CH

Windladen


In den Stockwerken tropfte aus den immerbesetzten Zimmern wie Regen an Fenster das Tongeprassel der Spielerschar durch die Wände. Hinlanger-, Reinblaser-, Loslegertöne. Jeder in seiner Übstatt mochte gerne ein neues Stück draufhaben und seine ganze Kraft dafür hergeben. Das war ein Wirrwarr, ein leises zwar, aber kein Säuseln, eher ein Durch die Wand Stechen, ein Ins Ohr Dringen frecher, leiser Laute. Tonfabrik, Akkordarbeit.
Ich hockte oft entseelt da, wanderte glasigen Auges die Fünflinien entlang und versuchte, die Notenherde in den Griff zu kriegen. Dem Stück war das einerlei. "Wieder einer", dachte es müde, "der sich da an mich schmeisst, der seine hypologischen Gefühlslappen über mich stülpt, dem ich als sein privater Lunapark beim Achterbahn-der-Töne-Fahren ein wohliges Druckgefühl im Magen bescheren soll, der sich in meinem Kabinett der verminderten Akkorde gruselt, der am Artikulationsschiessstand einen Volltreffer bejauchzt."
Eine Geigerin kam selig aus der Unterrichtsstunde, weil ihr der Anfang des Hauptthemas des zweiten Satzes zum ersten Mal gelungen war - Armleuchte, und jetzt?
Dort meldete sich einer ganz wichtig mit einem Mozartkonzert zu Wort - Gratuliere, Freund, du bist der Fünfzehnmillionste! Ein Gastdozent erklärte eine Woche lang, wie er die Chopin-Etüden auffasste - Ein Kolumbusei mehr, das als Klöppel in die ganz grosse Glocke gehängt war.
Wir schimmerten in unseren Abendmüdigkeiten selten silbern auf, denn die Ausklänge unserer Tage waren verstimmt. Wir konnten darin den Misston der vergeblichen Versucherei, es uns selber rechtzumachen, vernehmen und nicht selten den Scharlaton in unserem ganzen Bemühen. Von allen Seiten sprang uns die Ahnung an, dass unsere "höchstpersönliche Interpretation" nur ein Wichtelfurz war, der dem mühsamen Gezwäng entfleuchte, es irgendwie gleichgut oder halt anders zu machen als die Hunderttausend vor, neben und nach uns. Davor mussten wir uns Tag für Tag hinter den Tonleitern in Sicherheit bringen, rauf- und runterjockeln, bis alle dummen Gedanken von uns abfielen. Dem Zweifel schleuderten wir Verbissenheit entgegen, soviel wir aufbringen konnten. Die versorgte uns immerhin mit dem Neid der Kollegen, dem Stolz der Eltern und der Achtung des Publikums. Auch unter uns ging das Gerücht, dass im Schweiss jeder Sockel künftigen Ruhmes seine Feste habe. Dieser "Wille zum Schweiss" war, was uns blieb und uns knapp über die Abende rettete. Die Fleissigsten übten acht oder zehn Stunden am Tag, schliffen Noten ein, spannten Sehnen, kugelten Gelenke bis ihnen die Zähne ausfielen, die Lippen abstarben, der Hals krumm wurde oder die Leiste brach.
Am Ende würden ein paar wenige auf die Podien gelangen, wo sie beim Hinhocken beidhändig die Frackschösse unterm Hintern wegwischen und später beim Verbeugen tun würden, als hätten sie den Beethovenchopinschumannbrahms eben einen recht grossartigen Dienst erwiesen. Die meisten aber würden irgendwo im nächsten Orchestergraben notlanden müssen, um für den Rest ihres Lebens dem Pultnachbarn auf den Wecker zu fallen, oder sie würden unter den falschen Fingersätzen ihrer lustlosen Schüler einen langsamen, qualvollen Tod erleiden.

