Olivia Kleinknecht. Geboren 1960 in Stuttgart, D. Lebt in Filzbach, CH.

Später Erfolg

Mandolesi blieb seitlich neben dem Zeitungskiosk an der Piazza Montecitorio stehen, so, daß ihn der Verkäufer nicht sehen konnte. In einem Drahtgestell steckten auf dieser Seite des Kiosks nur die ausländischen Zeitungen. Er starrte auf das Titelblatt der Zürcher Zeitung, las die erste großgedruckte Überschrift und dann rechts oben in der Ecke das Datum. Mit der flachen Hand schlug er sich gegen die Stirn und taumelte weiter über die Piazza Capranica in die Via Capranichetta. In der Via Capranichetta gab es ein Stehcafé, in dem man ihm jeden Morgen außer montags zwei oder drei alte Croissants vom Vortag schenkte. Paolo winkte energisch hinter der Theke, als er Mandolesi vor der Glastür des Cafés stehen sah. Das bedeutete, daß Mandolesi auf keinen Fall jetzt hereinkommen, sondern draußen, neben der Tür warten sollte, bis man ihm die in eine Serviette eingewickelten Croissants hinausbrachte. Es dauerte immer eine Weile, bis Paolo zwischen dem einen und anderen Kaffee die Zeit fand, herauszukommen, und Mandolesi hatte an Tagen, an denen drinnen an der Bar Hochbetrieb herrschte, vor dem Café schon mehr als eine halbe Stunde auf seine Croissants warten müssen. Zu lange durfte er draußen nicht vor der Scheibe stehenbleiben, das wußte er. Er durfte sich aber auch nicht zu weit entfernen, höchstens ein paar Schritte, so daß Paolo ihn sofort erblickte, wenn er zu ihm heraustrat. Wenn Paolo ihn draußen nicht sofort entdeckte, machte er kehrt, mit den Croissants, warf sie drinnen in den Abfalleimer, und Mandolesi bekam dann gar nichts. Er konnte schließlich nicht einfach hineingehen und dort die Croissants aus dem Abfalleimer holen.
Das Warten zog sich auch an diesem Tag unerträglich hin. Mandolesi litt. Er hielt sich nicht gern lange Zeit am selben Platz auf, und schon gar nicht an diesem so zentralen Ort, in der Nähe des Palazzo Montecitorio. Er geriet hier in entsetzliche Panik, einer seiner früheren Bekannten, die zwischen dem Palazzo Montecitorio und dem Palazzo Madama hin und her pendelten, könnte ihn hier bemerken, ihn erkennen. Und jedesmal, wenn er mit dem Gesicht zu einer Hauswand nicht weit vom Eingang des Cafés entfernt stand und sich auf die schwarzen Adern in dem gräulichen Marmor konzentrierte, die er mit bestimmten Flußläufen verglich, lief ihm der Angstschweiß über Gesicht und Rücken, und er befürchtete, vor Schande bei seiner Entdeckung sterben zu müssen.
Endlich! Mandolesi wischte sich mit einem Stück alten Zeitungspapiers leicht über die Stirn, fest genug um den Schweiß aufzusaugen, doch nicht zu fest, damit die schwarze Druckerfarbe nicht auf seine Stirn abfärbte. Paolo kam heraus und reichte ihm mit einem Grinsen zwei Croissants in der Serviette. Mandolesi machte eine undeutliche Verbeugung und flüsterte: "grazie", lächelte und verschwand eilig in der Via delle Coppelle, um in der Kirche S. Agostino auf der Piazza S. Agostino sein Frühstück einzunehmen. Die Kirche war nicht eine der bedeutenden und wurde morgens kaum von Touristen besucht. Man konnte dort meistens unbehelligt frühstücken, und es gab da noch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Hinter der Sakristei befand sich die Toilette des Priesters, die nie verschlossen war.
Mandolesi sah sich in der Kirche S. Agostino nach allen Seiten um und suchte sich dann einen Platz seitlich der Kirchensäulen, an dem zufällig Anwesende ihn von den Kirchenbänken aus nicht sehen konnten, ein Winkel, in dem er auch dann nicht auffiel, wenn jemand die Kirche betrat oder der Priester, was noch nie der Fall gewesen war, aus der Sakristei erschien. Eine ideale Nische befand sich zwischen zwei Beichtstühlen in einer Seitenkapelle in der Nähe des Altars. Dort ließ sich Mandolesi mit überkreuzten Beinen auf dem blanken Stein einer Grabplatte nieder und verzehrte bedächtig kauend, wachsam das ganze Kirchenschiff im Auge behaltend, die beiden Croissants. Nachdem er den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, stand er auf, setzte sich ganz offen in das Kirchengestühl in der Nähe der Sakristei und tat so, als ob er betete. Von da aus hatte er einen besseren Überblick, um festzustellen, wann er gefahrlos durch die Sakristei zur Toilette gelangen konnte. Fünfzehn bis zwanzig Minuten mußte er warten, bis sich seine Verdauung regte und er den untrüglichen Impuls spürte, jetzt sein Geschäft verrichten zu müssen. Ohne Kaffee fiel es immer etwas schwer, an den Punkt zu gelangen, an dem er in der Gewißheit des Erfolgs die Toilette aufsuchen konnte. Und wie so häufig hatte auch an diesem Morgen sein Geld für einen Kaffee nicht ausgereicht.
