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Kapitel IV Fliegenfischen aus dem Roman "Vom Wasser" Wenn an den ersten Tagen des Frühsommers die ganze Wucht der Sonne auf die taufeuchten Flußufer niederscheint, erhebt sich eine Mannigfaltigkeit von Fliegen, Mücken und Geschmeiß aus der warmen, dunstigen Feuchtigkeit und schwirrt sonnentrunken über den Strom. Träge und taumelnd streift die frischgeschlüpfte Brut das glatte, schwarze Wasser. Und über der Morgenstille des Flusses steigen die Forellen auf, katapultieren sich mit schnalzenden Flossenschlägen aus der Tiefe, um dann wieder einzutauchen in das schwarze Schweigen des Wassers. Flußauf, flußab schnellen sie hoch und schlagen ihre Wasserringe, Wellenkreise, die über die Oberfläche wandern, bis der Strom sie fortträgt auf seinem glatten, breiten, immergleichen Rücken und sie sich seiner Kraft ergeben und aufgehen in Glätte. Während der ersten Sonnentage im Frühsommer brütet ein Fieber über dem Fluß, eine aufreizende Hitze, die das Leben des Wassers an seine Oberfläche lockt. Und über dem Flußlauf verbreitet sich ein fiebernder, verrückter Rhythmus von schnalzenden, peitschenden, klatschenden Schlägen, der es dem Auge unmöglich macht, dem Ohr zu folgen, so verwirrend vielfältig erhebt sich die Lebendigkeit des Wassers über den Silberspiegel des Stroms und schlägt den zuckenden, fiebernden Rhythmus der Jagd. Der Krüppel saß in dem holzgetäfelten Büro seiner Fabrikantenväter und schaute aus dem Fenster auf den vor seinen Augen entstehenden Tag. Die Sonne drang kraftvoll durch den Morgennebel, der wolkig und weiß aus dem Wasser stieg, eine Weile in den Uferböschungen hing und sich dann über die Wiesen und Felder verzog wie eine Spur des Schweigens aus dem lautlos dahingleitenden Wasser. Doch sogar durch die Glasscheiben seines Büros konnte er es hören, das Schnalzen der Schwanzflossen über dem Wasser, das Steigen, Anschlagen und Eintauchen der Forellen im Fluß. Hinkend umkreiste er den Schreibtisch, machte Anstalten, sich zu setzen und sein steifes Bein langsam unter die Tischplatte zu schieben, als ihn der Widerwille überwältigte, er die Geschäftsbücher zuschlug und sich in einen Sessel an der Wand gegenüber dem Schreibtisch warf. Er sah sich hinter diesem Schreibtisch sitzen, so wie die Besucher seines Büros ihn sehen mußten, im Hintergrund die Ölgemälde seines Vaters und Großvaters. Und er sah sein Bild in ihrer Reihe: das Selbstporträt seines Zorns, der über die Fabrik herrschte, unerbittlicher als seine Väter, die ihn so lange verstoßen hatten, bis der Krieg seine beiden gesunden Brüder abzog. Auch nach Jahren haftete den Korkgriffen der Angelruten noch ein leichter, seidiger Forellengeruch an. Nach keinem Fang ließen sich die Hände ganz und gar waschen. Immer blieb ein feuchter, forellenfrischer Hauch zurück, der eingesogen wurde von dem porigen, griffigen Kork. Es ist dieser silbrige, seidige Fischgeruch, den er aufspürt wie eine Erinnerung, während er seine Fliegenrute rüstet, deren Biegsamkeit prüft und sich den Riemen des bastgeflochtenen Umhängekorbs über die schiefen Schultern zieht, der nichts enthält als eben diesen silbrigen, seidigen Forellengeruch, den unzählige Fänge allen Waschungen zum Trotz darin hinterlassen haben. Und dieser Geruch begleitet ihn, als er aus der Fabrikantenvilla hinaustritt in die von seichten Nebeln durchzogene Morgendämmerung. Sie ist eine Flucht, diese Jagd, und er versucht gar nicht erst, dies zu verbergen, während er hastig und gehetzt mit seinen schweren Anglerstiefeln durch die taufeuchten Wiesen watet. Diese Jagd ist eine Flucht, und er humpelt und hinkt auf sein Ziel zu wie ein Flüchtiger durch das nasse, hüfthohe Gras, das er mit seinem