Kathrin Schmidt. Geb. 1958 in Gotha, DDR. Lebt iN Berlin.

aus:
Die Gunnar-Lennefsen-Expedition (Roman)

JULI

Zum ersten Mal sind sie jenseits der Kindheit Josephas gemeinsam auf Reisen: Carmen Salzwedel hat über eine halbschwesterliche Verbindung ein Quartier auf Usedom auftreiben können bei gläubigen Wirtsleuten, ein hölzernes Gartenhäuschen mit Plumpsklo, Beerenobst vor der Tür und einem Stall voller Kaninchen unter dem Fenster der winzigen Schlafstube. Morgens und abends zu füttern ist der ausgehandelte Preis für die Unterkunft, und so sieht man schon früh Josepha mit Sichel und Korb am Rand der kaum befahrenen staubigen Straße Löwenzahn schneiden. Therese im Hause sägt unterdessen altgewordenes Brot, das der Dorfbäcker beinahe umsonst abgibt, in Stücke. Sie zweigt davon ab, was auf einem mittelgroßen Kuchenblech Platz hat, und schiebt`s in die Röhre des elektrischen Backofens zum Rösten. Als Josepha zurückkommt und riecht, weiß sie, was ansteht: Gunnar Lennefsen ruft zum Aufbruch, unterdes die biennale Ostseewoche beginnt mit Shanties und vollen Gläsern, Verbrüderungen unter den Anrainerkünstlern des Kleineweltmeeres, Würstchen- und Fischbuden, heftigem Broilerverzehr und richtiger Kunst. In einem grünen Rucksack haben die beiden die Ausrüstung mitgenommen auf ihre Fahrt hierher und bereiten sich vor. Natürlich ist es besser, den Abend abzuwarten, der Lichtverhältnisse wegen, und so nimmt Josepha Therese tagsüber mit an den Strand, wo sie sich, verschanzt hinter dem Wall der Sandburg, mit Sonnenöl und Rätselheften bei Laune halten. Das schwarzweiße Kind ist unübersehbar geworden und fordert Therese von Zeit zu Zeit zum Streicheln heraus. Dazwischen schläft sie, Josepha badet im Meer und wiegt den Bauch in den Wellen, legt Quallen, Sand oder Blasentang quer drüberhin und fragt das Kind, was es spüre. Die Bewegungen das Kindes, so glaubt sie, hielten sich genau an die Silbenzahl der richtigen Antwort, ein kluges Baby! ruft sie aus dem Salz zu Therese hinüber. Die grünkarierte Luftmatratze, ein frühes Geschenk ihres Vaters, schaukelt von Möwe zu Möwe, von Boje zu Boje, von Wunsch zu Wunsch. Zum Beispiel hätte Josepha gern einen lieblichen Beischlaf zum Mittag und einen blauen Wagen mit tiefer Wanne für die erste Zeit mit dem Kind - beides ist schwierig zu haben, denkt sie noch, als ihr Luftfloß schon kippt und sie in den Armen eines hinter Taucherbrille und Schnorchel nicht gleich sichtbar werdenden Mannes sich wiederfindet. Tschuldjen se, tschuldjen se, dit war nich so jemeent. Sintse ooch vonne Laijenspieljruppe Rotklöppel ausn Erzjebürje? Haikse nich jestan int Westibül jeseen ohm innet Restorang von die Fischköppe? Josepha schließt ihm den Mund mit den Lippen, das Gerede des Kerls ist ihr unerträglich angesichts des harten Gegenstandes, den sie in seiner knappen Badehose unter ihrem Hintern fühlt, und sie bittet ihn höflich, ihr Spaß zu machen, statt sie mit Vorreden anzuöden. Und ehe er ganz verstanden hat, gleiten ihre Beine ins Wasser, schiebt sie sich auf seine versteifte Vorrichtung und verharrt in gespannter Erwartung. Er sieht sich um: Die Badenden zerstreuen sich in ausreichender Entfernung des plötzlichen Paares, ein Blick ans Ufer, der Josepha eine nähere Bekanntschaft wahrscheinlich macht, die dort Mittagsschlaf hält, verheißt offensichtlich nichts Böses, und der Mann taucht ab und beginnt Josephas Wunsch als angenehm zu empfinden. Therese, vom Strand aus, sieht etwas später Kopf und Arme der Urenkelin wie im Schlaf auf die Luftmatratze gebettet. Das Schaukeln der ganzen Erscheinung hält sie für eine Folge der sanften Wellenbewegung des Wassers. Eigentlich müßte ihr auffallen, daß kaum Wind geht und die leichte Kräuselung der Oberfläche mit dem deutlichen Rucken der Matratze nicht zusammengehen mag, aber sie lehnt sich zurück in den Schein der Sonne und sieht nicht das Luftrohr des verstummten Berliners, der eine bequeme Unterwasserlage gefunden hat für sein Bemühen.