Mandolesi sah wieder von seinem Gebet auf und spähte nach allen Seiten. Es war niemand da, außer ihm. Es war soweit. Jetzt mußte er den Versuch wagen. Er lauschte. Auch von der Sakristei drang kein Geräusch an sein Ohr. Flink schlüpfte er an dem Heiligen Augustinus von Guercino vorbei in die Sakristei, und von dort in die Toilette. Aufatmend, aber mit klopfendem Herzen, schloß er die Tür von innen. War er einmal in dem winzigen, fensterlosen Raum, hatte er keine Angst mehr gestört zu werden. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, daß ihn der Priester hier überraschte. Und es war kaum wahrscheinlich, daß ein Priester einem Mann wie ihm, in Not, nicht ausnahmsweise den Gebrauch seiner Toilette gestattete. Sicher, wenn er ein zweites Mal erwischt würde, stünden für ihn die Dinge vielleicht schon schlechter. Aber bisher war er noch nicht ertappt worden, er konnte es darauf ankommen lassen. Sollte ihm einmal der Zutritt zu diesem segensvollen Ort verwehrt werden, gab es schließlich immer noch die öffentlichen Toiletten der Stadt. Die starrten allerdings vor Schmutz und waren ständig von Drogenabhängigen besetzt. Und was widerwärtiger als der Schmutz war: Es gab dort keine geschlossenen Räume. Die öffentlichen Toiletten waren nur durch dünne Trennwände voneinander abgegrenzt, nach oben und unten offen. Wenn sich jemand direkt vor die Türen stellte, konnte er überdies seitlich durch einen Schlitz bequem hineinsehen. Und es gab dort Voyeure, Fäkalienfetischisten und andere Perverse, die sich regelmäßig vor die Schlitze stellten. Die öffentlichen Toiletten waren ein Alptraum. Als damals sein Geld ausgegangen war, und er aus der billigen Pension, die er sich für einige Monate noch hatte leisten können, auf die Straße ziehen mußte, hatte er mit ihnen das erste Mal Bekanntschaft gemacht. Bald befiel ihn ein solcher Abscheu und damit einhergehend eine so hartnäckige Verstopfung, daß er gezwungen war, eine andere, weniger ausgesetzte Lösung zu finden, und wie durch einen Wink des Himmels, der wenigstens in dieser Kleinigkeit in seinem Leben präsent blieb, war er schließlich auf diesen behaglichen, intimen und immer sauberen Raum der Kirche S. Agostino gestoßen. Die zwanzig Minuten, die er jeden Morgen zwischen den grün getünchten Mauern mit dem schwarzen Marmorboden und einer oval gerahmten Mater Dolorosa über dem Waschbecken verbrachte, zählten mit zu den erfreulichsten Momenten seines Tages, da er hier beinahe wie in seinen eigenen vier Wänden von der Außenwelt abgeschlossen war. Und da sich seine Praxis bereits Monate bewährte, fürchtete er vorläufig auch nicht, daß sie jemand plötzlich unterband.
Wenn Mandolesi sein Bedürfnis verrichtet und in Ruhe an den bevorstehenden Tag gedacht hatte, betätigte er vorsichtig die Spülung, so sachte, daß das Wasser nur langsam und fast geräuschlos lief, und statt danach den laut surrenden Ventilator anzuschalten, ließ er, wenn er hinausging, die Tür einen kleinen Spalt offen. Nach glücklicher Verrichtung setzte er sich wieder in eine der Kirchenbänke, zumeist in die Nähe des Ausgangs neben die Madonna del Parto von Sansovino und fiel, wie auch jetzt, erleichtert in einen flüchtigen Schlummer.