steifen Bein pflügt und niederknickt, eine Schleifspur hinterlassend in dem sonst so unberührten taufunkelnden Meer von Gras. Und so sehr ihn das Wasser zum Jäger werden läßt, dieser silbrig seidige Fischgeruch, so sehr ist er auch der Gejagte. Keuchend und völlig außer Atem erreicht er die Uferböschung. Ein Zittern der Erregung oder des Entronnenseins geht durch seine Hände, die er im nassen Gras befeuchtet, mit denen er den kühlen, tropfenden Tau einfängt und sich ins Gesicht reibt, auf die heiße Haut, auf die pochenden Schläfen, Tau wie der frische, schattenhafte Schlaf, der ihm abhanden gekommen ist. Und er schaut auf den in der Morgenstille dahingleitenden Fluß, der das frühe Licht, die aufdämmernden Farben schluckt und schweigend fortträgt, tiefschwarz und blind, hinein in die Gespinste des aufsteigenden Nebels. Wie oft hatte er auf dieses Wasser gestarrt, wie lange gewartet auf den Abhub der Farben, gewartet darauf, daß es sein Geheimnis preisgab, die Formel seines Glanzes, dieser feinen, veränderlichen Spiegelfläche aus Strömung und Licht, die seine unbeschreibliche, entgleitende Haut war. Doch jetzt gab es für ihn kein Verweilen mehr, kein Warten auf den Augenblick des rechten Lichts, jetzt gab es für ihn nur noch eine einzige Art und Weise, dem Wasser nahezusein, indem er sich anstecken ließ von den Lockungen seiner schwirrenden und sirrenden Oberfläche und dem fiebernden, zuckenden Rhythmus der Jagd. Und so scherte er sich nicht mehr um den Abhub der Farben, um die wechselvolle Wiedergabe des Lichts auf dem Spiegelfilm des Wassers und um die Färbungen des feinen Dunstes, wenn er aufstieg und das Licht fing. Er scherte sich nicht darum, all diese ungemalten Bilder festzuhalten, sondern ließ sie dahintreiben im schwarzen Strom der Orpe. Er ließ sie los, ließ sie fahren dahin und folgte einzig und allein dem gefiederten Haken, seinen schwirrenden Schwüngen durch die Luft, den offenen Kreisbewegungen und Ovalen der Schnur, die immer weitläufiger und kunstvoller in der Luft schwang, bis sie sich lautlos auf das Wasser legte und die Schlangenlinien des Stroms wie eine Art willkürlicher Lebendigkeit auf die künstliche Fliege übertrug, die gespreizt und gefettet am Ende eines unsichtbaren Vorfachs schwamm und dem glatten Silberfilm des Wassers einen Mittelpunkt gab. Er ließ die breitgefiederte Fliege bis in den Dunst des Frühnebels hinabtreiben, holte die tropfende, triefende Schnur dann mit einem Schwung aus dem Wasser, ließ sie in weiten Bögen über seinem Kopf kreisen und warf sie stromaufwärts wieder aus, kaum einen halben Meter vom Rand des gegenüberliegenden Ufers entfernt. Der gefiederte Haken setzte lotrecht auf und breitete seinen gefetten Fächer auf dem silbrigen Wasser aus. Er taumelte vorbei an tief hinabhängenden Sträuchern, in deren fransigen und flatterhaften Schatten die Forellen gerne standen, vorbei an aufragenden Steinen, aus deren Klüften oftmals die allergrößten Fische aufstiegen, vorbei an ins Wasser geneigten Gräsern und Grasbüscheln, um die sich zuweilen Schwärme von Eintagsfliegen und kleinen Mücken sammelten, die bevorzugte Beute jüngerer und mittelgroßer Bachforellen. Doch nichts geschah. Der oszillierende Silberfilm um den gefiederten, breitgefächerten Haken blieb unberührt. Die Fliege torkelte und trudelte, von den sich schlängelnden Stromschlaufen der schwimmenden Schnur leicht hin und her geneigt, flußabwärts. Ein kleiner Strudel tat sich gurgelnd in ihrer Nähe auf, dort, wo ein unter Wasser dümpelnder Ast auf und nieder wogte und kleine Wirbel an die Oberfläche trieb. Sonst tat sich nichts auf ihrer Bahn bis hinunter in den schwimmenden, schimmernd weißen Morgennebel. Der Krüppel war der dahintreibenden