Auf dem Weg nach Hause meint Josepha das Treffen im Meer noch riechen zu können aus dem Brustausschnitt ihres Kleides, und als Therese zum Abendessen eine Büchse Fisch öffnet, glaubt sie sich beinahe ertappt. Jedoch fällt kein diesbezügliches Wort, Therese grinst nicht einmal schräg aus den Augenwinkeln. Die Expedition kann beginnen. Faltjalousien aus Papier sperren den Rest des Tageslichts aus, als Therese das Stichwort aus dem mümmelnden Mund holt wie ein hinterrücks ins Brot geratenes Papierstück, AMPFERSUPP, und dickflüssig dümpelt die AMPFERSUPP durch die einzig geschlossene Anstalt der Sommernacht auf Usedom. Die Leinwand, da sie vorgibt, verklemmt zu sein, ein wenig befangen in Hoffnung, die Frauen würden ablassen von ihr, wird zum Ereignis, sie bäumt sich, beugt sich dem Ruf schließlich doch und zeigt wundstarren Winter in der Hauptstadt der Provinz Ostpreußen. Josepha legt das Ohr an die vermeintliche Stille des Bildes: Eines lahmenden Mannes nachgezogenes Bein fällt aus der Hose, klack!, im "Französische Straße" noch immer genannten Ruinenschacht, ist aus Holz, wie man jetzt denken will, ist aber ein Stahlstumpf nur, provisorische Prothese, eilfertig angepaßt in einem westfälischen Lazarett. Hat aber immerhin dem zerschossenen Mann einen Urlaub eingebracht von West nach Ost, wo doch alle, die halbwegs laufen können, auch die Gliedkranken und anderweitig Verstumpften, eigentlich Sturm sind, eitel Volkssturm. Volk hat schon Königsberg beinahe judfrei gemacht in seinem Drang, das will etwas heißen! Vereinzelt quert noch ein sterntragender Geltungsjude des lahmenden Mannes Blick, der dann ausweicht. Das Krankenhaus, in dem seine schwangere Frau als Pflegerin hilft, weiß er aus ihrem letzten Brief, geht auf Evakuierung, da sie wird ihn unterschieben als ´n Happchen dammlich, bei den Zuständen. Sie werden zusammen aufs Schiff gehn von Pillau nach Pommern, und dann einszweifix Richtung Dänemark raus, wo kein Russe nicht hinlangt in seiner berechtigten Wut. Er hat sich noch etwas gedacht, der Fritz Schlupfburg, ehe er sterben möchte im tiefen Wasser der See: Seine Frau und sein Kind sollen ankommen drüben und nicht in die wütende Russenhand fallen. So Sachen hat er gehört auf der Fahrt hierher, daß ihm Kotzen und Furcht das Torkeln noch schwerer machen und Kowno, für das er ein Bein schon gezahlt und den Rest seiner selbst bis zur Überfahrt verpfändet hat, ihn allstündlich einholt, wo er es doch in seinem Bauch schon so gut wie verkapselt, versteinert hatte in einem gewaltigen Schmerz, der beim Scheißen herausbrach. Kowno wirst du nicht los, aber Astrid mußt du noch rausbringen, wie du sie reingeritten hast - Fritz Schlupfburg flucht und fragt sich durch die Trümmer bis zur Chirurgischen Klinik am Rand der zerschossenen Stadtmitte. Leidlich stehengeblieben scheint sie, daß Fritz erst einmal viel von der Winterluft einziehen muß, um der Ohnmacht sich zu entfernen, die droht. Steht in den Sternen: Licht und Vergessen, Erlösung und Ferne? Zweifelhaft still steht sein Herz wie vorm Führer der kleine