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aus:
Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (Roman)
JULI
Zum ersten Mal sind sie jenseits
der Kindheit Josephas gemeinsam auf Reisen: Carmen Salzwedel hat über
eine halbschwesterliche Verbindung ein Quartier auf Usedom auftreiben
können bei gläubigen Wirtsleuten, ein hölzernes Gartenhäuschen
mit Plumpsklo, Beerenobst vor der Tür und einem Stall voller Kaninchen
unter dem Fenster der winzigen Schlafstube. Morgens und abends zu füttern
ist der ausgehandelte Preis für die Unterkunft, und so sieht man
schon früh Josepha mit Sichel und Korb am Rand der kaum befahrenen
staubigen Straße Löwenzahn schneiden. Therese im Hause sägt
unterdessen altgewordenes Brot, das der Dorfbäcker beinahe umsonst
abgibt, in Stücke. Sie zweigt davon ab, was auf einem mittelgroßen
Kuchenblech Platz hat, und schiebt`s in die Röhre des elektrischen
Backofens zum Rösten. Als Josepha zurückkommt und riecht, weiß
sie, was ansteht: Gunnar Lennefsen ruft zum Aufbruch, unterdes die biennale
Ostseewoche beginnt mit Shanties und vollen Gläsern, Verbrüderungen
unter den Anrainerkünstlern des Kleineweltmeeres, Würstchen-
und Fischbuden, heftigem Broilerverzehr und richtiger Kunst. In einem
grünen Rucksack haben die beiden die Ausrüstung mitgenommen
auf ihre Fahrt hierher und bereiten sich vor. Natürlich ist es besser,
den Abend abzuwarten, der Lichtverhältnisse wegen, und so nimmt Josepha
Therese tagsüber mit an den Strand, wo sie sich, verschanzt hinter
dem Wall der Sandburg, mit Sonnenöl und Rätselheften bei Laune
halten. Das schwarzweiße Kind ist unübersehbar geworden und
fordert Therese von Zeit zu Zeit zum Streicheln heraus. Dazwischen schläft
sie, Josepha badet im Meer und wiegt den Bauch in den Wellen, legt Quallen,
Sand oder Blasentang quer drüberhin und fragt das Kind, was es spüre.
Die Bewegungen das Kindes, so glaubt sie, hielten sich genau an die Silbenzahl
der richtigen Antwort, ein kluges Baby! ruft sie aus dem Salz zu Therese
hinüber. Die grünkarierte Luftmatratze, ein frühes Geschenk
ihres Vaters, schaukelt von Möwe zu Möwe, von Boje zu Boje,
von Wunsch zu Wunsch. Zum Beispiel hätte Josepha gern einen lieblichen
Beischlaf zum Mittag und einen blauen Wagen mit tiefer Wanne für
die erste Zeit mit dem Kind - beides ist schwierig zu haben, denkt sie
noch, als ihr Luftfloß schon kippt und sie in den Armen eines hinter
Taucherbrille und Schnorchel nicht gleich sichtbar werdenden Mannes sich
wiederfindet. Tschuldjen se, tschuldjen se, dit war nich so jemeent. Sintse
ooch vonne Laijenspieljruppe Rotklöppel ausn Erzjebürje? Haikse
nich jestan int Westibül jeseen ohm innet Restorang von die Fischköppe?
Josepha schließt ihm den Mund mit den Lippen, das Gerede des Kerls
ist ihr unerträglich angesichts des harten Gegenstandes, den sie
in seiner knappen Badehose unter ihrem Hintern fühlt, und sie bittet
ihn höflich, ihr Spaß zu machen, statt sie mit Vorreden anzuöden.
Und ehe er ganz verstanden hat, gleiten ihre Beine ins Wasser, schiebt
sie sich auf seine versteifte Vorrichtung und verharrt in gespannter Erwartung.