Die kleinen Friedhofskapellen sind freundliche Räume, hell, von guter Schulzimmergrösse, mit modernem Stuhlwerk und farbig gemalten Figuren an der Wand. Doch kreuzen sich auf ihren Aussenwänden die langen Schatten der Grabsteine, und die Fröhlichkeit macht lange vor den Schwellen Halt. Die Schwermut findet hier eine erste Herberge, für eine halbe Stunde nur, sie ist noch frisch, und ihre Kolleginnen stehen draussen schon an. Es sind Absteigen für den letzten Liebesdienst, fürs letzte kurze Beieinander. Stundenhotels. Verschwiegene Plätzchen, aber nicht stille, nicht lauschige. Die Elektromobile und Rasenmäher der Gärtner sind durch die Mehlglasfenster gut zu hören, und auch den Luftbefeuchter in der hinteren Ecke kümmern Gedenkmomente und stumme Fürbitten wenig, er hat allein die Stimmung der Orgel in seinem Apparatensinn und brummt und gluckst.
Der Verstorbene kann hier nur in einer Urne zugegen sein, im Sarg gehts nicht, da muss er draussen auf vier Rädern warten. Manchmal ist das Gedränge so gross, dass die Stühle nicht reichen, und die Trauergäste an den Wänden entlang stehen müssen. Dann wieder sind es elend kleine Scharen, die kaum die erste Reihe füllen, die aber doch dem Kleinkind gleich, das alles schon hat, alle zehn Finger, beide Ohren, die Hauptsachen auf sich versammeln: das Stillschweigen, das Dummdastehen.
Wenn es Zeit wird, schliesst einer der Abwarte die Tür und nickt mir zu. Er ist ein Hantierer. Auf die vielen Tränen, die er immerzu ausquellen sieht, antwortet er mit Geschäftigkeit, die soll ihn über dem Augenwasser behalten. Kühl und manchmal ungeschlacht stehen er und seine Kollegen den Traurigen zu Diensten, als wären es Schafherden, die es zur Zeit in die Kapellen oder ins Freie zu treiben gilt.
Mir bleibt die Frage, wem ich beistehen soll: den Trauernden, ihrem Schmerz oder dem Trostwort der Kirche, Karfreitag oder Ostern? Man muss sich doch auf eine Seite schlagen. Im Zweifel werde ich für den in der Unterzahl sein und mich hinter den Pfarrer stellen, auf jene Seite, die Ja zum Tod sagt, die für Ostern ist, auf die Seite meines Fürsten auch, der Kirche, der bin ich schliesslich meistens untertan.
Der Pfarrer nimmt meinen Einsatz als Signal. Er tritt aus dem Vorraum und schreitet so würdig, wie die kurze Wegstrecke es erlaubt, ans Lesepult. Von dort aus gibt er zu bedenken, dass jeder eingebunden sei im Kreislauf von Werden und Sterben, dass jede Stunde eine Wunde schlage und die letzte zum Tod führe, dass keiner sich selbst lebe und keiner sich selbst sterbe.
Ich sitze im Rücken der Hinterbliebenen und weiss schon, worauf das hinaus soll, ich kenne den Clou. Wir Menschen dürften in die Liebe Gottes hineinsterben. Bekannt. Diese alte erlesene Quintessenz wird hier wie ein Fusel verschüttet.

Der Zufall wollte, dass meine Wohnung gerade über dem Geschäft eines Bestattungsunternehmens liegen sollte. Die Frau, scheinbar die Chefin des Betriebs und der Ehe, hatte nichts dagegen, dass ich mein Klavier mitbrachte. "Sehen Sie", sagte sie und öffnete die Tür zu einem Raum voller leerer Särge, "Ihre Wohnung liegt genau darüber. Wen wollen Sie hier stören?"
