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Die
Tasche
Wir standen einander ungefähr
auf der Höhe des Stifterhauses an der Donaulände in Linz gegenüber
und sahen uns in die Augen.
Tu etwas, dachte ich, aber ich sagte nichts. Ich hatte die Erfahrung gemacht,
daß Männer über vierzig geradezu panisch darauf reagieren,
wenn sie merken, daß eine Frau über vierzig etwas von ihnen
will. Andererseits ist es schwierig für eine Frau über vierzig,
so zu tun, als wäre sie fünfzehn. Noch dazu, wenn die 86jährige
Mutter einen Schlaganfall hatte, und nun seit Wochen von einer Abteilung
des Krankenhauses in eine andere überstellt wird. Wenn dann noch
irgend etwas hinzukommt, ist alles vergebens.
Seit drei Wochen hatte ich meine Mutter im Krankenhaus nicht besuchen
können, da ich in Berlin gewesen war. Als ich, etwa eine Stunde vor
dem Spaziergang an der Donaulände, ihren Spind im Krankenhauszimmer
geöffnet hatte, um zu sehen, was mit ihrer Wäsche geschehen
war, und ihre alte Lederimitattasche mit den zerschlissenen Henkeln offen
dastand, schlug mir ein derartiger Gestank entgegen, daß ich den
Spind sofort wieder schloß. Direkt im Bett daneben lag eine andere
alte Frau im Sterben. Sie schien nur mehr aus Haut und Knochen zu bestehen.
Die Augen hatte sie geschlossen und die Hände auf der Bettdecke gefaltet.
Als die alte Frau später mit immer noch geschlossen Augen und auf
der Bettdecke gefalteten Händen, zu einem, wie es hieß, CT
aus dem Zimmer gerollt wurde, nutzte ich die Gelegenheit, lief zum Spind
meiner Mutter, griff nach der Tasche und schloß den Reißverschluß
Nach der Abendbesuchszeit von 18 bis 19 Uhr wartete dann, wie schon die
beiden Tage zuvor, mein alter Bekannter Günther vor dem Krankenhauseingang.
Er hatte einen dunkelroten Mantel an, der offenstand und in der Abendbrise
flatterte. Er nahm mir die Tasche ab und stellte sie in den Kofferraum
seines Autos. Dann fuhren wir, ebenfalls wie die beiden Tage davor, an
die Donaulände, weil nicht nur ich, sondern wohl auch er einen dritten
Ort brauchten, um ihn zwischen das Krankenhaus und das Restaurant, in
das wir essen gehen wollten, zu schieben. Ich sprach über den Zustand
meiner Mutter.
"Sie spuckt mir das Weiße der Orange, mit der ich sie füttere,
wieder in die Hand, wenn sie sie ausgelutscht hat", sagte ich, und
Günther sah auf seine Schuhspitzen oder auf die Wiese, die ein wenig
feucht war. "Wenn sie sprechen will, rollt sie die Zunge nach vorn,
so daß sie die eigene Zunge beim Sprechen behindert."
Wir waren ungefähr auf der Höhe des Stifterhauses angelangt,
blieben stehen und sahen uns, wie gesagt, lange an, und ich hätte
am liebsten meinen Kopf an seine Schulter gelegt und geweint, aber ich
tat es nicht, sondern atmete nur tief durch, und Günther atmete auch
tief durch und wandte den Blick von mir ab zur Donau hin und dann hinüber
zum Pöstlingberg, dessen Kirche auf der Bergspitze von Scheinwerfern
beleuchtet wurde.
Wahrscheinlich liegt es an mir. Der Mann, mit dem ich in Berlin lebe,
hat mir einmal von einem Dokumentarfilm erzählt, in dem ein alter
Mann interviewt wurde, der mit einem Autoverleih auf Teneriffa Millionen
gemacht hatte. Dessen Freundinnen mußten allesamt unter fünfundzwanzig
Jahre alt sein, weil, wie mein Mann lachend berichtete, der alte Mann
im Fernsehen gesagt hatte, mit fünfundzwanzig fange der Mensch eben
zu stinken an.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, mein Mann in Berlin sei der
einzige Mensch, der mir je wirklich nahe gewesen ist und sein wird.