Er sieht sich um: Die Badenden zerstreuen sich in ausreichender Entfernung
des plötzlichen Paares, ein Blick ans Ufer, der Josepha eine nähere
Bekanntschaft wahrscheinlich macht, die dort Mittagsschlaf hält,
verheißt offensichtlich nichts Böses, und der Mann taucht ab
und beginnt Josephas Wunsch als angenehm zu empfinden. Therese, vom Strand
aus, sieht etwas später Kopf und Arme der Urenkelin wie im Schlaf
auf die Luftmatratze gebettet. Das Schaukeln der ganzen Erscheinung hält
sie für eine Folge der sanften Wellenbewegung des Wassers. Eigentlich
müßte ihr auffallen, daß kaum Wind geht und die leichte
Kräuselung der Oberfläche mit dem deutlichen Rucken der Matratze
nicht zusammengehen mag, aber sie lehnt sich zurück in den Schein
der Sonne und sieht nicht das Luftrohr des verstummten Berliners, der
eine bequeme Unterwasserlage gefunden hat für sein Bemühen.
Auf dem Weg nach Hause meint Josepha das Treffen im Meer noch riechen
zu können aus dem Brustausschnitt ihres Kleides, und als Therese
zum Abendessen eine Büchse Fisch öffnet, glaubt sie sich beinahe
ertappt. Jedoch fällt kein diesbezügliches Wort, Therese grinst
nicht einmal schräg aus den Augenwinkeln. Die Expedition kann beginnen.
Faltjalousien aus Papier sperren den Rest des Tageslichts aus, als Therese
das Stichwort aus dem mümmelnden Mund holt wie ein hinterrücks
ins Brot geratenes Papierstück, AMPFERSUPP, und dickflüssig
dümpelt die AMPFERSUPP durch die einzig geschlossene Anstalt der
Sommernacht auf Usedom. Die Leinwand, da sie vorgibt, verklemmt zu sein,
ein wenig befangen in Hoffnung, die Frauen würden ablassen von ihr,
wird zum Ereignis, sie bäumt sich, beugt sich dem Ruf schließlich
doch und zeigt wundstarren Winter in der Hauptstadt der Provinz Ostpreußen.
Josepha legt das Ohr an die vermeintliche Stille des Bildes: Eines lahmenden
Mannes nachgezogenes Bein fällt aus der Hose, klack!, im "Französische
Straße" noch immer genannten Ruinenschacht, ist aus Holz, wie
man jetzt denken will, ist aber ein Stahlstumpf nur, provisorische Prothese,
eilfertig angepaßt in einem westfälischen Lazarett. Hat aber
immerhin dem zerschossenen Mann einen Urlaub eingebracht von West nach
Ost, wo doch alle, die halbwegs laufen können, auch die Gliedkranken
und anderweitig Verstumpften, eigentlich Sturm sind, eitel Volkssturm.
Volk hat schon Königsberg beinahe judfrei gemacht in seinem Drang,
das will etwas heißen! Vereinzelt quert noch ein sterntragender
Geltungsjude des lahmenden Mannes Blick, der dann ausweicht. Das Krankenhaus,
in dem seine schwangere Frau als Pflegerin hilft, weiß er aus ihrem
letzten Brief, geht auf Evakuierung, da sie wird ihn unterschieben als
´n Happchen dammlich, bei den Zuständen. Sie werden zusammen
aufs Schiff gehn von Pillau nach Pommern, und dann einszweifix Richtung
Dänemark raus, wo kein Russe nicht hinlangt in seiner berechtigten
Wut. Er hat sich noch etwas gedacht, der Fritz Schlupfburg, ehe er sterben
möchte im tiefen Wasser der See: Seine Frau und sein Kind sollen
ankommen drüben und nicht in die wütende Russenhand fallen.