Sein nächster Gang, es war vielleicht gegen zwölf, führte Mandolesi zum Campo di Fiori, wo regelmäßig ein großer Obst- und Gemüsemarkt stattfand. Die Händler bauten kurz nach ein Uhr ab, und dann konnte es sein, daß man ihm ein paar überreife Tomaten oder etwas angefaultes Obst zusteckte. Es gab dort auch den einen oder anderen Geflügel- und Käsehändler. Da fiel aber selten etwas ab. Die hatten Kühltruhen oder keine so rasch verderblichen Produkte. Gestern hatte er eine Tüte mit überreifen Kirschen erhalten, die wunderbar schmeckten. Er mußte nur dort abbeißen, wo die Haut noch rot war, und den Rest fortwerfen. Es war genug an genießbarem Kirschenfleisch übriggeblieben, er verließ den Campo beinahe gesättigt. Manchmal bekam er auch einen verwelkten Salat. Er warf dann die äußeren Blätter weg und aß das meist noch frische, hellgrüne Herz.
Während Mandolesi sich durch die bunte Touristenmenge auf der Piazza Navona drängte, bekam er auf einmal großen Appetit auf Pfirsiche. Pfirsiche waren sein Lieblingsobst, ganz besonders liebte er die teuren, weißfleischigen, die man in dünne Scheiben schnitt und in Weißwein tunkte. Wie hießen sie noch? Er wußte es nicht mehr. Seine Frau hatte sie ihm immer serviert. Seine Frau.
Verschwitzt gelangte Mandolesi auf dem Campo an. Es war noch zu früh. Die Händler packten noch nicht zusammen. Unsicher strich er um die Zelte und Wagen herum und überlegte, ob er sich lieber noch einmal entfernen sollte, um später wieder zurückzukehren. Wenn die Händler ihn an ihren Ständen sahen, wurden sie oft wütend, und dann gab es nichts. Sie beschuldigten ihn, die Kunden zu vertreiben. Möglicherweise hatten sie mit ihren Vorwürfen sogar recht. Aber Mandolesi wollte nicht so weit denken. Vor dem Stand eines Blumenverkäufers blieb er einen Moment lang stehen, schüttelte den Kopf und fragte sich, ob es nicht eigentlich pure Verschwendung sei, hier etwas feilzubieten, das man nicht essen konnte. Dann ließ er den Campo hinter sich und ging weiter auf die Piazza Farnese. Vor dem Palazzo Farnese stand eine dicht zusammengedrängte Gruppe Touristen. Ihre Köpfe waren alle nach oben gereckt. Sie schienen die zierliche Loggia, die wie nachträglich an die strenge Hauptfassade geklebt war, zu betrachten. Als Mandolesi im Abstand von mindestens einem Meter an der Gruppe vorbeilief, riß eine Frau plötzlich ängstlich ihre Handtasche an sich, und auch die anderen Frauen umklammerten jetzt fester ihre Handtaschen. Die Männer faßten sich an die hinteren Hosentaschen oder hielten ihr Jackett vorn zu. Eine der Frauen begann laut zu schreien. "Attention voleur", oder etwas Ähnliches. Mandolesi zögerte nur Sekunden, in denen er zuerst die Gruppe mit einem Raubtierblick auf Distanz hielt und dann auf seine schwarzen Hände und zerfransten Ärmel sah, bevor er davonrannte, zurück in die Menschenmenge des Campo di Fiori. Dort zwinkerte ihm ein Gemüsehändler zu, obwohl der Markt noch in vollem Gange war, und stopfte ihm zwei braune Zucchini und vier ganz passable Karotten in die ausgebeulten Taschen seiner Gucci Jacke. Die Gruppe der Franzosen war zu allem Unglück jetzt auch auf dem Campo angekommen, und Mandolesi floh in Richtung der Piazza Pellegrini. Er hatte beschlossen, sich für diesen Mittag mit dem Gemüse zu begnügen, und besann sich, wo ein schattiger Platz war, an dem er in Ruhe essen und auch eine kleine Siesta halten konnte. Schlechte Erfahrungen hatte er mit dem großen Park der Villa Borghese gemacht, aus dem er schon zweimal von der berittenen Polizei vertrieben worden war. In den Kirchen konnte man mittags und nachmittags weder in Ruhe essen, noch sich erlauben einzuschlafen, da wurde man regelmäßig von irgendeinem Kirchendiener zurechtgewiesen. Ein guter Ort hingegen war die überdies in nächster Nähe gelegene Villa Farnesina mit ihrem kleinen Park am anderen Tiberufer. Obwohl die Fresken des Raffael in der Villa waren, schaute sie sich kaum einer an, und der Park war dementsprechend, insbesondere um die Mittagszeit, wie ausgestorben. Nur selten kam es vor, daß dort die Accademia dei Lincei tagte, die Akademie der italienischen Wissenschaften, die aus lauter Greisen bestand. Und nur diese Greise vertraten sich in den Pausen ihrer Konferenzen - was für Konferenzen bloß, fragte sich Mandolesi - zuweilen die Füße. Die Greise hatten sich bis jetzt nicht weiter an ihm gestört, er lag jedesmal ruhig unter den Lorbeerbüschen auf einer Steinbank und tat so als ob er schliefe. Einmal hatte einer gesagt: "Guardalà questo povero vecchietto: Schau doch, der arme Alte da drüben", das war, wie Mandolesi durch die Blätter hindurch erspähen konnte, ein Mann gewesen, der mindestens auf die achtzig zuging, während er, Mandolesi, gerade erst die fünfzig überschritt. Zugegebenermaßen hatte er sich seit Monaten nicht mehr rasiert.