Günther, der langsam neben mir herging, legte einen Arm um meine
Schulter.
"Hast du Hunger?" fragte er.
Ich werde nie verstehen was in den Köpfen der Männer über
vierzig vorgeht. Sind sie schüchtern oder berechnend? Man weiß
zu wenig darüber. Ich meine bei jungen Männern ist alles ganz
einfach, die wollen die Mädchen ins Bett kriegen. Wenn sie die Mädchen
nicht ins Bett kriegen, legen sie sich ins Bett und stellen sich vor,
wie sie die Mädchen ins Bett kriegen. Aber der Mann mittleren Alters,
der Familie hat und einem Beruf nachgeht? Was will der von den Frauen,
die wie er über vierzig sind und auch ihrem Beruf nachgehen und Familie
haben? Bekämpft er sie, respektiert er sie, bewundert er sie? Will
er überhaupt etwas von ihnen? Verliebt er sich noch einmal unglücklich?
Ist er beherrscht oder braucht er sich nicht mehr zu beherrschen? Von
den Frauen weiß man alles, von den Männern so gut wie nichts.
"Ja", sagte ich, "ich habe Hunger."
Bereits als wir wieder ins Auto stiegen, das an der Donaulände geparkt
war, hatte ich den Eindruck, die Tasche meiner Mutter hielte nicht dicht.
Ich öffnete mein Seiten fenster.
Manchmal nachts, wenn ich plötzlich schweißgebadet aufwache,
glaube ich, ich hätte meine Mutter irgendwo vergessen. Oder ich glaube,
sie sei längst tot.
In den letzten Wochen seit dem Schlaganfall hat sie sich zweimal von mir
verabschiedet. Das erstemal war ich aus Berlin angereist, nachdem sie
am Telephon von einem Tag auf den anderen nicht mehr gesprochen, sondern
nur mehr geflüstert und gestöhnt hatte. Das einzige, was ich
verstand, war: "Wann kommst du?" Ich verständigte noch
am selben Abend meinen Mann, der damals gerade nicht in Berlin war, brachte
meine kleine Tochter bei einer Freundin unter und nahm am nächsten
Morgen den Frühzug. Als ich eine halbe Stunde nach meiner Ankunft
in Linz an das Krankenbett meiner Mutter trat, sah sie mich jedoch nicht
an. Sie wandte den Oberkörper mit sichtlicher Anstrengung ein wenig
von mir weg und fragte: "Wann?" Ich verstand sofort. Seit ich
vor sechsundzwanzig Jahren mein Elternhaus verlassen habe, hat mir meine
Mutter bei jedem meiner Besuche gleich nach der Begrüßung die
Frage gestellt: "Wann fährst du wieder weg?" Ich sagte,
daß ich drei oder vier Tage bleiben würde, und meine Mutter
nickte, ohne mich anzusehen, in das Kopfkissen hinein, als hätte
sie genau diese Antwort erwartet.
Das zweitemal war sie so schön, wie ich mich nicht erinnern kann,
daß sie es in ihrem Leben vorher gewesen wäre. Ihre Gesichtszüge
waren ebenmäßig, klar und beherrscht. Nichts zerfiel oder zerrann
und nichts war verbissen, nichts kindisch oder senil; nichts an ihr war
falsch. Ihr Gesicht war ganz entspannt, die Augen traurig. Die Nase spitzer
als sonst, der Mund weicher. Vor mir lag die Mutter, die sie hätte
sein können, aber nicht gewesen war. Ich weinte. Sie gab mir die
Hand, und alles, was es an Unvereinbarkeiten zwischen uns gegeben hatte,
war verschwunden. "Mama" , sagte ich, und das Licht fiel durch
die großen, offenen Fenster des Altbaus in der Geriatrie des Wagner-Jauregg-Krankenhauses,
in dem auch das Sterben meines Vaters begonnen hatte. Ich schloß
das Fenster. Die Hand meiner Mutter war eiskalt. Ich blieb dann noch zwei
Tage in Linz. An jedem dieser beiden Tage saß ich von früh
bis spät mit kurzen Unterbrechungen an ihrem Bett, hielt ihre Hand
und sah sie an. Meistens schlief sie, zwischendurch öffnete sie die
Augen, manchmal lächelte sie ein wenig. Auch sie hatte mir verziehen.