So Sachen hat er gehört auf der Fahrt hierher, daß ihm Kotzen
und Furcht das Torkeln noch schwerer machen und Kowno, für das er
ein Bein schon gezahlt und den Rest seiner selbst bis zur Überfahrt
verpfändet hat, ihn allstündlich einholt, wo er es doch in seinem
Bauch schon so gut wie verkapselt, versteinert hatte in einem gewaltigen
Schmerz, der beim Scheißen herausbrach. Kowno wirst du nicht los,
aber Astrid mußt du noch rausbringen, wie du sie reingeritten hast
- Fritz Schlupfburg flucht und fragt sich durch die Trümmer bis zur
Chirurgischen Klinik am Rand der zerschossenen Stadtmitte. Leidlich stehengeblieben
scheint sie, daß Fritz erst einmal viel von der Winterluft einziehen
muß, um der Ohnmacht sich zu entfernen, die droht. Steht in den
Sternen: Licht und Vergessen, Erlösung und Ferne? Zweifelhaft still
steht sein Herz wie vorm Führer der kleine Soldat und fürchtet
sich etwas, aber nicht lang, da löst aus dem Gemäuer sich schütterer
Stein und stürzt auf Kopf und Restleib des Fritz Schlupfburg, verschüttet
ihn beinahe ganz und macht ihn glauben an einen vorzeitigen Tod. Im Fallen
will er noch Astrid rufen und öffnet den Mund für die Handvoll
bröckligen Mörtels, der eben vorbeikommt. Er gurgelt, er schnaubt
und schiebt sich den Griff einer Krücke zwischen die Zähne,
er will noch den Schal sich vom Hals ziehn, um etwas mehr Luft zu bekommen,
da hat ihn eine mitleidlose Dunkelheit schon umnachtet. Niemand bemerkt
ihn unter dem Haufen Gesteins, obwohl sein einziger Schuh drunter vorschaut
und die beiden Krücken in die Luft stechen aus dem Gipfel des kleinen
Berges. Keinem fällt das mehr auf, weil die Schallschwingungen der
noch entfernten Gefechte den Bombardements des letzten Sommers immer öfter
zu später Wirkung zu verhelfen scheinen, indem sie so manches gerade
noch aneinander Haftende zur Ablösung bringen. Auch lange schon strauchelnde
Menschen schlagen nun endgültig hin. Aus dem obersten Stockwerk eines
einzelnen aufrechten Hauses in der Langen Reihe tönt ein gut gestimmtes
Klavier. Verhaltene Schreie zwischen den romantisierenden Arpeggien. Über
Fritz Schlupfburgs verbliebenen Schuh zockeln die rechten Räder eines
Pferdefuhrwerks, langsam und knirschend in den Naben vom Sand des zurückgelassenen
Hofes. Therese weitet die Augen, als sie am oberen Bildrand Genealogia
erblickt, die Göttin der Sippenbildung, die langsam herzuschwebt
und das Fenster öffnet, aus dem das Klavierspiel nun lauter zu hören
ist. Der Wagen unten auf der Straße bleibt stehen, die zwei Frauen
darauf heben die Gesichter in Richtung der eben noch im Takt schwingenden
Fensterflügel: Senta Gloria Lüdeking geb. Amelang fällt
herab und bricht sich den Blick an der Kante einer schnitzereiverzierten
Anrichte aus dunkelgebeiztem Eichenholz. Im Aufprall erschlägt sie
die Schwestern gleich mit, die Toten kippen seitlich über die Planken
des hochauf beladenen Wagens, vergrößern den Fritzschen Hügel
und dämpfen den Aufprall eines vielleicht neunjährigen Mädchens,
das aus dem Klavierfenster nachgeworfen wird und nun nicht, wie geplant,
zum Tod kommt. Fritz, ganz unten, kann wieder spüren, daß da,
wo seine unheile Haut zu Ende ist, anderes anfängt und blutet aus
gesprochenen Wunden. Er stemmt sich dem Berg über ihm ins Gewicht,
hebt ihn auf, schiebt ihn fort bis zum Wimmern. Das Kind ist steif, als
ein Kopf neben ihm aus dem Steinhaufen dringt und bröckligen Mörtel
ausspuckt. Das Kind hat ein Frauengesicht von etwa vierzig Jahren auf
den Schultern, die nur von einem Nachthemd bedeckt sind und vorpubertär
spitz ausgreifen. Fritz Schlupfburg macht Anstalten, sich erinnern zu
wollen, nur fehlt ihm dazu ganz ein Gefühl ... Den toten Schwestern
zieht er die Oberbekleidung aus, die dicken Mäntel aus Wolle und
Pelz, und hängt sich den einen selbst, den anderen dem Kind neben
sich übern Leib, daß es auftauen möchte aus seiner Starre,
setzt es neben sich auf den Kutschbock und treibt die offenbar melancholisch
gewordenen Pferde an. Die Prothese steckt noch im Haufen, er hat wohl
vergessen, daß er sie trug. Was er da tut, weiß er auch nicht,
so sehr er auch in sich nachfragt und das seltsame Bild, das sein Leib
bietet, mit seinem Gedächtnis in Verbindung zu bringen versucht.