Es kam dann ans Ende meines Bettes zu stehen, braun, unter Staub, Noten in wildem Durcheinander darumherum. Seine edle, vielverheissende Gestalt hatte es mit der Zeit an ein hölzernes "Was solls!" abgetreten. Seine Tastatur aus Schwarz und Weiss rief nicht mehr aus dem wohlgerundeten Deckel heraus, einer möge aus dem Himmelhohen etwas in sie niederschreiben. Ein Wandschrank war es noch, in dem aus Holz und Draht Kleiderbügel baumelten, an die einer zerknitterte Töne hängen konnte, wenn er wollte. Es war, als riegelte sich ein grosser Käfig um sein temperiertes Tastengetön, als wärs ein Klangzoo, durch den man eisleckend oder sonst etwas denkend spazieren konnte, weil alles ja gebändigt war.
Einst hatte es den Trog gebildet, aus dem ich meine gute Nahrung schöpfte, da hatte ich es ihm noch spielend nachsehen können, dass es in seinem Grund ein Geck war, der stolz in alle Stuben schneite und sich als Möbelstück ausgab, der in den Lokalen jedes Schnickschnackvereins seinen Teil zur Geselligkeit beisteuerte und wo immer auch der kleinste Tunke Sangesfreude fleckte, sogleich zugegen war und seinen willenlosen Saitenspann hergab.

Im Hof standen drei grazile Damen auf ihren Piedestalen, farblose Musen. Ein mächtiges Eisengitter hiess Einlass. Ziegelfarbene Pflastersteine waren in lockeren Reihen in den Erdboden gesetzt und gaben jeder Welle, jeder Sohle nach. Man musste die Füsse gut heben, sonst stolperte man und bekam einen feinen Stich ins Herz.
Im Hauptgebäude waren die Übungsräume wie Bienenwaben ganz eng gesetzt. Einsiedeleien, in die sich auch zwei oder zur Not drei einzwängen konnten. In jeder stand honigfarben ein Klavier oder schwarz ein Flügel, auf dessen Hämmerchen wenig Filz geblieben war, da der hungrige Fingerschwarm ganztags anflog. Wann immer kein Unterricht darin abgehalten wurde, gaben sich die Übenden die Tasten in die Hand. Klaviere waren stets gefragt, auch wenn sie klimperten.
Zur Linken lag der Grosse Saal. Er war gelbweiss gestrichen und trug vorne auf seinem Kopf den Prospekt einer Orgel als Krone. Stukkaturen rankten sich an Wänden und Decke, Kronleuchter schindeten von oben herab Eindruck. Lange Abende sass ich in einem seiner dunkelroten Klappsessel und liess die Musik an mir vorbeirauschen, so wie ich auf einer Brücke zuweilen die langen, schmalen Frachtschiffe beim Drunterdurchfahren beobachtete. Meistens kam mir bei den lyrischen Stellen die zierliche Gestalt meiner Geliebten in den Sinn oder bei den kräftigen, dramatischen Tönen meine eigene. So wenig jedoch das Frachtschiff dem auf der Brücke den Gedanken ans Runterspringen eingibt oder austreibt, so wenig hatten diese Regungen ihren Grund in der Musik. Die Musik flösste mir nichts ein, ausser dem Vorwurf, ein Musiker zu sein, den Musik nicht ins Innerste treffe. Die meiste Zeit verwandte ich aufs Überlegen, wie ich es denn nun finden sollte und was ich später dazu würde bemerken können. Kleinigkeiten kamen heraus: "Das Blech hat zu Beginn ein paar Böcke abgeschossen", "Die Tempi waren etwas schleppend". Mein Herz war nicht bei der Sache, eher wie ein Segel vor die Tonsause gespannt, um irgendwohin oder von irgendwas weg zu törnen. Am Schluss der Konzerte liess ich mich auch noch von der unvernünftigen Eile der Manteljäger anstecken, die vorgab, hier wäre eben viel frischer Mut gespendet worden, jedoch wohl eher als Zeichen zu lesen war, wie sehr die Töne an den Gemütern wieder einmal abgeperlt waren.

