Margit Schreiner. Geb. 1953 in Linz, lebt in Berlin

Die Tasche

Wir standen einander ungefähr auf der Höhe des Stifterhauses an der Donaulände in Linz gegenüber und sahen uns in die Augen.
Tu etwas, dachte ich, aber ich sagte nichts. Ich hatte die Erfahrung gemacht, daß Männer über vierzig geradezu panisch darauf reagieren, wenn sie merken, daß eine Frau über vierzig etwas von ihnen will. Andererseits ist es schwierig für eine Frau über vierzig, so zu tun, als wäre sie fünfzehn. Noch dazu, wenn die 86jährige Mutter einen Schlaganfall hatte, und nun seit Wochen von einer Abteilung des Krankenhauses in eine andere überstellt wird. Wenn dann noch irgend etwas hinzukommt, ist alles vergebens.
Seit drei Wochen hatte ich meine Mutter im Krankenhaus nicht besuchen können, da ich in Berlin gewesen war. Als ich, etwa eine Stunde vor dem Spaziergang an der Donaulände, ihren Spind im Krankenhauszimmer geöffnet hatte, um zu sehen, was mit ihrer Wäsche geschehen war, und ihre alte Lederimitattasche mit den zerschlissenen Henkeln offen dastand, schlug mir ein derartiger Gestank entgegen, daß ich den Spind sofort wieder schloß. Direkt im Bett daneben lag eine andere alte Frau im Sterben. Sie schien nur mehr aus Haut und Knochen zu bestehen. Die Augen hatte sie geschlossen und die Hände auf der Bettdecke gefaltet. Als die alte Frau später mit immer noch geschlossen Augen und auf der Bettdecke gefalteten Händen, zu einem, wie es hieß, CT aus dem Zimmer gerollt wurde, nutzte ich die Gelegenheit, lief zum Spind meiner Mutter, griff nach der Tasche und schloß den Reißverschluß
Nach der Abendbesuchszeit von 18 bis 19 Uhr wartete dann, wie schon die beiden Tage zuvor, mein alter Bekannter Günther vor dem Krankenhauseingang. Er hatte einen dunkelroten Mantel an, der offenstand und in der Abendbrise flatterte. Er nahm mir die Tasche ab und stellte sie in den Kofferraum seines Autos. Dann fuhren wir, ebenfalls wie die beiden Tage davor, an die Donaulände, weil nicht nur ich, sondern wohl auch er einen dritten Ort brauchten, um ihn zwischen das Krankenhaus und das Restaurant, in das wir essen gehen wollten, zu schieben. Ich sprach über den Zustand meiner Mutter.
"Sie spuckt mir das Weiße der Orange, mit der ich sie füttere, wieder in die Hand, wenn sie sie ausgelutscht hat", sagte ich, und Günther sah auf seine Schuhspitzen oder auf die Wiese, die ein wenig feucht war. "Wenn sie sprechen will, rollt sie die Zunge nach vorn, so daß sie die eigene Zunge beim Sprechen behindert."
Wir waren ungefähr auf der Höhe des Stifterhauses angelangt, blieben stehen und sahen uns, wie gesagt, lange an, und ich hätte am liebsten meinen Kopf an seine Schulter gelegt und geweint, aber ich tat es nicht, sondern atmete nur tief durch, und Günther atmete auch tief durch und wandte den Blick von mir ab zur Donau hin und dann hinüber zum Pöstlingberg, dessen Kirche auf der Bergspitze von Scheinwerfern beleuchtet wurde.
Wahrscheinlich liegt es an mir. Der Mann, mit dem ich in Berlin lebe, hat mir einmal von einem Dokumentarfilm erzählt, in dem ein alter Mann interviewt wurde, der mit einem Autoverleih auf Teneriffa Millionen gemacht hatte. Dessen Freundinnen mußten allesamt unter fünfundzwanzig Jahre alt sein, weil, wie mein Mann lachend berichtete, der alte Mann im Fernsehen gesagt hatte, mit fünfundzwanzig fange der Mensch eben zu stinken an.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, mein Mann in Berlin sei der einzige Mensch, der mir je wirklich nahe gewesen ist und sein wird.