Soldat und fürchtet sich etwas, aber nicht lang, da löst aus dem Gemäuer sich schütterer Stein und stürzt auf Kopf und Restleib des Fritz Schlupfburg, verschüttet ihn beinahe ganz und macht ihn glauben an einen vorzeitigen Tod. Im Fallen will er noch Astrid rufen und öffnet den Mund für die Handvoll bröckligen Mörtels, der eben vorbeikommt. Er gurgelt, er schnaubt und schiebt sich den Griff einer Krücke zwischen die Zähne, er will noch den Schal sich vom Hals ziehn, um etwas mehr Luft zu bekommen, da hat ihn eine mitleidlose Dunkelheit schon umnachtet. Niemand bemerkt ihn unter dem Haufen Gesteins, obwohl sein einziger Schuh drunter vorschaut und die beiden Krücken in die Luft stechen aus dem Gipfel des kleinen Berges. Keinem fällt das mehr auf, weil die Schallschwingungen der noch entfernten Gefechte den Bombardements des letzten Sommers immer öfter zu später Wirkung zu verhelfen scheinen, indem sie so manches gerade noch aneinander Haftende zur Ablösung bringen. Auch lange schon strauchelnde Menschen schlagen nun endgültig hin. Aus dem obersten Stockwerk eines einzelnen aufrechten Hauses in der Langen Reihe tönt ein gut gestimmtes Klavier. Verhaltene Schreie zwischen den romantisierenden Arpeggien. Über Fritz Schlupfburgs verbliebenen Schuh zockeln die rechten Räder eines Pferdefuhrwerks, langsam und knirschend in den Naben vom Sand des zurückgelassenen Hofes. Therese weitet die Augen, als sie am oberen Bildrand Genealogia erblickt, die Göttin der Sippenbildung, die langsam herzuschwebt und das Fenster öffnet, aus dem das Klavierspiel nun lauter zu hören ist. Der Wagen unten auf der Straße bleibt stehen, die zwei Frauen darauf heben die Gesichter in Richtung der eben noch im Takt schwingenden Fensterflügel: Senta Gloria Lüdeking geb. Amelang fällt herab und bricht sich den Blick an der Kante einer schnitzereiverzierten Anrichte aus dunkelgebeiztem Eichenholz. Im Aufprall erschlägt sie die Schwestern gleich mit, die Toten kippen seitlich über die Planken des hochauf beladenen Wagens, vergrößern den Fritzschen Hügel und dämpfen den Aufprall eines vielleicht neunjährigen Mädchens, das aus dem Klavierfenster nachgeworfen wird und nun nicht, wie geplant, zum Tod kommt. Fritz, ganz unten, kann wieder spüren, daß da, wo seine unheile Haut zu Ende ist, anderes anfängt und blutet aus gesprochenen Wunden. Er stemmt sich dem Berg über ihm ins Gewicht, hebt ihn auf, schiebt ihn fort bis zum Wimmern. Das Kind ist steif, als ein Kopf neben ihm aus dem Steinhaufen dringt und bröckligen Mörtel ausspuckt. Das Kind hat ein Frauengesicht von etwa vierzig Jahren auf den Schultern, die nur von einem Nachthemd bedeckt sind und vorpubertär spitz ausgreifen. Fritz Schlupfburg macht Anstalten, sich erinnern zu wollen, nur fehlt ihm dazu ganz ein Gefühl ... Den toten Schwestern zieht er die Oberbekleidung aus, die dicken Mäntel aus Wolle und Pelz, und hängt sich den einen selbst, den anderen dem Kind neben sich übern Leib, daß es auftauen möchte aus seiner Starre, setzt es neben sich auf den Kutschbock und treibt