Mandolesi hatte unbelästigt längere Zeit im Garten der Villa Farnesina im Halbschlaf verbracht, rieb sich die Augen und überlegte, wie spät es sein konnte. Seine Uhr war ihm gleich zu Beginn seines Straßenlebens gestohlen worden, im Schlaf natürlich. Er hatte es immer noch nicht gelernt, nach dem Sonnenstand die ungefähre Zeit zu schätzen. War es vier oder schon fünf? Bis es dunkel wurde, wollte er an den Orten, an denen die Leute besonders viel Geld ausgeben, um Almosen betteln. Auf den Treppen der Kirchen gab ihm keiner mehr etwas Geld. Die Kirchen wurden nur noch von ein paar armen Alten besucht, die wahrscheinlich selbst betteln gingen. Bessere Erfahrungen hatte er vor den Luxusgeschäften um die Piazza di Spagna gemacht und auf den Terrassen von Spitzenrestaurants und teuren Cafés, wo man ihm gerne ein paar Lire gab, damit er sich wegscherte. Er mußte sich nur vor den Kellnern oder Verkäufern hüten, die ihn grob anfaßten, wenn sie auf ihn aufmerksam wurden, und mit einem Tritt wegstießen. Das meiste Geld bekam er von billig gekleideten Touristen oder Einheimischen mit bescheidenem Äußeren. - Ja, je eleganter jemand gekleidet war, desto wahrscheinlicher war es, daß er nur Kreditkarten und kein Bargeld bei sich trug. Das sagten jedenfalls die Wohlhabenden, die sich nicht um die Bettler scherten, vielleicht, weil sie nicht damit rechneten, eines Tages auf der Straße zu landen, ein altmodischer Irrtum, dachte Mandolesi. Diese Mittelstandsbürger fixierte Mandolesi mit einem weinerlichen Gesichtsausdruck - er vergegenwärtigte sich dabei die Mater Dolorosa aus der Toilette von S. Agostino, als Vorbild -, wenn sie mit einer Einkaufstasche aus einem Geschäft kamen oder auf der Terrasse eines Restaurants oder eines Cafés saßen. Nicht immer führten seine Anstrengungen zum Erfolg, und häufig waren es am Tagesende nur einige tausend Lire, die er in Stunden harter Arbeit mühsam und auf erniedrigende Weise verdient hatte. Abends besorgte er sich dann in einem der billigen Restaurants der Via del Corso, die auch einen Straßenverkauf betrieben, ein Stück Pizza oder ein aufgewärmtes Schinkensandwich und eine Dose Bier. In ein Lebensmittelgeschäft oder einen Supermarkt, wo man sich billigere Nahrung beschaffen konnte, ließ man ihn, so wie er mittlerweile aussah, gar nicht erst hinein. Und war er dennoch unbemerkt eingedrungen, warf man ihn spätestens an der Kasse wieder hinaus. Wenn er sich entweder nur etwas zu essen oder etwas zu trinken leisten konnte, kaufte er regelmäßig einen Fiasco di vino, einen billigen Fusel, um wenigstens für Augenblicke in eine Stimmung des Vergessens zu geraten. Kam gar kein Geld herein, mußte er bis zur Dunkelheit warten, um in den weniger bevölkerten Gassen die Mülltonnen der Restaurants und Lebensmittelgeschäfte zu durchstöbern. Vor einer Woche, als er schon wieder gebangt hatte, so hungrig schlafengehen zu müssen, daß sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog, fand er hinter einer Metzgerei, ganz oben in einer Mülltonne ein halbes Hähnchen, das nicht einmal ganz schlecht roch. Er hatte es, in eine Zeitung eingewickelt, bis an die Porta S. Paolo mitgenommen, wo häufig Obdachlose an der alten Stadtmauer am offenen Feuer grillten. Es war aber in dieser Nacht niemand dagewesen, und so hatte er das Hähnchen roh verzehren müssen und war dann erschöpft an der Stadtmauer eingenickt, trotz des scheußlichen Geschmacks von ranzigem Hühnerblut im Mund.