Er bleibt sich unbekannt und fährt mit Fremdleib und Fremdkind und
Fremdpferd und Fremdgut die Alte Pillauer Landstraße westwärts,
zwischen den vielen Friedhöfen hindurch, die er irgendwann schon
einmal gesehen zu haben glaubt (Therese ist gelegentlich über den
III. Neurologischen Friedhof spaziert mit ihm, wie es schien, ziellos
und zur Erbauung, aber Therese im Stübchen des Gartenhauses auf Usedom
weiß nun, daß es das Kind zum längst vergessenen Vater
gezogen haben mußte). Luisenwahl rechterhand kommt ihm bekannt vor,
und als links die Psychiatrische Klinik sich zeigt, scheuen die Pferde,
verlangsamen ihren Schritt, weil Fritz Schlupfburg zu schwitzen beginnt
im Phantomschmerz. AMPFERSUPP, sagt da das vierzigjährige Kind aus
der Starre und lenkt ihn zu sich herüber, AMPFERSUPP sagt es gleichgültigen
Auges noch einmal und legt sich nach hinten auf den Wagen, um bald darauf
einzuschlafen. Das Fuhrwerk wird wenig später den Weg nach Westen
über Lawsker und Juditter Allee fortsetzen und so der Bahnlinie folgen
nach Pillau wie einst Wilhelm Otto Amelang auf seinem Fahrrad, als er
das Mädchen Lydia Czechowska vom einen zum anderen Unglück fuhr.
Therese sieht ihren Sohn in der Sterbenszahl Menschen verschwinden, die
inzwischen, es ist der 28. Januar 1945, gleich ihm Richtung Pillau sich
abmühen in der Hoffnung auf einen Schiffsplatz, als der Ring um die
Stadt, so scheint es, sich endgültig schließt und Wind und
Wunden russisch zu sprechen beginnen.
Geruch nach Sauerampfer und
Mehl dämpft noch am vermeintlichen Morgen die Lebensfunktionen der
nächtlichen Ausflüglerinnen, die mit dem Zusammenfall der imaginären
Leinwand sofort, wie sie sich nun gegenseitig versichern, eingeschlafen
sein müssen: Nichts an Erinnern vermag die Spanne zwischen Expedition
und Träumen zu füllen. Durch die Fürstenschlucht, über
die Ratslinden, säuselt sibyllinisch Therese, wie komm ich jetzt
drauf? Nichts aber auch kann den plötzlichen Abbruch der siebten
Etappe besser erklären als natürlicher Schlaf, so abrupt ist
Fritz Schlupfburg verschwunden im Chaos der Flucht mit dem Rätsel
der AMPFERSUPP, des Frühlingsgerichts aus in Wasser verschwitztem
Mehl, Sauerampfer und dem Stich Sahne zum Schluß. Aber niemals im
Winter! BETEBORTSCH, das hätte Therese verstanden: Suppe aus roten
Rüben, ein Wintergericht. Aber Ampfer im Januar? Grün und lebendig
wie Brennessel, Hoffnung und Gras? Hülsenfrüchte, Dr. Oetkers
pampige Puddings mit Schnee aufgekocht, Fleischkonserven, geplatzte Pferde
wurden gegessen, aber Ampfersupp? Therese erzählt, wie sie einmal
ein menschliches Knie für ein Eisbein gehalten und erst beim Verkosten
bemerkt hatte, daß es sich hierbei um etwas anderes handeln könne
als Schweinefleisch. Alles war also denkbar, aber Ampfersupp?
Usedom hat hohen Sommer aufgetragen, als Josepha nach Futter für
die Kaninchen geht. Es ist Mittagszeit schon, wie haben sie schlafen müssen!