die offenbar melancholisch gewordenen Pferde an. Die Prothese steckt noch im Haufen, er hat wohl vergessen, daß er sie trug. Was er da tut, weiß er auch nicht, so sehr er auch in sich nachfragt und das seltsame Bild, das sein Leib bietet, mit seinem Gedächtnis in Verbindung zu bringen versucht. Er bleibt sich unbekannt und fährt mit Fremdleib und Fremdkind und Fremdpferd und Fremdgut die Alte Pillauer Landstraße westwärts, zwischen den vielen Friedhöfen hindurch, die er irgendwann schon einmal gesehen zu haben glaubt (Therese ist gelegentlich über den III. Neurologischen Friedhof spaziert mit ihm, wie es schien, ziellos und zur Erbauung, aber Therese im Stübchen des Gartenhauses auf Usedom weiß nun, daß es das Kind zum längst vergessenen Vater gezogen haben mußte). Luisenwahl rechterhand kommt ihm bekannt vor, und als links die Psychiatrische Klinik sich zeigt, scheuen die Pferde, verlangsamen ihren Schritt, weil Fritz Schlupfburg zu schwitzen beginnt im Phantomschmerz. AMPFERSUPP, sagt da das vierzigjährige Kind aus der Starre und lenkt ihn zu sich herüber, AMPFERSUPP sagt es gleichgültigen Auges noch einmal und legt sich nach hinten auf den Wagen, um bald darauf einzuschlafen. Das Fuhrwerk wird wenig später den Weg nach Westen über Lawsker und Juditter Allee fortsetzen und so der Bahnlinie folgen nach Pillau wie einst Wilhelm Otto Amelang auf seinem Fahrrad, als er das Mädchen Lydia Czechowska vom einen zum anderen Unglück fuhr. Therese sieht ihren Sohn in der Sterbenszahl Menschen verschwinden, die inzwischen, es ist der 28. Januar 1945, gleich ihm Richtung Pillau sich abmühen in der Hoffnung auf einen Schiffsplatz, als der Ring um die Stadt, so scheint es, sich endgültig schließt und Wind und Wunden russisch zu sprechen beginnen.

Geruch nach Sauerampfer und Mehl dämpft noch am vermeintlichen Morgen die Lebensfunktionen der nächtlichen Ausflüglerinnen, die mit dem Zusammenfall der imaginären Leinwand sofort, wie sie sich nun gegenseitig versichern, eingeschlafen sein müssen: Nichts an Erinnern vermag die Spanne zwischen Expedition und Träumen zu füllen. Durch die Fürstenschlucht, über die Ratslinden, säuselt sibyllinisch Therese, wie komm ich jetzt drauf? Nichts aber auch kann den plötzlichen Abbruch der siebten Etappe besser erklären als natürlicher Schlaf, so abrupt ist Fritz Schlupfburg verschwunden im Chaos der Flucht mit dem Rätsel der AMPFERSUPP, des Frühlingsgerichts aus in Wasser verschwitztem Mehl, Sauerampfer und dem Stich Sahne zum Schluß. Aber niemals im Winter! BETEBORTSCH, das hätte Therese verstanden: Suppe aus roten Rüben, ein Wintergericht. Aber Ampfer im Januar? Grün und lebendig wie Brennessel, Hoffnung und Gras? Hülsenfrüchte, Dr. Oetkers pampige Puddings mit Schnee aufgekocht, Fleischkonserven, geplatzte Pferde wurden gegessen, aber Ampfersupp? Therese erzählt, wie sie einmal ein menschliches Knie für ein Eisbein gehalten und erst beim Verkosten bemerkt hatte, daß es sich hierbei um etwas anderes handeln könne als Schweinefleisch. Alles war also denkbar, aber Ampfersupp?