Fliege mit zusammengekniffenen Augen gefolgt. Jetzt, wo sie in den Dunst geriet und nicht mehr war als ein kleiner, schwarzer Punkt auf der glanzlosen, schummerigen Oberfläche, verlor er sie für einen Moment aus dem Blick. Er setzte zu einem neuen Wurf an, schaute kurz hinter sich, um Bahn und Bogen der zurückschnellenden Schnur abzuschätzen, und wollte die Angel gerade mit vollem Schwung einholen, als es einen heftigen Schlag gab. Die Rute bog sich, der Puls der Schnur zeterte. Dann wurde mit einer gewaltigen Kraft und Schnelligkeit Schnur von der Fliegenrolle gerissen. Schwere, Wasser umwälzende Schläge waren zu hören, aber der Krüppel konnte nicht erkennen, wo genau sich die Forelle befand, die den stechenden Schmerz des angeschlagenen Hakens spürte und den sich widersetzenden Zug der Schnur auf ihrem Weg zurück in die Tiefe. Er konnte nicht erkennen, ob sie wieder aufsteigen würde, um sich mit wilden Sprüngen den Haken aus dem Maul zu reißen, oder ob sie mit aller Macht nach unten zog, um zwischen ragenden Steinen und Geäst die Schnur aufzureiben, sie zu verwickeln und ihren Puls damit zum Stillstand zu bringen. Er konnte sich nur auf sein Gefühl verlassen und soviel Schnur geben wie gerade nötig, damit das vom Todeskampf vervielfachte Gewicht des Fisches sie nicht zerriß. Und er konnte sich nur leise zwischen zusammengebissenen Zähnen verfluchen für seine Unachtsamkeit. Nie kam der Biß, wenn er damit rechnete. Die gespannte Erwartung lief jedesmal ins Leere, verlor sich in vom Wasser vorgespiegelten Träumen, und immer, wenn das Wasser seine Aufmerksamkeit sanft davongetragen hatte, immer dann riß ihn der Schlag des Fisches aus seinem leeren, wassergleich dahingleitenden Traum, und ein Schrecken fuhr durch seinen ganzen Körper. Und das war der Kampf: Der Schrecken, der jede Überlegung ausgelöscht hatte, machte sie für einen Augenblick einander gleich, brachte Reflex gegen Reflex, Instinkt gegen Instinkt auf. Und immer war es der Fisch, der sich entschied, wann er den Köder nahm und der gespreizten Fliege solange folgte, bis der ebenmäßige Spiegel des Wassers das Auge des Anglers mit Schemen aus Licht und Schatten umspielte und seine Aufmerksamkeit allmählich entführte in das Zwischenreich von Schauen und Fließen, in die Versunkenheit von Strom und Traum. Erst, wenn die torkelnde und taumelnde Fliege jeder Erwartung entglitten war, wenn sie ihr von schlangenhaften Stromschlaufen bewegtes Eigenleben führte, ganz für sich allein, dann erst stieg er auf, sprang und verbiss sich wütend in den Schmerz des anschlagenden Hakens, während die Schnur straffzog und der aus seinem Wassertraum aufgeschreckte Angler den Instinkt des Überlebens mit dem Instinkt des Tötens beantwortete. Die junge Küchenaushilfe war wie immer die erste in der geräumigen Küche, die sie mit einem Stoß von Holzscheiten im Arm betrat. Sie schichtete das Feuerholz auf, entzündete den Span und blies die blaßblauen Flammen an, die über das trockene Holz huschten und alsbald selber Luft zogen. Über einem der beiden Spülsteine an der Fensterseite der Küche wusch sie sich die Hände und schaute hinaus in den nebelverhangenen Morgen. Es machte sie froh, daß jemand daran gedacht hatte, die Spülsteine so anzubringen, daß man einen Blick aus dem Fenster hatte, eine Aussicht auf den Gemüsegarten und die wilden Obstbäume dahinter, die über die bleichen Wiesen verstreut waren, wo sie sich einsam und merkwürdig verwachsen einer nach dem anderen umzudrehen schienen, während sich die vielarmigen Äste um ihre Früchte krümmten. Vom Spülstein links konnte man bis hinunter zum Fluß sehen, dorthin, wo seit wenigen Wochen neben Kirschen und Pflaumen die Baracken standen, in denen die