"Wir sind Totengräber im Dauereinsatz", sagte ich, als
Günther mir die Autotür öffnete. Ich weiß nicht,
warum ich die Tasche mit ins Restaurant nahm. Wahrscheinlich war ich in
Gedanken gewesen, als Günther den Kofferraum geöffnet und sie
mir gereicht hatte. Ich stellte sie weit unter die Sitzbank.
Obwohl ich Hunger hatte, bereitete mir die Auswahl der Speisen Schwierigkeiten.
Zuerst wollte ich Muscheln in Knoblauchsauce essen, aber dann stieß
mir das Glitschige und Schleimige an Muscheln auf. Außerdem fürchtete
ich, daß es sich um verdorbene Muscheln handeln und ich an Hepatitis
erkranken könnte. Dann dachte ich kurz an Lammkeule, aber die Vorstellung,
daß das Fleisch in der Nähe des Knochens noch rot wäre,
hielt mich von der Bestellung ab. Moussaka erschien mir zu fett, Pilze
oder Melanzani wären bestimmt öltriefend, Zaziki knoblauchgetränkt,
Fischrogen zu salzig. Die Kellnerin kam zum drittenmal, um die Bestellung
aufzunehmen. Mir wurde schlecht. Als dann Günther auch noch sagte,
ich trüge wohl überall meine Mutter mit mir herum, lief ich
aufs Klo und versuchte, mich zu übergeben. Als ich zurück war,
bestellte ich einen Vorspeisenteller mit Oliven, Reis in Weinblättern
und mildem Fischrogen und aß alles auf. Günther aß Moussaka.
Dazu tranken wir Bier.
Ich kenne Günther seit etwa fünfzehn Jahren. Er war mein Rechtsanwalt
bei einer Urheberrechtssache gewesen und hatte mir geholfen, mich gegen
eine Zeitschrift zur Wehr zu setzen, die ohne Rückfrage einen Beitrag
von mir auf die Hälfte gekürzt und mit einer falschen Überschrift
versehen hatte. Ich hatte den Prozeß verloren. Bald darauf wechselte
Günther auf die Uni, wo er im Alter von dreißig Jahren noch
einmal Germanistik zu studieren begann und innerhalb kürzester Zeit
seinen Doktor machte und Assistent wurde. Er lud mich regelmäßig
zu Lesungen und Vorträgen auf die Uni ein, so daß unser Kontakt
auf beruflicher Ebene bestehenblieb.
Er hat eine Frau und zwei Kinder, die er mir allerdings nie vorstellte.
Er trenne, sagte er einmal zu mir - ich weiß noch, es war nach einer
Lesung, und wir saßen in einem anderen griechischen Lokal und hatten
ziemlich viel getrunken -, strikt zwischen seinem Beruf und seiner Familie.
Alles andere, sagte er, führe nur zu Verwicklungen und Ärger.
Am liebsten mag ich seine Begeisterungsfähigkeit. Obwohl er körperlich
einen eher schweren Eindruck macht - und auch, wenn er meint, mir seinen
Universitätsalltag in allen Einzelheiten schildern zu müssen
-, kann er plötzlich, angeregt durch eine bestimmte Beobachtung oder
angesteckt von einer Idee, leicht und spielerisch werden. Zu meinem großen
Erstaunen stellte sich anläßlich seiner Einführung zu
meiner letzten Lesung auf der Uni, gleich nach meiner Ankunft in Linz,
zwei Tage zuvor, heraus, daß er an meiner Literatur vor allem das
Stoffwechselhafte, wie er sich ausdrückte, schätzte. Es gefiele
ihm, sagte er, und rühre ihn an, wie das Ekelhafte und das Liebenswerte
in meiner Literatur zusammenwirke. Durch den Ekel zur Liebe, sagte er,
oder andersherum. Ich fühlte mich ertappt. Als ich nach der Lesung
und dem Umtrunk auf der Uni in der Wohnung meiner Kindheit, die nun leerstand,
und in der die Mäntel und Hüte meiner Mutter auf den Haken im
Vorzimmer hingen, als wäre sie nur einmal kurz ausgegangen, um einzukaufen,
spät nachts im Bett lag, dachte ich zum erstenmal an seine Hände.