Usedom hat hohen Sommer aufgetragen, als Josepha nach Futter für die Kaninchen geht. Es ist Mittagszeit schon, wie haben sie schlafen müssen! Ganz erschossen vom Kriech, murmelt Therese zwischen den Knäckebissen zum verspäteten Frühstück. Aus dem Sternchen der Wirtsleute dudelt die Ostseewoche ein ausgeblasenes Rührstückchen, bojenhohl und blechtonvoll, fürs Seemannsfrauenherz? Josepha verspöttelt Kaffee zwischen den prustenden Lippen, muß Mund und Tisch trockenwischen und umrundet mit ihrer Hand auch Thereses Kinnpartie, die beständig zuckt. Josepha fühlt am Handgelenk nach: Ganz flach breiten die Pulse sich aus, lustlos geht das Herz in ihr um. Die Tropfen hat sie vergessen, die Gute, das holen wir nach. Und schon schluckt Therese unter heftigem Schütteln des Kopfes die Kräftigungsmittel und ein gefäßerweiterndes Medikament. Zum ersten Mal geht in Josephas Denken die Angst um, eine Reise könne eine belastende Unternehmung für die Physis einer Achtzigjährigen sein. Fürstenschlucht, Ratslinden?
Wir sollten es noch einmal wagen! ruft da Therese entschlossen und reißt an den Schnüren der Pappjalousien, es wird dunkel im Raum, der noch immer sauer (nach Ampfersupp?) riecht. Gar nicht nötig ist es, das Codewort auszusprechen, Geruch paart sich mit Dunkelheit zum auslösenden Moment: Die Frauen finden sich wieder im Pillauer Hafen, zu dem seit einigen Tagen ein Zugang von Königsberg her wieder freigeschlagen wurde von den hatzenden schatzenden Truppen des Generals Lasch - es muß Februar sein im finalen Jahr des Reiches. Fritz Schlupfburg liegt unter Decken und Fellen mit dem vierzigjährigen Kind, das sich in seine Armbeuge drückt und schweigt. Natürlich wissen Therese und Josepha, daß es sich bei dem Mädchen um niemand anderen handeln kann als um Lenchen Lüdeking, die ihrer Adoptivmutter von starker Hand nachgeworfen wurde in einen sicher geglaubten Tod in den Ruinen der Langen Reihe von Königsberg, dabei aber mit Genealogias Zutun aufgefangen wurde vom Schlupfburgschen Haufen, selbigen gleichermaßen dem Leben erhaltend. Fritz Schlupfburg ist seines Gedächtnisses verlustig gegangen im Akt der Verschüttung, nur Kowno rumpelt ihm als Gesteinswort durch die knurrigen Därme und schmerzt beim Scheißen - ein bildloser Schmerz, der den Ursprung nicht preisgibt.
In seinen Taschen findet Fritz Schlupfburg, während das Mädchen neben ihm dauerhaft schläft, Papiere: Die Urkunde einer Heirat des Gefreiten Schlupfburg, Fritz, mit der Plegehelferin Hebenstreit, Astrid Radegund, geboren im thüringischen G. im Januar des Jahres neunzehnhundertfünfundzwanzig, dazu eine verwundungsbedingte Beurlaubung des Gefr. Schlupfburg, Fritz, von der Front, Heimatadresse: Lizentgrabenstraße 25, Ehewohnung, und einen Brief besagter Astrid Radegund Schlupfburg, geb. Hebenstreit, in dem sie ihren Mann von einer eingetretenen Schwangerschaft unterrichtet, datiert vom 12. September 1944. Fritz wird fortan sich selbst für sich selbst halten, ohne sich noch zu kennen, und das neunjährige Lenchen Lüdeking mit dem alten Gesicht für seine angetraute, noch dazu schwangere Frau Astrid Radegund. Als er, was selten genug inzwischen vorkommt, das nächste Mal scheißen muß, wischt er sich mit der Heiratsurkunde rückseitig ab und reicht danach Brief und Frontbeurlaubung seiner schwangeren Frau zu gleichem Zweck weiter. Daß er nicht sprechen kann, merkt er erst, als der dänische Schiffer Trygve Spliessgaard voll Mitleids ihn ansieht und ausfragt wegen der seltsamen Gestalt an seiner Seite, und siehe, Lenchen sagt AMPFERSUPP als einziges Wort und zieht aus der Tasche ein knittriges Fetzchen Gelb, das sie einmal vom