Kriegsgefangenen untergebracht waren, für die sie täglich Eintopf kochte. Sie hatte sie nie aus der Nähe gesehen, ihre fremdländischen Kostgänger. Doch jeden Tag gegen halb eins, wenn die Werksirene zum Ende der Mittagspause aufheulte, brachten die Wächter den riesigen Kübel zurück, in den sie den Eintopf gerührt hatte, und jedesmal war dieser Kübel vollständig leer. Deswegen hatte sie sich angewöhnt, beim morgendlichen Gang durch die angrenzende Speisekammer nach fälligem oder gar überfälligem Gemüse, nach leicht stichigem Quark oder sich verfärbendem Fleisch Ausschau zu halten, um ihrem Eintopf guten Gewissens mehr Gehalt zu geben. Sie mochte die Speisekammer. Sie mochte den Geruch von hängendem Speck, von Würsten und Geflügel, und die trockenen Prisen verschiedener Mehlsorten und Gewürze, die beim Gang durch die Regale aufstaubten und Niesreiz verbreitend in der Luft hingen. Und sie mochte die überraschende Frische der neuen Lieferungen, ob es ein Sack Zwiebeln war mit seinem würzigen, ätzend süßlichen Geruch oder das Aroma frischer Tomaten, Erbsen, Bohnen, das plötzlich Oberhand gewann. Immer gab es eine Veränderung, eine neue Nuance, so als würden die lagernden Nahrungsmittel ein geheimes, wechselvolles Eigenleben führen, dem man nur auf die Spur kam, wenn man die Gerüche des Vortags akkurat mit denen von heute verglich. Und manchmal war es nicht mehr als das leichte Überhandnehmen eines Eigengeruchs, seine etwas zu aufdringliche Deutlichkeit, die anzeigte, daß die Vorräte von Fäulnis und ihrer nassen, sickernden Süße bedroht wurden, die sich schal und unerträglich schwülstig über die gesamte Kammer ausbreiten würde, wenn man sie nicht frühzeitig erkannte. Und für diesen Geruch der Überreife und Verderblichkeit war sie besonders empfänglich, jetzt, da sie den Eintopf für die französischen Gefangenen zu kochen hatte, denen sie gerne etwas Gutes hineintat, bevor es ganz verkam. Sie drehte den Wasserhahn zu und wischte sich die Hände mit einem groben Lappen trocken, im Gedanken schon unterwegs auf ihrem Streifzug durch die Speisekammer und deren verfallsträchtige Schätze, als sie stutzte. Es war, als hätte sich eines der knorrigen Obstbäumchen in Bewegung gesetzt und käme schnurstracks durch den Morgennebel auf sie zu. Immer deutlicher tauchte diese gekrümmte Gestalt auf, die merkwürdig schaukelte und schwankte. Doch es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie begriff, daß es der Herr Fabrikdirektor sein mußte, der da über die Wiesen auf sie zukam. Sie hatte von ihm bisher mehr gehört als gesehen. Sie hatte gehört von seinem Zorn, von seiner Reizbarkeit, die ihn unberechenbar machte, davon, daß er seinen Stock zerschlug, wenn ihn die Wut packte, und sie hatte die ehrfurchtsvolle, ängstliche Stille vernommen, die sich ausbreitete, wo immer er war. Warum hatte ihr niemand gesagt, daß er fischen ging in aller Herrgottsfrühe? Unbeholfen stapfte er über die nebelumschleierten Wiesen, und fast hatte es den Anschein, als würde er ihr winken - oder war das nur die Angelrute, die im wogenden Takt seiner Schritte auf und nieder wippte, so daß sie aussah wie ein aus seinem Rücken hinauswachsender, weithin winkender dritter Arm. Sie war sich nicht sicher, ob er sie am Fenster sehen konnte, doch sie wagte es nicht, ihm den Rücken zuzukehren und in der Speisekammer zu verschwinden, wo die wechselvolle Welt der Gerüche auf sie wartete. Und obwohl sie mittlerweile deutlich erkennen konnte, daß es sich bei dem aus seinem Rücken herauswachsenden Arm um eine Angel handelte, wurde sie das Gefühl nicht los, daß er ihr zuwinkte, und dieses Gefühl bannte sie an Ort und Stelle fest, auch dann noch, als er bereits unter dem Fenstersims verschwunden war. Sie