Günther, der langsam neben mir herging, legte einen Arm um meine Schulter.
"Hast du Hunger?" fragte er.
Ich werde nie verstehen was in den Köpfen der Männer über vierzig vorgeht. Sind sie schüchtern oder berechnend? Man weiß zu wenig darüber. Ich meine bei jungen Männern ist alles ganz einfach, die wollen die Mädchen ins Bett kriegen. Wenn sie die Mädchen nicht ins Bett kriegen, legen sie sich ins Bett und stellen sich vor, wie sie die Mädchen ins Bett kriegen. Aber der Mann mittleren Alters, der Familie hat und einem Beruf nachgeht? Was will der von den Frauen, die wie er über vierzig sind und auch ihrem Beruf nachgehen und Familie haben? Bekämpft er sie, respektiert er sie, bewundert er sie? Will er überhaupt etwas von ihnen? Verliebt er sich noch einmal unglücklich? Ist er beherrscht oder braucht er sich nicht mehr zu beherrschen? Von den Frauen weiß man alles, von den Männern so gut wie nichts.
"Ja", sagte ich, "ich habe Hunger."
Bereits als wir wieder ins Auto stiegen, das an der Donaulände geparkt war, hatte ich den Eindruck, die Tasche meiner Mutter hielte nicht dicht. Ich öffnete mein Seiten fenster.
Manchmal nachts, wenn ich plötzlich schweißgebadet aufwache, glaube ich, ich hätte meine Mutter irgendwo vergessen. Oder ich glaube, sie sei längst tot.
In den letzten Wochen seit dem Schlaganfall hat sie sich zweimal von mir verabschiedet. Das erstemal war ich aus Berlin angereist, nachdem sie am Telephon von einem Tag auf den anderen nicht mehr gesprochen, sondern nur mehr geflüstert und gestöhnt hatte. Das einzige, was ich verstand, war: "Wann kommst du?" Ich verständigte noch am selben Abend meinen Mann, der damals gerade nicht in Berlin war, brachte meine kleine Tochter bei einer Freundin unter und nahm am nächsten Morgen den Frühzug. Als ich eine halbe Stunde nach meiner Ankunft in Linz an das Krankenbett meiner Mutter trat, sah sie mich jedoch nicht an. Sie wandte den Oberkörper mit sichtlicher Anstrengung ein wenig von mir weg und fragte: "Wann?" Ich verstand sofort. Seit ich vor sechsundzwanzig Jahren mein Elternhaus verlassen habe, hat mir meine Mutter bei jedem meiner Besuche gleich nach der Begrüßung die Frage gestellt: "Wann fährst du wieder weg?" Ich sagte, daß ich drei oder vier Tage bleiben würde, und meine Mutter nickte, ohne mich anzusehen, in das Kopfkissen hinein, als hätte sie genau diese Antwort erwartet.
Das zweitemal war sie so schön, wie ich mich nicht erinnern kann, daß sie es in ihrem Leben vorher gewesen wäre. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, klar und beherrscht. Nichts zerfiel oder zerrann und nichts war verbissen, nichts kindisch oder senil; nichts an ihr war falsch. Ihr Gesicht war ganz entspannt, die Augen traurig. Die Nase spitzer als sonst, der Mund weicher. Vor mir lag die Mutter, die sie hätte sein können, aber nicht gewesen war. Ich weinte. Sie gab mir die Hand, und alles, was es an Unvereinbarkeiten zwischen uns gegeben hatte, war verschwunden. "Mama" , sagte ich, und das Licht fiel durch die großen, offenen Fenster des Altbaus in der Geriatrie des Wagner-Jauregg-Krankenhauses, in dem auch das Sterben meines Vaters begonnen hatte. Ich schloß das Fenster. Die Hand meiner Mutter war eiskalt. Ich blieb dann noch zwei Tage in Linz. An jedem dieser beiden Tage saß ich von früh bis spät mit kurzen Unterbrechungen an ihrem Bett, hielt ihre Hand und sah sie an. Meistens schlief sie, zwischendurch öffnete sie die Augen, manchmal lächelte sie ein wenig. Auch sie hatte mir verziehen.