Winters ist der stete Rauch, der aus dem Dach des Krematoriums fährt, als ein Geflimmere zu sehen, in das ein Geizhals zwischendurch eine Prise Schwarzes mischt. Bei Sommerluft bleibt er ganz unsichtbar. Die Öfen sind eben auf dem neuesten Stand. Vier an der Zahl, immer zwei in Betrieb, während zwei innehalten, gewartet werden, für ein viertel Jahr geschont, dann wechselt die Schicht. Hockende Hunde sinds oder Löwen, aber dunkelgrüne und mit einer Öffnung zwischen den Vorderbeinen, Sphinxe, die an einem Tag zehn Särge verschlucken. Ein Computer lässt die Totenbäume über eine Lafette hineinfahren. Das meiste an Wärme verschickt er dann in die Heizkörper der Kapellen und Büros, so dass das Wohligwarme zum Gutteil aus diesen Öfen kommt, und bei Urnenfeiern also der Tote selbst um das leibliche Wohl seiner Lieben besorgt ist; diese treten in jenes schon verloren geglaubte Körperwärme.
Der Krematoriumarbeiter hat sich seinen Mundschutz übergezogen und zerkleinert mit einem Stössel die zu grossen Knochenteile, damit die Mahlmaschine später nicht verklemmt. Notfalls liest er aus dem Aschezuber die künstlichen Hüftgelenke heraus; klar, dass die sich nicht in den Wind streuen lassen.
Zwischen den Ofenriesen und den modernen Schalterwänden steht unbeholfen sein kleiner Schreibtisch, ein Telefon, ein Bildschirm und eine Tastatur darauf. Am Bildschirm wärs gut abzulesen, doch beäugt er lieber durch eine handfeste Luke von Zeit zu Zeit das Flammenwerk, ob es vorankomme. Wenn er dann aufschaut, hat sich die Hitze wie eine Maske auf sein Gesicht gelegt. Nun muss er Grimassen schneiden, um sie wieder loszuwerden.
"Man darf nicht meinen", erklärt er gern, "dass etwa alle gleich gut brennen. Dicke, an denen etwas dran ist, sind am besten. Die aus den Spitälern aber verbrennen ganz schlecht, wegen der Medikamente. Und auch die Jungen brauchen lang, die sind wie grünes Holz, das raucht ja auch mehr, als dass es brennt." Dass er nach all den Jahren die Kindersärge noch immer schlecht verträgt, gibt er zu. Da bleibe manchmal fast nichts übrig.
Vor dem Feierabend lässt er ein paar Kunststoffkessel auf tannigen Brettern in den Ofen fahren, Abfälle aus der Pathologie, aus den Operationssälen, die später ins Gemeinschaftsgrab kommen. Oben in dem Gang mit den gelben Kacheln und dem Neonlicht stehen die Urnentöpfe in einer Reihe - sein Tagwerk. Die meisten aus Ton, einmal einer aus Holz oder aus Kupfer. Auf angeschnürten Kärtchen stehen von Hand geschrieben die Namen. Gekritzelte Linien, die noch einmal gegen das Vergessenwerden anflackern, Buchstabengezimmer, dem der Insasse entflohen ist, sein Lebenslänglich war vorbei.

Ich setzte mich oft an den Fluss und nahm grosse Schlucke aus Bier- oder Weinflaschen solange, bis ich mich hinlegen musste. An dieser Marke hielt ich Mass, ein massvolles Trinken also. Ich blinzelte dann seitwärts in die Sonnentupfer auf dem Wasser und sah bald darin eine tanzende Engelshorde, muntere kleine Lichtkerlchen, die in weiter Ferne goldfarbenes Glück hochhielten. Daran konnte ich ablesen, wie weit es für mich noch war zum Glück: so weit.