Sie waren groß und knochig.
Günther neben mir redete und redete, wir tranken ein Bier nach dem
anderen, ich vergaß meine Mutter und die Tasche unter meinem Sitz,
fast das ganze griechische Lokal und auch Günther. Es war ein angenehmer
Schwebezustand. Wie im Halbschlaf zu Mittag, wenn sich einzelne Geräusche
von außen in einem allgemeinen Plätschern und Murmeln auflösen.
Nur einmal horchte ich auf, weil Günther laut lachte.
"Meine Studenten", sagte er, "glauben, du erfindest deine
Geschichten ." Und dann hörte ich erst wieder zu, nachdem wir
noch ein Bier getrunken und bezahlt hatten und Günther mich in seinem
Auto heimfuhr. Er sprach über seine Beziehung zu Frauen. Als wir
mit laufendem Motor unter einer Neonbogenlampe in der Muldenstraße
standen, sagte er, daß er die Frauen mit denen er es zu tun gehabt
habe, nie betrogen hätte. Er habe stets für sie getan, was er
konnte. So sei er nun einmal. Im Grunde sei er ein Bauer, treu, arbeitsam
und beständig. Er selbst finde nicht immer gut, wie er sei; aber
er sei nun einmal, wie er sei.
Im Auto war wieder dieser Geruch.
"Günther", sagte ich schließlich, "riechst du
es nicht auch?"
Er sah mich mit seinen dunkelbraunen Augen an, die mir immer schon so
undurchsichtig vorgekommen sind, daß man sie fast als trüb
hätte bezeichnen können. Wenn da nicht neben etwas Traurigem,
Resigniertem, auch etwas Helles und sehr Vitales gewesen wäre.
"Was?" fragte er.
"Die Tasche", sagte ich. "Welche Tasche?" fragte er,
griff nach meiner Hand und preßte sie zwischen seine Beine.
Wir sahen einander zum zweitenmal an diesem Tag lange an. Sein Gesicht
war fahl unter der Neonlampe. Wir standen unmittelbar vor den Stiegen,
die zu dem Häuserblock hinaufführen, in dem die Wohnung meiner
Eltern liegt. Ich hätte nun endlich meinen Kopf an seine Schulter
legen können. Aber ich tat es nicht. Alles verschob sich für
mich, ich verspürte plötzlich eine Art Umkehrzwang und war überzeugt,
daß nicht ich meinen Kopf an seine Schulter, sondern er seinen Kopf
an meine Schulter hätte legen müssen, wenn er nur irgendein
Gefühl für die Situation oder für mich gehabt hätte.
Ich hätte ihn getröstet. Auf der anderen Seite der Straße,
auf dem Hügel gegenüber der Wohnung meiner Eltern, blitzten
hinter hohen Pappeln die hell erleuchteten Fenster des Pflegeheimes im
alten Schloß durch, in dem mein Vater vor drei Jahren gestorben
war. Wir stiegen aus dem Auto. Ich stand Günther gegenüber,
der mir nun die Tasche meiner Mutter hinhielt.
"Nein", sagte ich, "ich nehme die Tasche nicht."
Auf keinen Fall, sagte ich, nähme ich diese Tasche und ginge damit
allein in die Wohnung, in der ich meine ganze Kindheit verbracht hätte
und in der nun überall die Mäntel und Hüte meiner Mutter
hingen, als wäre sie nur einmal kurz ausgegangen, um einzukaufen.
Das, sagte ich, könne er nicht von mir erwarten, alles, aber das
nicht. Er dürfe mich nicht mit der Tasche alleinlassen.
Günther stellte die Tasche vor sich auf den Boden.
"Was ist denn damit?" fragte er und trat einen Schritt zurück,
als handelte es sich um etwas Explosives.