Gehweg aufgehoben und bei sich versteckt hatte vor den Eltern. Die Russen, weiß er, machen da keinen Unterschied: Alle Juden sind tot in Ostpreußen, und wenn doch einer noch am Leben ist, dann muß er kollaboriert haben. Und weil die Rote Armee Könisberg bald endgültig abschneiden wird von dem, was der Führer den Reichskörper nennt, schleift Trygve Spliessgaard am Abend Lenchen Lüdeking und Fritz Schlupfburg, nachdem er ihnen je eins über die Rübe gegeben hat mit einem gefrorenen Fisch, an Bord seines Kutters und dümpelt nach Pommern los, sich fürchtend vor russischen U-Booten und den deutschen Patrouillen. In seine Bordpapiere trägt er das dänische Ehepaar Amm und Ann Versup ein, Fischer er, Pöklerin sie, die ihm bei seinem letzten Fischzug verpflichtet gewesen seien. In Pommern kann er nicht ankern vor Angst und Eis und fährt schließlich Gedser an mit der seekranken, hungrigen Fracht, den großen Transportschiffen nach durch die aufgebrochene Rinne. Lenchen Lüdeking hat geschrieben während der Überfahrt in holprigen Buchstabenketten, die den Regeln der Orthographie und Interpunktion entschieden zuwiderlaufen, so scheint es:

ich hab doch immer wieder das spiel spielen müssen auch wenn ich nicht wollt: den spinnen ins herze schaun mit entzücken den rabenschwarz dickbeinigen federig felligen oder auch rosa auf fuchsienblüten sich haltenden tierlein mitten ins herze aufreißen mußt ich sie nicht und freute mich drüber wie ich unter ihre oberen häute kriechen konnte mit meinem mausigen stöberblick auch wenn der lehrer sagt spinnen haben kein herz so weiß ich es besser ich sah wie es zuckt ich konnte ihm halfter anlegen aus kinderfurcht konnte es reiten das herz jedweder spinne und lächerlich breitziehn wenn ich es wollte gefürchtet hab ich die malmignatte und die tarentula fasciiventris bis ich glücklicherweise begriff daß die dem weg der sogenannten kultur aus dem süden nicht folgten folglich auch nicht als kulturfolger auftreten während ich selbst immer hasenblickiger werde. nehmen wir lydia czechowska die langgestreckte strickerspinne wie sie mich ausstieß mit einem pfiff aus den lungen soll ich sagen müssen sie hatte kein herz wie sie mich ansah? die triebe der arachnoiden verstehen nicht spaß oder schmerz soll ich sagen? halfterhoch furcht im gefächerten blick kann ich aushalten furchthoch das halfter im blickfach halte ich aus nur nicht die widersinnige behauptung sie sei ohne herz. nehmen wir als weitres exempel wie die fettspinne aus dem landsberger wartheraum lydia czechowska asyl gab über mein herzschauen hinaus soll ich sagen sie hatte kein herz weil sie die strickerspinne nicht festband an meinem anblick? ich habe es zucken sehn in der warthetante ich hätte so gern gehabt daß sie dickblütig sei wie ein pferd auf dem land und gemächlich im leiden denn es war schwer einer leidenden fettspinne rasendes herz nicht so wichtig zu nehmen im abschied. als mir die kinderschwester aus der familie der sechsaugen den klaps auf den po verabreicht hatte und so mich fernlenken konnte sah ich sie in ihrer gespinströhre sitzen die vordere öffnung mit fäden bekränzt auf die ich zu achten hatte damit sie mich nicht völlig auffressen konnte bei meinem zwanghaften spiel ihr ins zuckende herz zu schauen ohne sie zu zerreißen hätte ich sie zerreißen können wäre es besser gewesen soll ich deswegen sagen sie hatte kein herz? eine andere lud mich zum sprechenlernen ich sezierte ihr anfangs von arischem blut verdunkeltes herz mit bedenken und muß sie eigentlich ganz und gar versehentlich ausnahmsweise sozusagen von innen berührt haben mit meinem hasimausigen stöberblick daß sie