Trunkenheit überflute Sorgen, Alkohol mache vergessen, schon möglich. In meinen Süffen aber war alles verdeutlicht, die Schultern fünffach beladen, doch angenehm, wie fester Knetdruck auf müde Achseln den Verspannungsschmerz verdreifacht und trotzdem alle rufen lässt: Genau dort, fester, nicht aufhören! Betrunken vergass ich keine meiner Sorgen, sie lagen gebündelt bloss und verspannten sich über mein Leben. Der Flaschenhals drückte genau drauf, ja dort, fester! Die Flasche war meine treue Wehverstärkerin, die mir das Herz schier abdrückte, wenn nach geraumen Schlucken die Umrisse meiner Geliebten auftauchten und den Grenzverlauf meines gelobten Landes markierten. Hätte ichs erobert, ich wäre bestimmt auf goldfarbener Barke ohne Sorge durch den Rest meines Lebens geschifft. Den Mund voll Wein, ging mir das Herz über. Was hätte ich darum gegeben, durch die flügelschlagenden Lichtkerlchen hindurch sehen zu können, was sie gerade so trieb! Wäre ich so ein tanzender Engel gewesen, ich hätte sie schauend begleitet und durch mein Wohlwollen vor allem Argen behütet. Abends hätte sie ihre Kleider abgelegt, und ich mich dabei still zur Seite gedreht. Dann wäre ich auf ihrem leise gehenden Atem auf und ab geschaukelt, durch die Nacht, zwischen dem Himmel und ihren Lippen in der Schwebe.

Manchmal trieb sich unten im Kirchenschiff eine Busladung Touristen herum, während ich an der Fantasie eines alten Niederländers operierte und die Hände über alle Klaviere springen liess. Ich hatte wie eine grosse Fussballmannschaft allein zum Training schon das Volk auf den Rängen. Und es lauschte andächtig, auch wenn ich es noch überhaupt nicht konnte. Hin und wieder machte ich den unbekannten Leuten, die ehrfürchtig zu den Pfeifenwänden hochschauten, Geschenke. Ich holte bereits Erarbeitetes hervor, ein Präludium von Buxtehude, eine Toccata von Bach, und liess es sausen und brausen.
In grossen Abständen konnte es sein, dass die Fee Musik für kurz erschien und mir ihre Hand auf die Schulter legte. Die Stimmen einer Fuge verketteten sich, liefen zusammen und wieder auseinander, reichten das Thema weiter, hielten den Kontrapunkt dagegen, erholten sich in lockeren Figuren, jede nach ihrer Natur, in ihrer Lebensbahn und zu ihrem Ende hin. Es waren ausgeatmete, atmende Schlingen, die kein angestrengter Kopf getrimmt hatte, sondern nach den Gesetzen gewachsen waren, die vorschreiben, wie lange ein Fall aus einer bestimmten Höhe dauern, wie gross der Einschlag im Erdboden ausfallen und nach wieviel Zeit Grünes darübergewachsen sein würde. Unter meinen Händen kamen sie alle ins Leben. Ich war ein kleiner Aladin, der ohne zu wollen einen guten Geist gerufen hatte, dessen Reiberei für einmal nicht das übliche Gescheuere blieb, das nichts herausbrachte. Im Unterschied zum Märchen hatte ich, nachdem der Geist einmal aus seiner Tonlampe geschlüpft war, keine weiteren Wünsche mehr. Ich war erbaut und gerührt und tags darauf darum bemüht, den Trick zu wiederholen.
Von neuem kitzelte ich die Töne aus den Tasten und hielt hinter den Bindebögen und Taktwechseln mein inneres Auge sperberig offen, um dem Wesen des Stückes für alle Male auf die Schliche zu kommen. Doch anstelle eines lebendigen, durch die Schrift der Noten hergewunkenen Wunders fuhr mir bloss ein stechender Schmerz in den Rücken und in die Handgelenke. Die Erhabenheit über alle kleinen und grossen Wüstlinge, das Glück, nicht von dieser Welt, also ein edler und weiser Mensch zu sein, die Freude an der einfach zu folgenden Wegspur: untreue Gesellen allesamt, Stieber, Hasenfüsse. Nach zwei Stunden trat ich geschlagen und zerzaust aus dem Kirchenschiff ins Freie.