Ganz erschossen vom Kriech, murmelt Therese zwischen den Knäckebissen
zum verspäteten Frühstück. Aus dem Sternchen der Wirtsleute
dudelt die Ostseewoche ein ausgeblasenes Rührstückchen, bojenhohl
und blechtonvoll, fürs Seemannsfrauenherz? Josepha verspöttelt
Kaffee zwischen den prustenden Lippen, muß Mund und Tisch trockenwischen
und umrundet mit ihrer Hand auch Thereses Kinnpartie, die beständig
zuckt. Josepha fühlt am Handgelenk nach: Ganz flach breiten die Pulse
sich aus, lustlos geht das Herz in ihr um. Die Tropfen hat sie vergessen,
die Gute, das holen wir nach. Und schon schluckt Therese unter heftigem
Schütteln des Kopfes die Kräftigungsmittel und ein gefäßerweiterndes
Medikament. Zum ersten Mal geht in Josephas Denken die Angst um, eine
Reise könne eine belastende Unternehmung für die Physis einer
Achtzigjährigen sein. Fürstenschlucht, Ratslinden?
Wir sollten es noch einmal wagen! ruft da Therese entschlossen und reißt
an den Schnüren der Pappjalousien, es wird dunkel im Raum, der noch
immer sauer (nach Ampfersupp?) riecht. Gar nicht nötig ist es, das
Codewort auszusprechen, Geruch paart sich mit Dunkelheit zum auslösenden
Moment: Die Frauen finden sich wieder im Pillauer Hafen, zu dem seit einigen
Tagen ein Zugang von Königsberg her wieder freigeschlagen wurde von
den hatzenden schatzenden Truppen des Generals Lasch - es muß Februar
sein im finalen Jahr des Reiches. Fritz Schlupfburg liegt unter Decken
und Fellen mit dem vierzigjährigen Kind, das sich in seine Armbeuge
drückt und schweigt. Natürlich wissen Therese und Josepha, daß
es sich bei dem Mädchen um niemand anderen handeln kann als um Lenchen
Lüdeking, die ihrer Adoptivmutter von starker Hand nachgeworfen wurde
in einen sicher geglaubten Tod in den Ruinen der Langen Reihe von Königsberg,
dabei aber mit Genealogias Zutun aufgefangen wurde vom Schlupfburgschen
Haufen, selbigen gleichermaßen dem Leben erhaltend. Fritz Schlupfburg
ist seines Gedächtnisses verlustig gegangen im Akt der Verschüttung,
nur Kowno rumpelt ihm als Gesteinswort durch die knurrigen Därme
und schmerzt beim Scheißen - ein bildloser Schmerz, der den Ursprung
nicht preisgibt.
In seinen Taschen findet Fritz Schlupfburg, während das Mädchen
neben ihm dauerhaft schläft, Papiere: Die Urkunde einer Heirat des
Gefreiten Schlupfburg, Fritz, mit der Plegehelferin Hebenstreit, Astrid
Radegund, geboren im thüringischen G. im Januar des Jahres neunzehnhundertfünfundzwanzig,
dazu eine verwundungsbedingte Beurlaubung des Gefr. Schlupfburg, Fritz,
von der Front, Heimatadresse: Lizentgrabenstraße 25, Ehewohnung,
und einen Brief besagter Astrid Radegund Schlupfburg, geb. Hebenstreit,
in dem sie ihren Mann von einer eingetretenen Schwangerschaft unterrichtet,
datiert vom 12. September 1944. Fritz wird fortan sich selbst für
sich selbst halten, ohne sich noch zu kennen, und das neunjährige
Lenchen Lüdeking mit dem alten Gesicht für seine angetraute,
noch dazu schwangere Frau Astrid Radegund. Als er, was selten genug inzwischen
vorkommt, das nächste Mal scheißen muß, wischt er sich
mit der Heiratsurkunde rückseitig ab und reicht danach Brief und
Frontbeurlaubung seiner schwangeren Frau zu gleichem Zweck weiter. Daß
er nicht sprechen kann, merkt er erst, als der dänische Schiffer