mir endlich nicht mehr die zunge ausrichten wollte nach den proportionen eines deutschen paradeplatzes sie nahm mich ernst als eine blondgelockte muttermacherin und weinte nicht schlecht als ich immer nur polnisch die herzen der spinnen beschrieb sie wußte genau was ich sagte. um schließlich von der familie der trichterspinnen zu reden: tegenaria meine langsam ins lieben geratende winkelspinne litt nicht an zuckendem herzen eher an langen spinnwarzen die ich umging wenn ich hineinschauen wollte, ihre innerhalb unseres hauses lebende art webte die bekannten dreieckigen netzdecken die in eine kurze röhre übergehen ich mußt immer wieder während der hoffnungslosen paarungszeiten ihr maskulines pendant abends herumlaufen sehen ratlos gespannt. zwar legte sie eier doch starb nicht daran wie die meisten spinnen sie hatte ja mich. ich beschloß hinüberzualtern zu ihr und ihr abzunehmen die sorge um ei und pendant dabei vergaß ich dem männlichen teil der verziehung ins herze zu schauen ich war immer so auf die weiblichen spinnentiere beschränkt in meinem spiel daß der satz des lehrers spinnen haben kein herz mir vollkommen herzlos erschien und ich niemals versuchte männlichen tieren unter die häute zu dringen stöbernd als hasimaus bis ich ihm viel zu seltsam war dem lüdekinghans mit meinem alten gesicht und dem leib einer neunjährigen springspinne. kann sein daß ich ihn früher schon einmal durchschaut hatte er kam mir bekannt vor wie er mich ansah so sah ich zurück. mir ist der bau sehr kleiner fangnetze eigen ich spring dem objekt auf den rücken ehe ich es sanft überwältige aber wer wußte das schon wenn er mich aufhob vom wege seiner kultur nachzufolgen. es waren zu viele wahrscheinlich die mir das spiel ihnen ins herze zu schaun zum zwang auferlegten soll ich nun deswegen sagen sie hatten kein herz? meine langsam ins lieben geratene winkelspinne ich nannte sie tegenaria spielte immer klavier wenn mir die brunst ihres pendants zu sehr zu herzen ging (die triebe der arachnoiden verstehen nicht spaß oder schmerz?) wenn er aus wuchtiger röhre gallert in mir plazierte obwohl ich doch nur die kleine altgesichtige springspinne war vor seinem auge wie er mich dabei ansah so sah ich zurück: in seiner pupille erschien sein gesicht noch einmal sollte ich dazu sagen er hatte kein herz?
ich hoffe mein kind wird mich fressen wenn es genügend kraft dazu hat wie es unter uns üblich ist. lydia czechowska hat es gewußt: ich hätt sie gefressen nachdem ich ihr zuckendes herz zuende geschaut deshalb ist sie verschwunden ich mußte dann immer verschiedene frauen zur mutter zu machen versuchen um endlich die eine zu finden die ich an ihrer statt fressen würde aus meiner bestimmung - es ist nicht gelungen. nun werde ich selber eine muttertier. soll ich jetzt sagen er hatte kein herz der lüdekinghans? ampfersupp konnte er kochen im frühling und das ohne herz? wie er mich über die altstädter wiesen führte mit starker hand und wir die sauren eben erschienen blättchen vom stengel zupften und in den mund steckten ganz ohne herz? tegenaria saß immer weinend über der supp die er kochte aus unserer beute obwohl er danach die paarungszeiten mit mir verbrachte wie ich es immer gewollt hatte sie zu entlasten ich sah ihr ins herz und es zuckte wie ein glaukom in einem sehr weit innen gelegenen auge ich will es mir merken es sah so gefährlich aus und machte mich schüchtern daß ich dem männlichen teil der verziehung nicht erst auf den rücken sprang sondern gleich auf den bauch. er trug mich so manche nacht auf seiner wuchtigen röhre an tegenaria vorbei die am klavier saß und spielte geschlossenen auges bis