Die Luft lastete heiß und schwül auf seinem Weg zur Piazza di Spagna, und Mandolesi dachte widerstrebend daran, wieviel Liter Schweiß in diesem Jahr schon in sein Gucci Jackett geflossen waren. Warum hing es nicht zentnerschwer an ihm, so wie in Dantes Göttlicher Komödie die Gewänder, die die Heuchler in der Hölle fast erdrückten, und er murmelte heiser vor sich hin: "Vergoldet zwar zu blendend hellem Glanz, war Blei verborgen unter äußrer Zierde: ein Bußgewand von strengster Observanz. O weh des Mantels ewig schwere Bürde!" Ja Dante, seufzte er. Jedenfalls waren sein Jackett und das Hemd mittlerweile so vollgeschwitzt, daß sie praktisch untragbar geworden waren, auch wenn er sich an jedem siebten Morgen in der Toilette der Sakristei von S. Agostino rasch wusch. Einen Augenblick lang schwebte Mandolesi vor Augen, wie er sich in der Toilette der Sakristei jedesmal in Windeseile aus- und wieder ankleidete.
Als Mandolesi an den vielen Herrenboutiquen vorbeizog, sah er mit einem unbehaglichen Gefühl auf die dort ausgestellten Jacketts. Es war ihm vollkommen klar, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, daß sein Jackett bereits so stank, daß er dringend ein neues brauchte, und vielleicht sogar einen Wintermantel, falls es diesen Winter doch wieder kälter würde und der Pullover, den er jetzt im Sommer um die Hüften band, nicht mehr ausreichte. Ganz zu schweigen von Hemd und Hose. Da die Preise ihm, selbst auf dem Flohmarkt, eine solche Anschaffung im Grunde verboten, kam nur ein Diebstahl in Betracht. Bedrückt schlich er weiter zum teuren Café Greco, vor dem er heute seine Bettlertätigkeit aufnehmen wollte. Während er gequält eine aus dem Café Greco herausschlendernde Männergesellschaft in Geschäftsanzügen taxierte, ärgerte er sich, daß er neulich vor dem Palazzo Chigi von der Polizei verjagt worden war, als er versucht hatte, die dort ein- und ausgehenden Minister, Sekretäre und Portaborse zur Kasse zu bitten. Die Idee war ihm genial erschienen, mußten die Politiker seiner Ansicht nach doch spendierfreudig werden, wenn der verwahrloste Zustand eines Bürgers in unmittelbarer Nähe ihrer Schaltstelle der Macht sie peinlich berührte. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß selbst die Unbedeutenderen unter ihnen von Polizisten oder Ordnungskräften hermetisch abgeschirmt wurden. Wenigstens, hatte er sich damals zum Trost gesagt, zahlte er nicht mehr die unsinnig hohen Steuerabgaben, die man für den unnötigen Schutz dieser Leute zum Fenster hinauswarf. Und mit einer gewissen Genugtuung hatte er sie sich dann in den siedenden Pechteichen der Bestechlichen von Dantes achtem Höllenkreis vorgestellt.
Das Café Greco hatte nichts abgeworfen. Mandolesi nahm sich nun die Geschäfte der Via Condotti vor. Eine Frau in blau-weiß karierten kurzen Hosen, die in der Via Condotti aus einem Schmuckgeschäft mit einem winzigen Päckchen so unglücklich herausstolperte, daß sie auf beide Knie gestürzt wäre, wenn Mandolesi sie nicht aufgefangen hätte, streckte ihm zum Dank die unglaubliche Summe von zehntausend Lire entgegen. Mandolesi nahm ihr den Schein rasch aus der Hand und ging vor Glück leicht schwankend weiter. Eigentlich konnte er für heute aufhören, sich irgendwo gelassen hinsetzen, die Nacht abwarten und sich bald eine nette Kleinigkeit zu essen kaufen, einen gebratenen Hühnerschlegel oder eine Scheibe Porchetta mit einem Brötchen. Oder er bettelte weiter. Der Nachmittag hatte gut angefangen, er konnte es heute noch zu viel mehr Geld bringen und sich zusätzlich ein Eis genehmigen, und wenn er über alle Erwartungen hinaus noch mehr verdiente, sogar eine Flasche billigen amerikanischen Whisky.