Trygve Spliessgaard voll Mitleids ihn ansieht und ausfragt wegen der seltsamen
Gestalt an seiner Seite, und siehe, Lenchen sagt AMPFERSUPP als einziges
Wort und zieht aus der Tasche ein knittriges Fetzchen Gelb, das sie einmal
vom Gehweg aufgehoben und bei sich versteckt hatte vor den Eltern. Die
Russen, weiß er, machen da keinen Unterschied: Alle Juden sind tot
in Ostpreußen, und wenn doch einer noch am Leben ist, dann muß
er kollaboriert haben. Und weil die Rote Armee Könisberg bald endgültig
abschneiden wird von dem, was der Führer den Reichskörper nennt,
schleift Trygve Spliessgaard am Abend Lenchen Lüdeking und Fritz
Schlupfburg, nachdem er ihnen je eins über die Rübe gegeben
hat mit einem gefrorenen Fisch, an Bord seines Kutters und dümpelt
nach Pommern los, sich fürchtend vor russischen U-Booten und den
deutschen Patrouillen. In seine Bordpapiere trägt er das dänische
Ehepaar Amm und Ann Versup ein, Fischer er, Pöklerin sie, die ihm
bei seinem letzten Fischzug verpflichtet gewesen seien. In Pommern kann
er nicht ankern vor Angst und Eis und fährt schließlich Gedser
an mit der seekranken, hungrigen Fracht, den großen Transportschiffen
nach durch die aufgebrochene Rinne. Lenchen Lüdeking hat geschrieben
während der Überfahrt in holprigen Buchstabenketten, die den
Regeln der Orthographie und Interpunktion entschieden zuwiderlaufen, so
scheint es:
ich hab doch immer wieder
das spiel spielen müssen auch wenn ich nicht wollt: den spinnen ins
herze schaun mit entzücken den rabenschwarz dickbeinigen federig
felligen oder auch rosa auf fuchsienblüten sich haltenden tierlein
mitten ins herze aufreißen mußt ich sie nicht und freute mich
drüber wie ich unter ihre oberen häute kriechen konnte mit meinem
mausigen stöberblick auch wenn der lehrer sagt spinnen haben kein
herz so weiß ich es besser ich sah wie es zuckt ich konnte ihm halfter
anlegen aus kinderfurcht konnte es reiten das herz jedweder spinne und
lächerlich breitziehn wenn ich es wollte gefürchtet hab ich
die malmignatte und die tarentula fasciiventris bis ich glücklicherweise
begriff daß die dem weg der sogenannten kultur aus dem süden
nicht folgten folglich auch nicht als kulturfolger auftreten während
ich selbst immer hasenblickiger werde. nehmen wir lydia czechowska die
langgestreckte strickerspinne wie sie mich ausstieß mit einem pfiff
aus den lungen soll ich sagen müssen sie hatte kein herz wie sie
mich ansah? die triebe der arachnoiden verstehen nicht spaß oder
schmerz soll ich sagen? halfterhoch furcht im gefächerten blick kann
ich aushalten furchthoch das halfter im blickfach halte ich aus nur nicht
die widersinnige behauptung sie sei ohne herz. nehmen wir als weitres
exempel wie die fettspinne aus dem landsberger wartheraum lydia czechowska
asyl gab über mein herzschauen hinaus soll ich sagen sie hatte kein
herz weil sie die strickerspinne nicht festband an meinem anblick? ich
habe es zucken sehn in der warthetante ich hätte so gern gehabt daß
sie dickblütig sei wie ein pferd auf dem land und gemächlich
im leiden denn es war schwer einer leidenden fettspinne rasendes herz
nicht so wichtig zu nehmen im abschied. als mir die kinderschwester aus
der familie der sechsaugen den klaps auf den po verabreicht hatte und
so mich fernlenken konnte sah ich sie in ihrer gespinströhre sitzen