das glaukom eines tages zu wandern begann und ihren blick erreichte sie mußte nun nicht mehr die augen schließen er konnte einen halben meter entfernt an ihr vorbeigehen ohne daß sie ihn sah und wie er mich kleines tier umdrehte aufspießte und mit dem gürtel fixierte an seinem bauch daß er nun alle verrichtungen freihändig fortführen konnte ohne mich zu verlassen. und da soll ich sagen er hatte kein herz? tegenaria begann unsre sachen zu packen den weg über rathshof lawsken juditten metgethen seerappen lindenau klein blumenau caspershöfen fischhausen nach pillau zu planen und las mir vor eine kleine geschichte vom schlotfeger rußgesicht (sie sprach es wie russgesicht aus) als es wieder so kam und sie sprang aus dem fenster. der mich fand ist ein seltsames exemplar ich erkenne ihn nicht und ich kann nicht ins herze schaun das er trägt er ist ganz verschlossen für meine versuche. einige merkmale deuten auf die familie der radnetzspinnen hin: wie er mir hin und wieder ein stückchen zu essen schenkt, mich willig zu machen. wie er dann aber selbst wenn ich kurz und symbolisch ein wenig davon gefressen längst wieder schläft (hat er kein herz? die triebe der arachnoiden kennen nicht spaß oder schmerz?) ist seltsam und paßt nicht zu seiner art. wir sollten uns kennenlernen.

Lenchen Lüdeking
(aus der familie der salticiden)

P.S. LIEBE TEGENARIA: HASIMAUSI IST TOT!

Das Kind öffnet, nicht unzufrieden mit sich, wie es scheint, eine Klappe in der Wandung der winzigen Kombüse, in der der Fischer leere Dosen und Flaschen lagert, nimmt eine dunkelgrüne Bierflasche heraus, dreht das beschriebene Papier vorsichtig durch die Halsöffnung hinein, verschließt sie mit dem weißen, gummierten Porzellanpfropfen, steigt leise auf Deck und wirft die Post ins aufgebrochene Eis der Ostsee. Die zwischen den Schollen auf- und niedertauchende Flasche ist das letzte Bild, das die imaginäre Leinwand zeigt...

Die Frauen machen sich schweigend einen Reim auf die Vorgänge: Fürderhin wird Fritz Schlupfburg mit der vermeintlichen Astrid Radegund auf Wanderschaft sein, ein Kind wird zur Welt kommen, das er für seins hält, das aber Kind und Enkelin zugleich des einstigen Fischhausener Ortspolizisten ist und zur Welt gebracht wird im Schatten des Untergangs. Wie Fritz nach L.A. gerät, muß vorerst ungeklärt bleiben, wenn auch Therese wieder und wieder AMPFERSUPP ruft, die imaginäre Leinwand zurückzubeordern und aufzuklären, wie sehr sie versagt hat - es rührt sich nichts außer beißend saurem Geruch, der das Zimmer durchweht.
Ihr Blick auf das Meer ist heute anders als gestern, merken die Frauen, als sie später am Strand sitzen, hinausschauen zum Horizont, der sich bald mit Eis überzieht und Geschrei, um gleich wieder sommerlich still seine dampfenden Schiffe zu schaukeln und den Blick über sich hinaus zu versperren mit seiner Existenz. Das Schaukeln der Schiffe setzt sich dann fort auf dem Strand, der Sandboden schwankt unter Therese, Josepha, die Luft flimmert über dem Wasser, das eine vielbefahrene Straße darzustellen beginnt und die Urlauber auf seltsame Weise davon abhält, an Schwimmen zu denken: Alles schweigt und schwankt in der Sonne, selbst Kinder legen sich lautlos in die Armbeugen ihrer Eltern oder Geschwister, schieben sich Daumen oder den Ringfinger tief in den Mund und versuchen zu schlafen, die sonst so kreischigen Möwen stecken am Landungssteg die Köpfe unter die Flügel und schweigen, als hätte soeben der hundertjährige Schlaf begonnen, und als Josepha sich langsam umschaut, ist ihr, als wüchse von dort, wo sonst der Strandhafer weht, eine Hecke von Dornen über sie her. Sie nickt ein.