"Wir sind Totengräber im Dauereinsatz", sagte ich, als Günther mir die Autotür öffnete. Ich weiß nicht, warum ich die Tasche mit ins Restaurant nahm. Wahrscheinlich war ich in Gedanken gewesen, als Günther den Kofferraum geöffnet und sie mir gereicht hatte. Ich stellte sie weit unter die Sitzbank.
Obwohl ich Hunger hatte, bereitete mir die Auswahl der Speisen Schwierigkeiten. Zuerst wollte ich Muscheln in Knoblauchsauce essen, aber dann stieß mir das Glitschige und Schleimige an Muscheln auf. Außerdem fürchtete ich, daß es sich um verdorbene Muscheln handeln und ich an Hepatitis erkranken könnte. Dann dachte ich kurz an Lammkeule, aber die Vorstellung, daß das Fleisch in der Nähe des Knochens noch rot wäre, hielt mich von der Bestellung ab. Moussaka erschien mir zu fett, Pilze oder Melanzani wären bestimmt öltriefend, Zaziki knoblauchgetränkt, Fischrogen zu salzig. Die Kellnerin kam zum drittenmal, um die Bestellung aufzunehmen. Mir wurde schlecht. Als dann Günther auch noch sagte, ich trüge wohl überall meine Mutter mit mir herum, lief ich aufs Klo und versuchte, mich zu übergeben. Als ich zurück war, bestellte ich einen Vorspeisenteller mit Oliven, Reis in Weinblättern und mildem Fischrogen und aß alles auf. Günther aß Moussaka. Dazu tranken wir Bier.
Ich kenne Günther seit etwa fünfzehn Jahren. Er war mein Rechtsanwalt bei einer Urheberrechtssache gewesen und hatte mir geholfen, mich gegen eine Zeitschrift zur Wehr zu setzen, die ohne Rückfrage einen Beitrag von mir auf die Hälfte gekürzt und mit einer falschen Überschrift versehen hatte. Ich hatte den Prozeß verloren. Bald darauf wechselte Günther auf die Uni, wo er im Alter von dreißig Jahren noch einmal Germanistik zu studieren begann und innerhalb kürzester Zeit seinen Doktor machte und Assistent wurde. Er lud mich regelmäßig zu Lesungen und Vorträgen auf die Uni ein, so daß unser Kontakt auf beruflicher Ebene bestehenblieb.
Er hat eine Frau und zwei Kinder, die er mir allerdings nie vorstellte. Er trenne, sagte er einmal zu mir - ich weiß noch, es war nach einer Lesung, und wir saßen in einem anderen griechischen Lokal und hatten ziemlich viel getrunken -, strikt zwischen seinem Beruf und seiner Familie. Alles andere, sagte er, führe nur zu Verwicklungen und Ärger.
Am liebsten mag ich seine Begeisterungsfähigkeit. Obwohl er körperlich einen eher schweren Eindruck macht - und auch, wenn er meint, mir seinen Universitätsalltag in allen Einzelheiten schildern zu müssen -, kann er plötzlich, angeregt durch eine bestimmte Beobachtung oder angesteckt von einer Idee, leicht und spielerisch werden. Zu meinem großen Erstaunen stellte sich anläßlich seiner Einführung zu meiner letzten Lesung auf der Uni, gleich nach meiner Ankunft in Linz, zwei Tage zuvor, heraus, daß er an meiner Literatur vor allem das Stoffwechselhafte, wie er sich ausdrückte, schätzte. Es gefiele ihm, sagte er, und rühre ihn an, wie das Ekelhafte und das Liebenswerte in meiner Literatur zusammenwirke. Durch den Ekel zur Liebe, sagte er, oder andersherum. Ich fühlte mich ertappt. Als ich nach der Lesung und dem Umtrunk auf der Uni in der Wohnung meiner Kindheit, die nun leerstand, und in der die Mäntel und Hüte meiner Mutter auf den Haken im Vorzimmer hingen, als wäre sie nur einmal kurz ausgegangen, um einzukaufen, spät nachts im Bett lag, dachte ich zum erstenmal an seine Hände. Sie waren groß und knochig.