die vordere öffnung mit fäden bekränzt auf die ich zu achten
hatte damit sie mich nicht völlig auffressen konnte bei meinem zwanghaften
spiel ihr ins zuckende herz zu schauen ohne sie zu zerreißen hätte
ich sie zerreißen können wäre es besser gewesen soll ich
deswegen sagen sie hatte kein herz? eine andere lud mich zum sprechenlernen
ich sezierte ihr anfangs von arischem blut verdunkeltes herz mit bedenken
und muß sie eigentlich ganz und gar versehentlich ausnahmsweise
sozusagen von innen berührt haben mit meinem hasimausigen stöberblick
daß sie mir endlich nicht mehr die zunge ausrichten wollte nach
den proportionen eines deutschen paradeplatzes sie nahm mich ernst als
eine blondgelockte muttermacherin und weinte nicht schlecht als ich immer
nur polnisch die herzen der spinnen beschrieb sie wußte genau was
ich sagte. um schließlich von der familie der trichterspinnen zu
reden: tegenaria meine langsam ins lieben geratende winkelspinne litt
nicht an zuckendem herzen eher an langen spinnwarzen die ich umging wenn
ich hineinschauen wollte, ihre innerhalb unseres hauses lebende art webte
die bekannten dreieckigen netzdecken die in eine kurze röhre übergehen
ich mußt immer wieder während der hoffnungslosen paarungszeiten
ihr maskulines pendant abends herumlaufen sehen ratlos gespannt. zwar
legte sie eier doch starb nicht daran wie die meisten spinnen sie hatte
ja mich. ich beschloß hinüberzualtern zu ihr und ihr abzunehmen
die sorge um ei und pendant dabei vergaß ich dem männlichen
teil der verziehung ins herze zu schauen ich war immer so auf die weiblichen
spinnentiere beschränkt in meinem spiel daß der satz des lehrers
spinnen haben kein herz mir vollkommen herzlos erschien und ich niemals
versuchte männlichen tieren unter die häute zu dringen stöbernd
als hasimaus bis ich ihm viel zu seltsam war dem lüdekinghans mit
meinem alten gesicht und dem leib einer neunjährigen springspinne.
kann sein daß ich ihn früher schon einmal durchschaut hatte
er kam mir bekannt vor wie er mich ansah so sah ich zurück. mir ist
der bau sehr kleiner fangnetze eigen ich spring dem objekt auf den rücken
ehe ich es sanft überwältige aber wer wußte das schon
wenn er mich aufhob vom wege seiner kultur nachzufolgen. es waren zu viele
wahrscheinlich die mir das spiel ihnen ins herze zu schaun zum zwang auferlegten
soll ich nun deswegen sagen sie hatten kein herz? meine langsam ins lieben
geratene winkelspinne ich nannte sie tegenaria spielte immer klavier wenn
mir die brunst ihres pendants zu sehr zu herzen ging (die triebe der arachnoiden
verstehen nicht spaß oder schmerz?) wenn er aus wuchtiger röhre
gallert in mir plazierte obwohl ich doch nur die kleine altgesichtige
springspinne war vor seinem auge wie er mich dabei ansah so sah ich zurück:
in seiner pupille erschien sein gesicht noch einmal sollte ich dazu sagen
er hatte kein herz?
ich hoffe mein kind wird mich fressen wenn es genügend kraft dazu
hat wie es unter uns üblich ist. lydia czechowska hat es gewußt:
ich hätt sie gefressen nachdem ich ihr zuckendes herz zuende geschaut
deshalb ist sie verschwunden ich mußte dann immer verschiedene frauen
zur mutter zu machen versuchen um endlich die eine zu finden die ich an
ihrer statt fressen würde aus meiner bestimmung - es ist nicht gelungen.