beschloß, den Gang in die Speisekammer vorerst aufzuschieben und stattdessen das Frühstück vorzubereiten, schob die breiten Tabletts auf den gemaserten Holztisch in der Mitte der Küche, zog eine seiner tiefen, bauchigen Schubladen auf und zählte die blaßsilbernen Bestecke ab, die gut in der Hand lagen. Dabei schaute sie immer wieder zur Küchentür. Niemand kam. Auch nicht das Dienstmädchen, dem sie beim Zubereiten des Frühstücks zur Hand gehen sollte. Inzwischen hatte der Ofen die richtige Hitze, um das Wasser für den Kaffee aufzusetzen, dessen genaue Dosierung nur das Dienstmädchen kannte, das schon länger im Hause war. Es machte gewöhnlich viel Aufhebens darum, bis es endlich die dampfende Kanne hinaustrug und den Herrschaften servierte. Frisch gemahlen mußte er sein, zweifach und fein, dann die richtige Häufung pro Löffel, eine Prise Salz und vor allem erst im allerletzten Moment mit siedendem Wasser aufgießen, denn nur wirklich heißer Kaffee hat das volle Aroma, daher war der richtige Zeitpunkt so wichtig, wie das Dienstmädchen zu sagen pflegte, das heute zu spät kam und den richtigen Zeitpunkt offenbar verschlafen hatte, so daß an ihrer Stelle die Küchenaushilfe den Kessel auf die glühend heiße Herdplatte schob, auf der kleine Wasserperlen verzischten. Die Küchentür hatte sich lautlos geöffnet. Sie spürte einen Luftzug im Nacken und drehte sich blitzartig um. Es war nicht das kaffeekundige Dienstmädchen, es war der Herr Fabrikdirektor, der ihr von weither zugewinkt hatte und der nun in Strümpfen vor ihr stand. Er mußte durch den Dienstboteneingang ins Haus gekommen sein und seine Stiefel unten im Keller abgestellt haben, um sich dann leise die Kellertreppe hinaufzuschleichen. Jetzt lappten seine feuchten Socken über den marmorierten Steinboden der Küche und hinterließen glänzende Fußabdrücke. Daß er sich so erkälten würde, wollte die Küchenaushilfe einwenden, aber dann besann sie sich, mit wem sie es zu tun hatte, und schluckte ihren Einwand hinunter. Er neigte seinen ganz und gar kahlen Schädel ein wenig zur Seite und schaute sich verwundert in der Küche um, als hätte er sie noch nie in seinem Leben betreten. Dann lächelte er verschmitzt, und ihr fiel auf, daß sogar sein Lächeln schief war und der abfallenden Linie seiner massigen Schultern folgte. Sie versuchte, in seinem schelmenhaft schräggelegten Gesicht zu lesen, was er wolle, vielmehr wünsche, ohne daß sie zu fragen gewagt hätte. Doch er hatte es mit einer Erklärung nicht eilig, im Gegenteil, es schien ihm nachgerade Spaß zu machen, hier in der Küchentür müßig herumzustehen und Fußabdrücke zu verbreiten, dem einzigen Ort des Hauses, wo er partout nichts zu suchen hatte, und schon gar nicht in feuchten Socken. Also gab sie es auf, weiter nach einer Antwort in seinem Gesicht zu suchen, das keinen Anflug von Zorn verriet, sondern eher groß, ja, großzügig wirkte und blank wie ein Mond bis auf das verschmitzte, schiefe Lächeln seiner Lippen. Und sie entdeckte zu ihrer Bestürzung, daß sie zurücklächelte, daß sie schon eine ganze Weile unverhohlen zurückgelächelt haben mußte, als wäre er nur zum Scherzen hier, zu ihrer ganz persönlichen Belustigung. Sofort schlug sie die Augen nieder und fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß. Sie nickte einen stummen, blicklosen Gruß, wohlwissend, daß jedes Wort, jede Höflichkeit jetzt zu spät kam. Das Silberbesteck fiel ihr ein, das sie nach wie vor in der Hand hielt, und mit einer hastigen Bewegung, so als wäre es auf einmal glühend heiß geworden, legte sie es aufs Tablett. Dann sprach er, und sie hörte, ohne ihn anzuschauen, aufmerksam zu. Er hatte eine sehr junge, ungeübte, gewissermaßen unbenutzte Stimme. Sie horchte hinein