Voller Hoffnungen durchstreifte Mandolesi die ganze Via Condotti, die Via Borgognona und dann die Via Frattina. Doch die Ausbeute war mager. Ganze weitere tausendzweihundert Lire. Ein Junge hatte ihm ein fünfhundert Lire Stück in der Via Frattina zugeworfen, um zu sehen, ob er imstande war es aufzufangen. Er hatte es aufgefangen. Und eine alte Frau, die aus einem Geschäft mit Dessous kam, hatte ihm ein paar Münzen in die aufgehaltene Hand gedrückt. Sämtliche teuren Geschäfte hatte er abgeklappert, es blieben jetzt nur noch ein paar billigere Boutiquen. In der Via Due Macelli war ein Herrenausstatter, der gerade sein Geschäft liquidierte. Mandolesi näherte sich erwartungsvoll und witterte gleich die günstige Gelegenheit. Die Schaufenster waren mit weißen Tüchern zugehängt, so daß man von draußen nicht ins Innere des Ladens sehen konnte. Dadurch wurde der Eindruck erweckt, daß sich innen lauter erstrebens- und preiswerte Kostbarkeiten befanden. Das Geschäft mußte brechend voll sein, da eine Schlange vor der Tür wartete, und immer nur einer eingelassen wurde, wenn ein anderer Kunde wieder hinausging. Die Schlange vor der Tür war ein gutes Angriffsziel, spekulierte Mandolesi, und er tat so, als ob er sich auch anstellte. Schon zückte ein Mann, der Mandolesis sauren Geruch von altem und frischem Schweiß so dicht neben sich nicht ertragen konnte, seine Geldbörse, als sich die Tür des Ladens wieder öffnete und ein Angestellter einen Kunden hinausschob, einen anderen am Ellbogen hineinzog und mit einemmal Mandolesi eindringlich musterte. Mandolesi begriff sofort, daß der Blick des Verkäufers nicht einfach ausdrückte, er solle verschwinden, sondern es lag etwas anderes darin, es war - oh Gott! -, als ob er ihn erkannte. Scheu hielt sich Mandolesi die Hand vors Gesicht, er hatte den Angestellten auch schon einmal irgendwo gesehen. Dann fiel es ihm ein. Es war Mariano, der bei Principe in Florenz gearbeitet und ihn immer so hervorragend bedient hatte, wenn er dort einkaufte. Mariano mußte ganz und gar heruntergekommen sein, um in einer so ärmlichen Boutique zu arbeiten. Mandolesi wurde mit einemmal übel. Mit weichen Knien und blutleerem Kopf drehte er sich um, entfernte sich im Eilschritt und bog schnell nach rechts in die Straße ein, die zur Hauptpost führte. Hinter seinem Rücken glaubte er noch zu hören, wie Mariano aufgeregt rief: "Hast du gesehen, der sah doch aus wie Mandolesi!" Mandolesi stellte sich betroffen die Reaktion von Ärger und Scham von Papst Nikolaus III vor, als Dante ihn im größten Höllenkreis, dem achten, in den Malebolge unter den zahlreichen anderen Sündern endeckt hatte.
Nachdem Mandolesi eine halbe Stunde lang, ohne eine Pause zu machen, in Richtung der Kaiserforen und über diese hinaus gehetzt und sich sicher war, daß ihn niemand verfolgt hatte, gönnte er sich endlich eine Pause in den Grünanlagen hinter dem Kolosseum. Dort hielten sich ausschließlich Touristen auf. Bei höheren Temperaturen übernachtete er auch gern in der Gegend. Er setzte sich auf eine leere Bank, immer wachsam die Anlagen beobachtend, ob nicht berittene Polizei in der Nähe lauerte. Erst nachdem der lauwarme Abendwind den Schweiß auf seinem Gesicht getrocknet hatte, stand er wieder auf, um an einem der Wohnwagen, die den Touristen Würstchen anboten, eine billige Mahlzeit einzunehmen. In die Via dei due Macelli durfte er keinesfalls mehr gehen. Vielleicht würde er sich in den nächsten Tagen gar nicht mehr ins Zentrum mit den Modegeschäften wagen, sondern besser hier, bei den römischen Resten, die Touristen zur Kasse bitten.