nun werde ich selber eine muttertier. soll ich jetzt sagen er hatte kein
herz der lüdekinghans? ampfersupp konnte er kochen im frühling
und das ohne herz? wie er mich über die altstädter wiesen führte
mit starker hand und wir die sauren eben erschienen blättchen vom
stengel zupften und in den mund steckten ganz ohne herz? tegenaria saß
immer weinend über der supp die er kochte aus unserer beute obwohl
er danach die paarungszeiten mit mir verbrachte wie ich es immer gewollt
hatte sie zu entlasten ich sah ihr ins herz und es zuckte wie ein glaukom
in einem sehr weit innen gelegenen auge ich will es mir merken es sah
so gefährlich aus und machte mich schüchtern daß ich dem
männlichen teil der verziehung nicht erst auf den rücken sprang
sondern gleich auf den bauch. er trug mich so manche nacht auf seiner
wuchtigen röhre an tegenaria vorbei die am klavier saß und
spielte geschlossenen auges bis das glaukom eines tages zu wandern begann
und ihren blick erreichte sie mußte nun nicht mehr die augen schließen
er konnte einen halben meter entfernt an ihr vorbeigehen ohne daß
sie ihn sah und wie er mich kleines tier umdrehte aufspießte und
mit dem gürtel fixierte an seinem bauch daß er nun alle verrichtungen
freihändig fortführen konnte ohne mich zu verlassen. und da
soll ich sagen er hatte kein herz? tegenaria begann unsre sachen zu packen
den weg über rathshof lawsken juditten metgethen seerappen lindenau
klein blumenau caspershöfen fischhausen nach pillau zu planen und
las mir vor eine kleine geschichte vom schlotfeger rußgesicht (sie
sprach es wie russgesicht aus) als es wieder so kam und sie sprang aus
dem fenster. der mich fand ist ein seltsames exemplar ich erkenne ihn
nicht und ich kann nicht ins herze schaun das er trägt er ist ganz
verschlossen für meine versuche. einige merkmale deuten auf die familie
der radnetzspinnen hin: wie er mir hin und wieder ein stückchen zu
essen schenkt, mich willig zu machen. wie er dann aber selbst wenn ich
kurz und symbolisch ein wenig davon gefressen längst wieder schläft
(hat er kein herz? die triebe der arachnoiden kennen nicht spaß
oder schmerz?) ist seltsam und paßt nicht zu seiner art. wir sollten
uns kennenlernen.
Lenchen Lüdeking
(aus der familie der salticiden)
P.S. LIEBE TEGENARIA: HASIMAUSI
IST TOT!
Das Kind öffnet, nicht
unzufrieden mit sich, wie es scheint, eine Klappe in der Wandung der winzigen
Kombüse, in der der Fischer leere Dosen und Flaschen lagert, nimmt
eine dunkelgrüne Bierflasche heraus, dreht das beschriebene Papier
vorsichtig durch die Halsöffnung hinein, verschließt sie mit
dem weißen, gummierten Porzellanpfropfen, steigt leise auf Deck
und wirft die Post ins aufgebrochene Eis der Ostsee. Die zwischen den
Schollen auf- und niedertauchende Flasche ist das letzte Bild, das die
imaginäre Leinwand zeigt...
Die Frauen machen sich schweigend
einen Reim auf die Vorgänge: Fürderhin wird Fritz Schlupfburg
mit der vermeintlichen Astrid Radegund auf Wanderschaft sein, ein Kind
wird zur Welt kommen, das er für seins hält, das aber Kind und
Enkelin zugleich des einstigen Fischhausener Ortspolizisten ist und zur
Welt gebracht wird im Schatten des Untergangs. Wie Fritz nach L.A. gerät,
muß vorerst ungeklärt bleiben, wenn auch Therese wieder und
wieder AMPFERSUPP ruft, die imaginäre Leinwand zurückzubeordern
und aufzuklären, wie sehr sie versagt hat - es rührt sich nichts
außer beißend saurem Geruch, der das Zimmer durchweht.
Ihr Blick auf das Meer ist heute anders als gestern, merken die Frauen,
als sie später am Strand sitzen, hinausschauen zum Horizont, der
sich bald mit Eis überzieht und Geschrei, um gleich wieder sommerlich
still seine dampfenden Schiffe zu schaukeln und den Blick über sich
hinaus zu versperren mit seiner Existenz. Das Schaukeln der Schiffe setzt
sich dann fort auf dem Strand, der Sandboden schwankt unter Therese, Josepha,
die Luft flimmert über dem Wasser, das eine vielbefahrene Straße
darzustellen beginnt und die Urlauber auf seltsame Weise davon abhält,
an Schwimmen zu denken: Alles schweigt und schwankt in der Sonne, selbst
Kinder legen sich lautlos in die Armbeugen ihrer Eltern oder Geschwister,
schieben sich Daumen oder den Ringfinger tief in den Mund und versuchen
zu schlafen, die sonst so kreischigen Möwen stecken am Landungssteg
die Köpfe unter die Flügel und schweigen, als hätte soeben
der hundertjährige Schlaf begonnen, und als Josepha sich langsam
umschaut, ist ihr, als wüchse von dort, wo sonst der Strandhafer
weht, eine Hecke von Dornen über sie her. Sie nickt ein.
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