in jede Silbe, die er sagte, aber sie fand keinerlei Zorn darin, keinen gepreßten Ton, der die Worte scharf machte und schneidend. Was sie hörte, war vielmehr ganz leise und vorsichtig gesagt, mit einer Behutsamkeit oder Furcht, die nichts zerbrechen wollte, so als könnte alles Glas und Kristall im Raum zerspringen, wenn er die Stimme hob. Dann hielt er ihr seinen Bastkorb hin, in dem drei stattliche, in Huflattichblätter gewickelte Bachforellen lagen. Er schwieg jetzt und grinste, während sie sich näher über den Korb beugte, hinunter in den forellenfrischen Flußgeruch, der ihr entgegenstieg. Die geschmeidige, regenbogenfarbene Schuppenhaut der Bachforellen glänzte silbrig und makellos. Sie war gesprenkelt mit rotbraunen und schwarzen Punkten. Wie Sommersprossen verteilten sie sich entlang der geschwungenen Stromlinie, die von den Kiemen bis zur Schwanzflosse lief. Ein pailettenhafter, rosa Schimmer lag über den üppigen, satten und leblosen Körpern, von denen sie sagen wollte, es sei einer größer als der andere, weil die Fische genau so nebeneinander lagen, als sollte man von ihnen sagen, daß einer größer als der andere sei, aber sie sagte es nicht, sondern schaute langsam auf und erwiderte sein schiefes Lächeln, erwiderte es ganz ohne Furcht und antwortete ihm damit. Dann packte sie die Fische, einen nach dem anderen, sicher und geschickt mit einem geübten Griff unmittelbar unter den Kiemen, trug sie zum Spülstein links neben dem Fenster und schlitzte ihnen mit einem Küchenmesser den Bauch auf. Die scharfe Klinge stach widerstandslos in den weichen, weißen Unterbauch und zog eine Bahn, fein wie eine Kleidernaht, hinauf zu den Kiemen. Dann legte sie das Messer zur Seite, griff mit der Hand in den aufklaffenden Schlitz und zerrte die zottigen Eingeweide heraus, das hautfarbene Gewebe des Darms, den mit Fliegen, Mücken und grünlichem Saft gefüllten Magen und das fingernagelgroße Herz, diesen unglaublich zähen Muskel. Sie nahm diese knappe Handvoll Innereien bis hin zur sehnigen Speiseröhre und riß sie kurz vor dem Kiemenansatz ab. Mit dem Messer fuhr sie dann unter das seidige Häutchen der Schwimmblase, hob es mit der Klingenfläche an und durchtrennte es mit einem Schnitt. Das schwarze, gallertartige Blut, das in den Kerbungen der Wirbelsäule gerann, löste sie mit dem Daumennagel aus der Furche zwischen den feinen, biegsamen Rippen, auf denen das feste, lachsfarbene Fleisch saß. Unter einem sprudelnden Strahl klaren Wassers wusch sie die lappenden Seiten des Fisches aus, bis keine Spur der bitterschmeckenden, schwarzen Blutgerinnsel mehr zu sehen war auf dem von federnden, schneeweißen Bauchgräten durchzogenen Fleisch. Ihre flinken Finger brauchten nicht mehr als eine halbe Minute, um den Fisch vollständig auszuweiden. Doch als sie sich umdrehte, um das Lächeln des Mannes in der Tür wieder aufzunehmen, kam das unausgeschlafene und übellaunige Dienstmädchen herein, nörgelte eine Begrüßung vor sich hin und ruckte den dampfenden Wasserkessel von der Herdplatte. Ihr Besuch war so lautlos verschwunden, wie er gekommen war. Die Küchenaushilfe ließ ihr Lächeln fallen, kehrte dem Dienstmädchen den Rücken, das am Herd nuschelnd mit seinem Kaffeeritual begann, und nahm sich wortlos die nächste Forelle vor, die naß und glänzend mit angelegten Bauch- und Rückenflossen auf dem weißgrauen Spülstein lag. Sie mußte an Zuhause denken und daran, daß sie früher jeden Freitag gemeinsam mit ihrer Mutter Fisch zubereitet hatte. Wohltuend war die Vertrautheit der Griffe und Schnitte, an die sich ihre Finger mühelos erinnerten. Sie hatte nichts verlernt, und sie freute sich, endlich einmal wieder für jemanden zu kochen, den sie zu Gesicht bekam, für sein jungenhaftes