Es begann schon leicht zu dämmern. Der Himmel verfärbte sich langsam zu einem hellen Rosa, das eher den Eindruck einer Morgenröte machte. Dann mischten sich jedoch bald dunklere Töne, insbesondere ein dunkles Blau unter das Rosa, so daß sich schließlich ein tiefes Lila in der Luft über ihm ausspannte. Und als Mandolesi drei Würstchen verzehrt und eine Dose Bier ausgeschlürft hatte, war es schon beinahe ganz dunkel geworden. In der Dunkelheit fühlte er sich am wohlsten. Die Stadt wurde zu einem Ort mit unzähligen Verstecken, die ihm Schutz vor unliebsamer Entdeckung gewährten. Und in manchen Schlupfwinkeln wurde ihm sogar die Gnade zuteil, so etwas wie eine Privatatmosphäre zu empfinden, selbst wenn er sich unter freiem Himmel befand. Ein solcher Platz, das heißt sein liebster Platz, war das Forum Romanum. Von elf Uhr dreißig abends bis acht Uhr morgens war es geschlossen und vollkommen menschenleer. Es war nur äußerst schwierig, dort hineinzugelangen. Er mußte über einen hohen Zaun in der Via Sacro steigen, und jedesmal fürchtete er, daß ihm das gar nicht mehr gelingen würde. Fortwährend riskierte er außerdem abzustürzen und sich zu verletzen. Unausdenkbar die Folgen. Die ländliche Abgeschiedenheit auf den großen, grasbewachsenen Flächen mit den Marmorblöcken, den Palast- und Mauerfragmenten war aber so köstlich, daß er es immer wieder aufs Neue probierte. Der Ein- und Ausstieg bot aber auch Gefahren, weil er etwas Rechtswidriges tat. Die Entdeckung seines unbefugten Eindringens in die Kaiserforen konnte jemanden wie ihn ins Gefängnis bringen. Deshalb unternahm er den Einstieg erst tief in der Nacht und kletterte schon beim ersten Grauen des Morgens wieder über den Zaun hinaus. Dazwischen aber verbrachte er die Stunden in der Illusion, in einem Bereich zu leben, von dem alle anderen ausgeschlossen waren, in der Illusion des Privateigentums.
Auch in dieser Nacht war Mandolesi über den Zaun der Via Sacro geklettert, um sich in den gewaltigen Ruinen der Basilica des Konstantin und ihren noch im Ansatz sichtbaren, kühnen Gewölbekonstruktionen Träumereien von glanzvollem Besitz hinzugeben. Trotz der Hitze am Tag war das Gras unter den Ligustersträuchern in der Nacht aber übermäßig feucht gewesen, und Mandolesi spürte einen heftigen Schmerz im Rücken, als er in der Frühe wieder den Zaun erklomm.
Die Stunde, bis es ganz hell wurde, verbrachte er auf einer Bank der Via dei Fori Imperiali. Zuvor hatte er die Papierkörbe an den Bushaltestellen nach Zeitungen des Vortags durchforscht. Ein Stück Zeitung steckte er sich immer in die rechte Brusttasche. Es diente ihm im Bedarfsfall als Serviette oder Taschentuch. Englische, französische, italienische, deutsche Zeitungen, Mandolesi las gierig alles, was ihm in die Hände kam.
Nachdem Mandolesi unbestimmt lange in den erbeuteten Zeitungen gelesen hatte, machte er sich wieder zu dem Café in der Via Capranichetta auf, das ihm Croissants spendierte. Auf dem Weg dorthin hoffte er, irgendwoher noch zweitausend Lire für einen Espresso oder besser einen Cappuccino zu ergattern, den er an einem billigen Straßenausschank trinken wollte.
Müde war er bis zur Piazza Minerva gelangt, ohne eine Lira zu erbeuten. Der Morgen war ohnehin dafür immer eine schlechte Zeit. Die Leute waren am Morgen am wenigsten freigebig. Und wenn er nicht noch Geld vom Vortag übrig hatte, gelang es ihm am Morgen zumeist nicht mehr, das Geld für einen Kaffee zusammenzukratzen. Auf der kurzen Strecke von der Piazza Minerva bis zu seinem Café würde er niemandem mehr etwas abnehmen. Resigniert, mehr aus Gewohnheit, musterte Mandolesi im Vorbeigehen die Auslagen einer Buchhandlung an der Piazza. War das da nicht sein Gesicht?! Sein Gesicht aus besseren Tagen? Mandolesi erstarrte vor Schreck. Dort war ein riesiges Plakat mit seinem Gesicht ausgestellt und, er trat näher an das Schaufenster hin, daneben lag ein Stapel Bücher. Sein Buch! Sein Buch war dort gestapelt! Dante come femminista: Dante, der Feminist. Den Einband zierte eine blumenübersäte Wiese, auf der sich junge schöne weibliche Körper im Tanz wiegten, während über ihnen Engel mit halb offenen Mündern schwebten. Ein Stich von Botticelli, der ihm auf Anhieb als Darstellung von Dantes Paradies nicht sehr überzeugend vorkam. Unter den nackten Füßen der weiblichen Gestalten stand klein di Mauro Mandolesi: von Mauro Mandolesi und darunter in großen roten Lettern centomila coppie già vendute: schon hunderttausend verkaufte Exemplare.