Ich liess den Kopf in den Nacken fallen und sah die hochgezogenen dünnen Drähte der Stromleitungen wie Notenlinien in den Himmel gezeichnet. Vögel setzten sich als Notenköpfe drauf, es schien, der Zufall komponierte. Aber die Natur selbst war es, die mit ihren gefiederten Kindern aufs stromlinierte Himmelsblatt ihre Musik schrieb. Das klänge nicht harmonisch, dachte ich bei mir, nicht wohlklingend, keine Spur von Dur und Moll, eine grosse Reiberei kriegte man, eine Musik voller Dissonanzen und unaufgelöster Spannungen.
Auch die Töne musste man also ins Harmonische pferchen, mühsam in den Himmel hieven; von selbst blieben auch sie lieber im Erdgekröse stecken.

In den grossen Kapellen steht der Sarg längswegs auf dem absenkbaren Podest in der Mitte des kleinen Chores unter einem schwarzen Tuch, das vorschriftsgemäss verhängt, ob er aus Eiche oder billiger Tanne gezimmert ist. Blumenkränze und -buketts stehen gestaffelt nach Verwandtschafts- und Bekanntschaftsgraden. Nur wenig Licht fällt durch die kleinen mehligen Fenster an der Wand. Oben auf der düsteren Empore füllen sich die Windladen der Orgel, und die Noten- und Pedallichter leuchten wie Stirnlampen an den Helmen im Stollen.
Die "Königin der Instrumente" hier zählt zu den Hochwohlgezimmerten, denen die Herrschaft über ihre Pfeifenhorden flöten gegangen ist, so dass schon ein besonderer Friede ins Reich muss, damit sie für einmal auch aus dem letzten Loch pfeifen.
Spielend finden sich unter den tausend Ventilen ungetreue, denen es beliebt, sich zu verklemmen. Von ihrer Hoheit zeugt gerade noch der Ort. Auf der Empore mimt eine ihrer metallenen Pfeifenreihen die Himmelspforte und blinkt ins Halbdunkel hinunter als ein merkwürdiger Zaun, der wenig verheisst und bei dessen Einpflocken die einmal angesetzte Höhe wieder und wieder, Pfahl um Pfahl, verfehlt wurde. Immerhin nahm man die poliertesten Pfeifen dafür. Müde Herolde, die auf dem Posten sind und glänzen und keineswegs, bloss weil es unten an der Ventilklappe zuweilen ruckelt, gleich ihren Pfeifenmund aufmachen. Sie halten es mit den Traurigen, die unten leisetreten und stillschweigen, die auf die Beschwichtiger und Ja-Sager pfeifen, mit den Hinterbliebenen, die nach drinnen horchen und es ganz mit sich haben.
Diese "Königin" blieb beim Karfreitag. Sie übergeht die Mühe des Spielers, der Auferstehung und Himmelfahrt malen möchte, und erzählt mit ihrer Mixtur aus Ach und Krach halsstarrig von der Passion. Mehr noch, sie verschwistert sich hinter ihrem Holzgehäuse knarrend mit dem Weggerafften unten im Sarg. Ungleich nur, dass sie sich noch von der Luft nährt, die dem Toten schon ausgegangen ist. Wenn am Schluss aber die Registerschleifen unter den Holz- und Metallreihen krachend zurückrücken, wenn der Motor schweigt und das Rolleau sich über die Klaviaturen senkt wie das Lid über das entseelte Auge, dann gibt sich auch das. Die Windladen leeren sich und die Bälge schrumpeln wie ausgeschnaufte Lungenflügel zusammen.