Günther neben mir redete und redete, wir tranken ein Bier nach dem anderen, ich vergaß meine Mutter und die Tasche unter meinem Sitz, fast das ganze griechische Lokal und auch Günther. Es war ein angenehmer Schwebezustand. Wie im Halbschlaf zu Mittag, wenn sich einzelne Geräusche von außen in einem allgemeinen Plätschern und Murmeln auflösen. Nur einmal horchte ich auf, weil Günther laut lachte.
"Meine Studenten", sagte er, "glauben, du erfindest deine Geschichten ." Und dann hörte ich erst wieder zu, nachdem wir noch ein Bier getrunken und bezahlt hatten und Günther mich in seinem Auto heimfuhr. Er sprach über seine Beziehung zu Frauen. Als wir mit laufendem Motor unter einer Neonbogenlampe in der Muldenstraße standen, sagte er, daß er die Frauen mit denen er es zu tun gehabt habe, nie betrogen hätte. Er habe stets für sie getan, was er konnte. So sei er nun einmal. Im Grunde sei er ein Bauer, treu, arbeitsam und beständig. Er selbst finde nicht immer gut, wie er sei; aber er sei nun einmal, wie er sei.
Im Auto war wieder dieser Geruch.
"Günther", sagte ich schließlich, "riechst du es nicht auch?"
Er sah mich mit seinen dunkelbraunen Augen an, die mir immer schon so undurchsichtig vorgekommen sind, daß man sie fast als trüb hätte bezeichnen können. Wenn da nicht neben etwas Traurigem, Resigniertem, auch etwas Helles und sehr Vitales gewesen wäre.
"Was?" fragte er.
"Die Tasche", sagte ich. "Welche Tasche?" fragte er, griff nach meiner Hand und preßte sie zwischen seine Beine.
Wir sahen einander zum zweitenmal an diesem Tag lange an. Sein Gesicht war fahl unter der Neonlampe. Wir standen unmittelbar vor den Stiegen, die zu dem Häuserblock hinaufführen, in dem die Wohnung meiner Eltern liegt. Ich hätte nun endlich meinen Kopf an seine Schulter legen können. Aber ich tat es nicht. Alles verschob sich für mich, ich verspürte plötzlich eine Art Umkehrzwang und war überzeugt, daß nicht ich meinen Kopf an seine Schulter, sondern er seinen Kopf an meine Schulter hätte legen müssen, wenn er nur irgendein Gefühl für die Situation oder für mich gehabt hätte. Ich hätte ihn getröstet. Auf der anderen Seite der Straße, auf dem Hügel gegenüber der Wohnung meiner Eltern, blitzten hinter hohen Pappeln die hell erleuchteten Fenster des Pflegeheimes im alten Schloß durch, in dem mein Vater vor drei Jahren gestorben war. Wir stiegen aus dem Auto. Ich stand Günther gegenüber, der mir nun die Tasche meiner Mutter hinhielt.
"Nein", sagte ich, "ich nehme die Tasche nicht."
Auf keinen Fall, sagte ich, nähme ich diese Tasche und ginge damit allein in die Wohnung, in der ich meine ganze Kindheit verbracht hätte und in der nun überall die Mäntel und Hüte meiner Mutter hingen, als wäre sie nur einmal kurz ausgegangen, um einzukaufen. Das, sagte ich, könne er nicht von mir erwarten, alles, aber das nicht. Er dürfe mich nicht mit der Tasche alleinlassen.
Günther stellte die Tasche vor sich auf den Boden.
"Was ist denn damit?" fragte er und trat einen Schritt zurück, als handelte es sich um etwas Explosives.