"Riechst du denn wirklich nichts?" fragte ich, und Günther
lief rot an im Gesicht. Ich sah es genau im Licht der Neonlampe. Es fing,
wie bei einer Frau, am Hals an und stieg langsam bis zu den Haarwurzeln
hoch. Er trat noch einen Schritt zurück und starrte abwechselnd auf
mich und die Tasche.
"Ich weiß auch nicht genau, was drin ist", sagte ich,
"sie gehört meiner Mutter. Laß uns zu einer Mülltonne
fahren. Du parkst davor und schaltest die Scheinwerfer an. Ich schau nach
und werfe alles, was weggehört, weg.
"Nein", sagte er, und seine Stimme klang dünn, "das
können wir nicht tun."
Wir müßten es aber tun, sagte ich, denn die einzige Alternative
sei, daß ich es allein tun müsse. Und das sei unmöglich.
Er nickte.
"Und wenn du die ganze Tasche wegwirfst?" fragte er; immer noch
klang seine Stimme kraftlos und dünn. Ich schüttelte den Kopf
und sah, wie er an seiner Unterlippe kaute, sich abwandte und zu dem Wohnblock
hinaufsah, in dem die Wohnung meiner Eltern liegt, und dann zum Schloß,
von dem er wußte, daß mein Vater dort gestorben ist und daß
auch meine Mutter dort einmal sterben würde, wenn sie erst aus dem
Krankenhaus heraus wäre. Günther senkte den Kopf.
"Komm", sagte er, und wir stiegen ins Auto. Ich hatte die Tasche
während der Weiterfahrt nun vorne im Auto zwischen meinen Beinen.
Zuerst fuhren wir auf den Spallerhof zu den großen Mülltonnen
neben der Muldenstraße. Sie waren von Neonlampen hell beleuchtet.
Es fuhren so viele Autos vorbei, daß wir nicht wagten, es dort zu
tun. Wir fuhren weiter auf den Bindermichl, vorbei an der Kirche und bogen
nach rechts ab, Richtung Hummelhofwald. Auf halber Strecke zwischen Kirche
und Hummelhofwald umkreisten wir einige Male einen Häuserblock, der
rechteckig angelegt war. Inmitten des Rechtecks standen, halb verdeckt
von Büschen, vier oder fünf Mülltonnen. Aber schließlich
wagten wir auch nicht, das Auto vor dem Häuserblock zu parken und
mit dem Entsorgungsgut in den Büschen inmitten des Häuserblocks
zu verschwinden. Außerdem war dort so gut wie gar kein Licht. Wir
fuhren also weiter zum Hummelhofwald, wo wir aber, zumindest von der Straße
her, keine Mülltonnen, sondern nur Abfallkörbe sahen. Schließlich
fuhren wir nach Ebelsberg. Günther sagte, er kenne einen Platz am
Rande des Ebelsberger Waldes, wo Container stünden, an die man mit
dem Auto heranfahren könne. Die seien nicht beleuchtet, und nachts
käme kein Mensch dort hin.
Wir hielten uns beim Fahren an den Händen. Nicht nur meine linke,
auch seine rechte Hand waren feucht. Als wir in den Feldweg einbogen,
der zum Ebelsberger Wald führt, sah ich, daß der Mond voll
am Himmel stand und die Wipfel der Bäume beleuchtete.
Auf dem betonierten, rechteckigen Platz, einer Art künstlicher Lichtung,
etwas in den Wald hineinversetzt, standen sechs große Container
mit den Beschriftungen: BIOTONNE, GLAS WEISS, GLAS BUNT, ALTPAPIER, LEICHTSTOFFE
und RESTMÜLL.
Günther parkte das Auto so, daß die Scheinwerfer direkt auf
die Container gerichtet waren. Der Wald hinter ihnen wurde teilweise vom
Scheinwerferlicht mitbeleuchtet. Leuchtstoffgrün glänzte der
ein wenig regennasse Farn. Die Sträucher, die wegen des ungewöhnlich
warmen Wetters der vergangenen Tage bereits Ende Februar die ersten Blätter
bekommen hatten, schimmerten hellgrün, und etwas weiter hinten standen,
schon im Schatten, die hohen, dunkelgrünen Fichten. Wir stiegen aus
dem Auto, ich öffnete die Tasche und Günther trat wieder ein
paar Schritte zur Seite.