Lächeln auf den schiefen Lippen, dieses schräge, schelmische Lächeln, das sie unwillkürlich nachzuschneiden versuchte, bis sie selbst darüber lächeln mußte, während der Strahl des sprudelnden Wassers auf das straffe Bauchfleisch der ausgenommen Fische prasselte und mit feinen, staubartigen Tropfen ihr Gesicht benetzte. Sie hatte dem Dienstmädchen kaum zugehört, das hinter ihrem Rücken daherredete, ohne daß klar wurde, ob es nun mit sich selbst sprach oder mit ihr. Doch inzwischen hatte auch das Dienstmädchen die Spur des silbrigen, seidigen Forellengeruchs aufgenommmen und plauderte aus, was die Geschichte des Fisches in diesem Hause war. Die Küchenaushilfe horchte auf, das nicht abzuschüttelnde Lächeln noch immer im Gesicht. Sie hoffte inständig, das Dienstmädchen möge die Geschichte des Fisches nicht wie alles sonst vernuscheln, so daß man sich mehr ärgerte als irgendetwas zu verstehen. Vorsichtig drehte sie den Wasserhahn ab, tat die Fische auf die Seite und wischte langsam und lautlos den Spülstein sauber. Fisch. Fischreich waren die Flüsse der Orpe und Diemel. Forellen, Äschen, Aale auch, aber vor allem Forellen. Es wimmelte nur so von Forellen. Die Diemel wanderten sie hinauf, von einer Wasserterrasse zur andern, hinten, am Diemelwehr konnte man sie die Forellenleitern hochsteigen sehen, wie sie von Becken zu Becken sprangen, gegen den Lauf des hinabsprudelnden Wassers. Ja, die Diemel wanderten sie hinauf, und in der Orpe standen sie. In der Orpe versteckten sie sich, tief unten im schwarzen Wasser. An den schattigen Rändern lauerten sie auf Beute, in den Ausbuchtungen, unter den Böschungen, ließen das schwarze Wasser an sich vorbei strömen, fächelten gelangweilt mit den Flossen und wußten sich in Deckung. Biester. Die Küchenaushilfe spülte die zusammengewischten Schleimfäden und Blutplacken in den Ausguß und ließ Wasser nachlaufen. Dann nahm sie die alte, leicht zerknautschte Zitrone, die neben dem Spülstein lag, preßte sie einmal mehr mit der Faust und wusch sich mit dem säuerlichen Saft die Hände unter dem Wasserhahn. Sie roch kurz an ihren wasserkühlen Fingern, bevor sie sie trocken wedelte. Es blieb dieser silbrig seidige Forellengeruch, der durch ihr Gedächtnis ging wie der Gedanke an Zuhause, an die gemeinsamen Freitage und an den zitronigen Geschmack des feinen, festen Fleisches. Gräten, fuhr das Dienstmädchen jetzt fort, im Halse querstehende Gräten. Haargräten, die sich um das Gaumenzäpfchen schlangen und es bis zur Überreizung kitzelten. Bruchgräten, die im Magen stachen. Zwillingsgräten, die wie Gabelzacken die Speiseröhre entlang schabten. Eine ganze Grätenmannigfaltigkeit mit den entsprechend vielfältigen Varianten ihres Verschluckens. Und, wohlgemerkt, die Notwendigkeit von Kartoffelbrei oder gaumenweichen Dampfkartoffeln oder äußerstenfalls Kartoffelkroketten, aber Kartoffeln unbedingt, um jeden Preis. Denn Kartoffeln stopfen wie kein zweites Gemüse und sind in ausreichender Menge geeignet, beinahe jede der lebensgefährlichen Grätenabarten durch ihre breiige Beschaffenheit unschädlich zu machen. Nicht so wohltuend seien entgegen landläufigen Vorurteilen Wein oder Wasser. Weit gefehlt. Es sei ein nicht auszurottender Irrglaube, daß der Fisch im Magen schwimmen müsse. Gerade damit gebe man dem bösartigen Grätensammelsurium, das letztlich in jedem Fische steckt, willkommene Gelegenheit zu pieksen und zu stechen und die Magenwände zu malträtieren. Daher trinkt der wahre Kenner des Fischs und seiner Gräten nichts oder, an heißen Tagen, allenfalls mit Milch aufgerühten Kartoffelbrei. Schließlich sind Gräten beim Fisch nach innen, was die Stacheln des Igels nach außen sind, ein naturgegebener Abwehrmechanismus, der ihn