"Riechst du denn wirklich nichts?" fragte ich, und Günther lief rot an im Gesicht. Ich sah es genau im Licht der Neonlampe. Es fing, wie bei einer Frau, am Hals an und stieg langsam bis zu den Haarwurzeln hoch. Er trat noch einen Schritt zurück und starrte abwechselnd auf mich und die Tasche.
"Ich weiß auch nicht genau, was drin ist", sagte ich, "sie gehört meiner Mutter. Laß uns zu einer Mülltonne fahren. Du parkst davor und schaltest die Scheinwerfer an. Ich schau nach und werfe alles, was weggehört, weg.
"Nein", sagte er, und seine Stimme klang dünn, "das können wir nicht tun."
Wir müßten es aber tun, sagte ich, denn die einzige Alternative sei, daß ich es allein tun müsse. Und das sei unmöglich.
Er nickte.
"Und wenn du die ganze Tasche wegwirfst?" fragte er; immer noch klang seine Stimme kraftlos und dünn. Ich schüttelte den Kopf und sah, wie er an seiner Unterlippe kaute, sich abwandte und zu dem Wohnblock hinaufsah, in dem die Wohnung meiner Eltern liegt, und dann zum Schloß, von dem er wußte, daß mein Vater dort gestorben ist und daß auch meine Mutter dort einmal sterben würde, wenn sie erst aus dem Krankenhaus heraus wäre. Günther senkte den Kopf.
"Komm", sagte er, und wir stiegen ins Auto. Ich hatte die Tasche während der Weiterfahrt nun vorne im Auto zwischen meinen Beinen.
Zuerst fuhren wir auf den Spallerhof zu den großen Mülltonnen neben der Muldenstraße. Sie waren von Neonlampen hell beleuchtet. Es fuhren so viele Autos vorbei, daß wir nicht wagten, es dort zu tun. Wir fuhren weiter auf den Bindermichl, vorbei an der Kirche und bogen nach rechts ab, Richtung Hummelhofwald. Auf halber Strecke zwischen Kirche und Hummelhofwald umkreisten wir einige Male einen Häuserblock, der rechteckig angelegt war. Inmitten des Rechtecks standen, halb verdeckt von Büschen, vier oder fünf Mülltonnen. Aber schließlich wagten wir auch nicht, das Auto vor dem Häuserblock zu parken und mit dem Entsorgungsgut in den Büschen inmitten des Häuserblocks zu verschwinden. Außerdem war dort so gut wie gar kein Licht. Wir fuhren also weiter zum Hummelhofwald, wo wir aber, zumindest von der Straße her, keine Mülltonnen, sondern nur Abfallkörbe sahen. Schließlich fuhren wir nach Ebelsberg. Günther sagte, er kenne einen Platz am Rande des Ebelsberger Waldes, wo Container stünden, an die man mit dem Auto heranfahren könne. Die seien nicht beleuchtet, und nachts käme kein Mensch dort hin.
Wir hielten uns beim Fahren an den Händen. Nicht nur meine linke, auch seine rechte Hand waren feucht. Als wir in den Feldweg einbogen, der zum Ebelsberger Wald führt, sah ich, daß der Mond voll am Himmel stand und die Wipfel der Bäume beleuchtete.
Auf dem betonierten, rechteckigen Platz, einer Art künstlicher Lichtung, etwas in den Wald hineinversetzt, standen sechs große Container mit den Beschriftungen: BIOTONNE, GLAS WEISS, GLAS BUNT, ALTPAPIER, LEICHTSTOFFE und RESTMÜLL.
Günther parkte das Auto so, daß die Scheinwerfer direkt auf die Container gerichtet waren. Der Wald hinter ihnen wurde teilweise vom Scheinwerferlicht mitbeleuchtet. Leuchtstoffgrün glänzte der ein wenig regennasse Farn. Die Sträucher, die wegen des ungewöhnlich warmen Wetters der vergangenen Tage bereits Ende Februar die ersten Blätter bekommen hatten, schimmerten hellgrün, und etwas weiter hinten standen, schon im Schatten, die hohen, dunkelgrünen Fichten. Wir stiegen aus dem Auto, ich öffnete die Tasche und Günther trat wieder ein paar Schritte zur Seite.