Jetzt stank es nicht mehr. Oder der Gestank ging in dem Gestank, den die
Container verbreiteten, auf. Ich griff in die Tasche und förderte
einen durchscheinenden Nylonsack zutage. Er war weich und warm und dreifach
zugeknotet. Ich sah zu Günther hinüber.
"Sieht aus wie ein Riesenpräservativ", sagte er. "Wirf
es da rein." Er deutete auf die Biotonne. Ich zögerte und warf
den Sack dann zum Restmüll.
In der Tasche befanden sich noch vier solcher Säcke. Jeder einzelne
fühlte sich weich, warm und irgendwie schwabbelig an. Vielleicht
sind die Krankenhausnylonsäcke selbst besonders weich, dachte ich,
so daß sich alles weich und warm und schwabbelig anfühlt, auch
wenn nichts Besonderes drin ist.
In dem letzten Sack befand sich der gelbe Morgenrock meiner Mutter, der
mit den weißen Rosen, den mein Vater meiner Mutter vor langer Zeit
zum Geburtstag geschenkt und der ihr so gut gefallen hatte; ohne ihn allerdings
je zu tragen. Sie hatte heraus bekommen, daß unsere Nachbarin einen
ganz ähnlichen besaß. Jetzt war ihrer braun verfärbt.
Außerdem mußte sich da noch eine besonders zähe Flüssigkeit
in dem Sack befinden. Sie schimmerte durch das Nylon und veränderte
ihre Form beständig; so wie sich die Form von Nasen und Mündern
der Kinder verändert, die ihre Gesichter gegen Glasscheiben pressen.
Und da viel mir ein: Hatte nicht die Oberschwester vor etwa zwei Wochen,
als ich von Berlin aus angerufen hatte, um mich nach dem Zustand meiner
Mutter zu erkundigen, von einem Durchfall gesprochen? Meine Mutter habe,
hatte es geheißen, großen Wasserverlust erlitten und sei fast
ausgetrocknet.
In dem Augenblick trat Günther hinter mich. Von hinten legte er seine
Arme überkreuz um meinen Oberkörper und seinen Kopf an meinen
Hals. Ich spürte die Stacheln seiner Igelfrisur an der Wange. Die
Hände waren so groß, das sie meinen Busen vollständig
bedeckten. Ich lehnte mich an ihn. Sein Körper hinter mir war wie
eine weiche Wand, eine gepolsterte Mauer, eine echte Stütze. Ich
hielt den Morgenrock meiner Mutter mit zwei Fingern von mir ab. Die Fichten
im Hintergrund rauschten in dem kräftigen Wind, der entweder gerade
aufgekommen war, oder, ohne daß ich es bemerkt hatte, schon die
ganze Zeit wehte. Unsere Körper nahmen das Rauschen der Fichten in
sich auf. Eine Weile schwankten wir hin und her, und mir kam es so vor,
als müßten wir von Ferne aussehen wie hin und her schwankende
Fernsehantennen auf Siedlungsdächern.
Ich machte mich mit einem Ruck von Günther los und steckte den Morgenrock
meiner Mutter in den Container. Der Mond stand knapp über dem Wald
am Himmel. Die Wipfel der Bäume bogen sich weit nach rechts und nach
links. Der Wind schien sich um seine eigene Achse zu drehen. Die Mülltonnen
drehten sich auch und ich mich mit ihnen. Der Wind pfiff, und die Bäume
rauschten, und ich stand ganz allein inmitten dieses Taumels. Die Scheinwerfer
des Autos beleuchteten die leuchtstoffgrün schillernden Farne, die
frischen, lindgrünen Büsche und die Mülltonnen, die silbern
glitzerten. Ich sah alles wie durch ein Vergrößerungsglas.
Und hatte das Gefühl, ich stünde als letzte Überlebende
auf einem unüberschaubaren Schlachtfeld und hätte eine Gasmaske
auf, die mich nicht vor den Giften und Gerüchen schützte, sondern
umgekehrt, alles vervielfältigte und verstärkte.
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