Als Mandolesi vollkommen außer sich in die Buchhandlung stürmte, um eines der Bücher näher in Augenschein zu nehmen, drohte ihm lautstark ein Verkäufer, er rufe die Polizei, wenn er nicht auf der Stelle den Laden verließe. Mandolesi wurde schwindelig, verwirrt wankte er wieder nach draußen, lehnte sich keuchend neben dem Laden an eine Hauswand und versuchte sich zu fangen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder einigermaßen klar denken konnte. Vorsichtig schaute er noch einmal ins Schaufenster der Buchhandlung, auf das Plakat. Kein Zweifel, das mußte er sein. Unter seinem Bild fiel ihm jetzt ein filigranes schwarzes Kreuz ins Auge. Das bedeutete, wie es ihm langsam ins Bewußtsein kroch, daß der Autor nicht mehr lebte. Ein Datum, wann er gestorben war, konnte er nicht erkennen. Ein Zittern in den Eingeweiden wandte er sich wieder ab und eilte gleich zur Kirche S. Agostino. Es plagten ihn immer heftigere Bauchkrämpfe, und er mußte dringend das stille Örtchen aufsuchen. Ohne jedes Hindernis erreichte er die Sakristei. Nachdem er sich vehement erleichtert hatte, fragte er sich verstört, was er jetzt tun sollte.
Drei Tage lang ließ Mandolesi nichts unversucht, um klar zu machen, daß er Mauro Mandolesi war, und daß ihm die Tantiemen aus dem Verkauf seines Buches zustanden. Er ging zur Comune di Roma, zur Polizei, tätigte Anrufe mit erbetteltem Geld, flehte alte Bekannte und Freunde an, ging sogar noch einmal in den Laden in der Via Due Macelli. Doch niemand wollte ihm glauben, daß er Mauro Mandolesi war. Niemand leugnete zwar eine gewisse Ähnlichkeit seiner Stimme oder seines Aussehens mit der Stimme und dem Aussehen von Mauro Mandolesi, alle lachten ihn jedoch aus oder wiesen ihn zuletzt mit Drohungen ab, da er keine Papiere vorweisen konnte. Insbesondere ein Maresciallo der römischen Polizei hatte ihn so eingeschüchtert, daß er auf dem Revier wieder zurücknahm, Mauro Mandolesi zu sein. Man hätte ihn andernfalls ohne Zögern in die staatliche Psychiatrie zwangseingewiesen.
Nach vier Wochen härtester Arbeit war es Mandolesi dann gelungen, sich den Kaufpreis seines Buches vom Mund abzusparen. Er las es in einer Nacht auf einer Bank in den Grünanlagen hinter dem Kolosseum im Licht einer Straßenlaterne. Am Morgen trug er es in die Via dei Fori Imperiali und warf es dort in einen der Papierkörbe an einer Bushaltestelle. Auf einmal fühlte er sich wie befreit. Der Inhalt des Buches schien ihm ein ganz anderer zu sein, als der, den er glaubte in Erinnerung zu haben. Ja, es überkam ihn jetzt sogar ein schwaches Wonnegefühl. Was da drin stand, hatte ehrlich gesagt nicht sehr viel mit ihm zu tun. Wahrscheinlich war er doch nicht Mauro Mandolesi. Leichten Schrittes ging er ins Zentrum der Geschäfte und summte vor sich hin. Auf der Piazza Montecitorio blieb er seitlich neben dem Zeitungskiosk stehen, so, daß ihn der Verkäufer nicht sehen konnte. In einem Drahtgestell steckten auf dieser Seite des Kiosks nur die ausländischen Zeitungen. Er starrte auf das Titelblatt der Zürcher Zeitung, las die erste großgedruckte Überschrift und dann rechts oben in der Ecke das Datum. Immerzu klang ihm ein Vers wie eine Melodie in den Ohren: Aus heilger Flut hab ich zurückgefunden, gewandelt bis zu tiefsten Wesenskernen, verjüngt wie Pflanzen, die im Licht gesunden, geläutert für den Aufstieg zu den Sternen. Woher stammten diese schönen Zeilen nur? Hm, er kam jetzt nicht darauf. Non importa: egal. Irgend etwas sagte ihm, daß heute ein guter Tag war, daß er heute das Geld für einen dampfendheißen, schaumgekrönten Cappuccino zusammenbekommen und ihn mit geschlossenen Augen schlürfen würde, um so den himmlischen Genuß des Getränks noch zu steigern, bevor er sich in die Sakristei der Kirche S. Agostino begab.