Jetzt stank es nicht mehr. Oder der Gestank ging in dem Gestank, den die Container verbreiteten, auf. Ich griff in die Tasche und förderte einen durchscheinenden Nylonsack zutage. Er war weich und warm und dreifach zugeknotet. Ich sah zu Günther hinüber.
"Sieht aus wie ein Riesenpräservativ", sagte er. "Wirf es da rein." Er deutete auf die Biotonne. Ich zögerte und warf den Sack dann zum Restmüll.
In der Tasche befanden sich noch vier solcher Säcke. Jeder einzelne fühlte sich weich, warm und irgendwie schwabbelig an. Vielleicht sind die Krankenhausnylonsäcke selbst besonders weich, dachte ich, so daß sich alles weich und warm und schwabbelig anfühlt, auch wenn nichts Besonderes drin ist.
In dem letzten Sack befand sich der gelbe Morgenrock meiner Mutter, der mit den weißen Rosen, den mein Vater meiner Mutter vor langer Zeit zum Geburtstag geschenkt und der ihr so gut gefallen hatte; ohne ihn allerdings je zu tragen. Sie hatte heraus bekommen, daß unsere Nachbarin einen ganz ähnlichen besaß. Jetzt war ihrer braun verfärbt. Außerdem mußte sich da noch eine besonders zähe Flüssigkeit in dem Sack befinden. Sie schimmerte durch das Nylon und veränderte ihre Form beständig; so wie sich die Form von Nasen und Mündern der Kinder verändert, die ihre Gesichter gegen Glasscheiben pressen. Und da viel mir ein: Hatte nicht die Oberschwester vor etwa zwei Wochen, als ich von Berlin aus angerufen hatte, um mich nach dem Zustand meiner Mutter zu erkundigen, von einem Durchfall gesprochen? Meine Mutter habe, hatte es geheißen, großen Wasserverlust erlitten und sei fast ausgetrocknet.
In dem Augenblick trat Günther hinter mich. Von hinten legte er seine Arme überkreuz um meinen Oberkörper und seinen Kopf an meinen Hals. Ich spürte die Stacheln seiner Igelfrisur an der Wange. Die Hände waren so groß, das sie meinen Busen vollständig bedeckten. Ich lehnte mich an ihn. Sein Körper hinter mir war wie eine weiche Wand, eine gepolsterte Mauer, eine echte Stütze. Ich hielt den Morgenrock meiner Mutter mit zwei Fingern von mir ab. Die Fichten im Hintergrund rauschten in dem kräftigen Wind, der entweder gerade aufgekommen war, oder, ohne daß ich es bemerkt hatte, schon die ganze Zeit wehte. Unsere Körper nahmen das Rauschen der Fichten in sich auf. Eine Weile schwankten wir hin und her, und mir kam es so vor, als müßten wir von Ferne aussehen wie hin und her schwankende Fernsehantennen auf Siedlungsdächern.
Ich machte mich mit einem Ruck von Günther los und steckte den Morgenrock meiner Mutter in den Container. Der Mond stand knapp über dem Wald am Himmel. Die Wipfel der Bäume bogen sich weit nach rechts und nach links. Der Wind schien sich um seine eigene Achse zu drehen. Die Mülltonnen drehten sich auch und ich mich mit ihnen. Der Wind pfiff, und die Bäume rauschten, und ich stand ganz allein inmitten dieses Taumels. Die Scheinwerfer des Autos beleuchteten die leuchtstoffgrün schillernden Farne, die frischen, lindgrünen Büsche und die Mülltonnen, die silbern glitzerten. Ich sah alles wie durch ein Vergrößerungsglas. Und hatte das Gefühl, ich stünde als letzte Überlebende auf einem unüberschaubaren Schlachtfeld und hätte eine Gasmaske auf, die mich nicht vor den Giften und Gerüchen schützte, sondern umgekehrt, alles vervielfältigte und verstärkte.