im Grunde ungenießbar macht, weshalb der wahre Fischkenner eigentlich auch keinen Fisch ißt. Nur der allgemein menschlichen Unbelehrbarkeit sei es zu verdanken, daß jährlich tausende von Fischessern eines grausamen Todes starben, qualvoll an Gräten erstickten, an Grätenstichen innerlich verbluteten, Darmverschlüsse durch ganze Büschel von Haargräten riskierten und dahingerafft wurden. Nicht so in diesem Hause. Gottlob war hier seit dem Ertrinken des Firmengründers die Lust am Fisch nie größer als die Angst vor der Gräte. Gottlob, wie gesagt, war er ein besonnener Mensch gewesen, der Zweite, ein Mann von großem Verstand und gar nicht mal solange tot. Schon als Kind hatte er peinlich genau ausgerechnet, daß ein Fisch über mehr Gräten verfügt als ein Mensch über Knochen, weshalb er stets zu sagen pflegte, bevor er einen Fisch anrühre, würde er lieber gleich zu den Kannibalen gehen. Und genauso würde es auch der Dritte halten, gottlob, man kann es nur immer wieder sagen, mit Rücksicht auf das Leben seiner lieben Angehörigen. Die Küchenaushilfe sah aus dem Fenster, wo die Morgensonne den Frühnebel vertrieben hatte. Ungehindert schien sie nieder auf die tauglänzenden, lichtgebleichten Wiesen und das dunkle Band des Flusses. Vielleicht war sie hier deshalb so fremd geblieben, weil es in diesem Hause, anders als daheim, niemals Fisch gab. Sie spürte, wie sich ein feiner, schwimmender Tränenschleier auf ihren Augen bildete, wandte sich zur Speisekammertür, schloß sie umständlich auf und trat ein in die wechselvolle Welt der Gerüche. Es war kühl und trocken in dem schmalen, länglichen Raum. Durch das dichte Fliegengitter vor dem kleinen Fenster fiel nur ein spärliches Bündel Licht auf den Gang zwischen den Regalen. Die Küchenaushilfe duckte sich unter einem abhängenden Schinken hindurch, der nach Rauch roch, nach salzigem Speck, und der diesen herzhaften Geruch unverändert behalten würde, bis er ganz und gar aufgezehrt war. Vom Schinken hatte sie nichts zu erwarten. Deswegen steuerte sie auf die Körbe und Eimer voller Gemüse zu, die abgedeckt am Boden unter den Regalen standen. Sie hegte einen leisen Verdacht bei den Erbsen, die über Nacht ein wenig geschwitzt hatten, mischte ihre Hände in die frühlingsgrünen Schoten und grub bis zur Armbeuge in dem randvollen Eimer, doch als sie den süßlichen Geruch der Überreife aufzuspüren versuchte, war es nur wieder der seidige, silbrige, an ihren Fingern haftende Hauch der Forellen, der ihr in die Nase stieg. Wie eine Welle durchzog sie noch einmal die Erinnerung an die Freitage zu Hause, an das feste, zitronige Forellenfleisch und an das von feinem Wasserstaub benetzte Lächeln auf ihren Lippen, das sich ausbreitete, rundlich und voll, über das ganze Gesicht. Und wie eine Welle verrauschte sie auch, die Erinnerung an Zuhause, und hinterließ einen salzigen Schleier von Traurigkeit. Mit einem Ruck stand sie auf, duckte sich durch den schmalen Gang, verließ die Speisekammer und verschloß sie. Dann griff sie sich kurzerhand die Fische vom Rand der Spüle und tat, was bei ihr Zuhause als Sünde galt: Sie setzte das Messer unmittelbar hinter den Kiemenklappen an und trennte, um Haaresbreite über die Bauchgräten hinwegschneidend, einen fingerdicken Streifen grätenloses Fleisch ab, der bis hinunter zur Schwanzflosse reichte. Dieser Filetschnitt war ein Luxus, denn er ließ eine ganze Schicht von vergrätetem Fleisch zurück, das verschwenderisch in den Abfall wanderte. Aber was fing er frühmorgens auch Fische, was kam er damit zu ihr in die Küche und was lächelte er noch dazu, wenn er sie nicht essen wollte. Also, weg damit, weg mit den fleischigen Fischgerippen, und hinein mit den feinen Filetstückchen in den Eintopf. |