Sibylle Severus, geb. 1937 in Oberbayern, lebt in Zürich
Das Granitei

Ottilia sitzt im achten Stock hinter dem Fenster und späht.
Ihre Augen haben parallel zum unteren Lid eine Querfalte bekommen vom Hinuntersehen. Ihr Gesicht ist rund und leer vom Warten. Seit Jahren sitzt sie hinter dem Glas, ein Bild wie der Mond, der gerade beginnt abzunehmen.

Es wird gesagt, das Wesen der Tragödie sei eine kleine Ursache mit großer Wirkung. Sollte Ottilias Gefangenschaft eine Tragödie sein, so war die Ursache allerdings klein: sie war gelb.
Ottilia hatte oben auf dem Berg in einer Sennhütte gewohnt, ohne Tageszeitungen und Radio. Eines Morgens war sie vom Berg hinunter in das Dorf gestiegen, von dort mit dem Postbus ins Tal gefahren und mit dem Zug in die Stadt. Ihr einziges Motiv war, mit der ihr eigenen Starrköpfigkeit eine Verabredung einzuhalten. Ottilia war der Ansicht, wenn überhaupt ein fester Punkt in der Welt zu markieren wäre, wenn es eine winzige Wahrheit geben sollte, könne sie nur bei den Worten, die aus ihrem Mund kämen, beginnen, Worte durch die Tat zu einer Wahrheit zu machen, mochte die noch so unerheblich sein. Von den politischen Ereignissen oder gar einem Putsch hatte Ottilia nichts gewußt. Sie hatte ihr schönstes, ihr gelbes Kleid angezogen. Die Farbe war das Zeichen der Leute gewesen, die gestürzt worden waren und gab darum Anlaß zur Verfolgung.
Wenn Ottilia vorher, ab und zu hinunter in das Dorf gekommen war, hatte sie sich zum Einheizen alte Zeitungen besorgt. Zuerst hatte sie Front- und Kehrseite ungelesen zerknüllt.
Etwa bei Blatt vier war der Ofen zum Anzünden gerüstet gewesen. Auf den Fersen vor dem Feuerloch kauernd, hatte sie das gelesen, worauf ihr Blick zufällig fiel: den Bericht über das Verhalten von Steinadler-Paaren oder die Gedichte des Saamen Nils-Aslak Valkeapää. Einige Zeilen blieben haften: "In meinem Gemüt regt es sich/ das Tageslicht, das vor dem Zelt leuchtet/ bricht sich und dringt durch die Löcher."

Am Tag der Verabredung wusch sich Ottilia am Brunnen vor dem Haus mit dem eiskalten Wasser. Als sie ihr festliches Kleid auf der frischen Haut spürte, fühlte sie sich gerüstet,
unverletzlich geworden durch das Gewebe und die leuchtende Farbe. Die Füße steckte sie in Bergstiefel. Die feinen Schuhe packte sie ein.
Im Postauto, das vom Dorf hinunter zur Bahnstation fuhr, war sie zunächst der einzige Fahrgast gewesen. Bis zuletzt noch ein Mann mit zwei Koffern zugestiegen war. Der Chauffeur wollte ihm behilflich sein, doch der Mann wehrte mit aggressiver Gebärde ab. Er zündete sich eine Zigarette an, heftig, als wolle er Holz in Brand setzen, und warf unverschämte Blicke auf Ottilia. Sie sah steif zum Fenster hinaus und überlegte sich mögliche Fluchtwege an der Endstation. Als sich der Mann mit einem Ruck zu seinem Fenster hin abwendete, schaute sich Ottilia den flachen Hinterkopf genau an, die Stirn, die sich kurz und heftig unter dem Schädelhaar hervorwölbte. Die Zigarette wirkte zerbrechlich in seiner Hand. Immer wieder richteten sich seine Blicke auf die junge Frau, auf ihren Körper. Es stand nicht Begierde in seinen Augen, sondern Haß. Ottilia ahnte nicht, daß es die Farbe ihres Kleides war, die den Mann dazu brachte, ihre Person zu fixieren und, wenn sie aufsässig würde, zu vernichten. Doch spürte sie eine dunkle Wand auf sich zukommen. Sie spannte alle Kräfte an, kaltblütig und scharfsinnig zu bleiben und sich nicht durch Unbeherrschtheit zu schwächen.
Wegen einer Föhnlage hatte der Himmel die Farbe hellen Lapislazulis. Das Gras war grell. Die Sonne brachte Bergbäche und den Fluß, der sich unten durchs Tal wand, zum Gleißen. Das Weiß der Gletscher schmerzte. Bei diesen Wetterverhältnissen war jedes Versteck in Fluten von Licht getaucht. Von der flirrenden Helligkeit bekam Ottilia Kopfschmerzen. Sie schloß die Augen und verlor sich in Gedanken.

Ottilia hörte die Melodie ihres Tag und Nacht fließenden Brunnens. Wieder hatte sie zuerst einen Schatten auf dem Wasser gesehen, und dann erst das Spiegelbild eines fremden Menschen. Wieder schaute sie auf und dachte: von diesem Mann muß ich mich also dirigieren lassen, er wird mein Leben verändern. Was ist an ihm, daß er mich so verwirrt, der ungebetene Gast? Der Unbekannte beugte sich über den Brunnen und gab Ottilia die Hand. Unwillkürlich reichte sie ihm beide Hände. So standen sie damals und wußten nicht, daß sie standen.
Ich habe gerade Tee gemacht, hatte Ottilia gesagt. Er war ihr in die Hütte gefolgt, mußte sich unter dem Türrahmen bücken. In der Kammer strichen seine Haare an der Decke entlang. Er trank den heißen Tee in einem Zug, aß ein Stück Brot und fragte, ob Ottilia mit ihm auf den Berg steige. Den Gipfel zeigte er ihr durch das kleine Fenster.
Auf schmalen Pfaden, die sich bald verloren, liefen sie hintereinander her. Erhitzt vom Steigen zog er sein Hemd aus und tanzte mit dem gebräunten Oberkörper eines Menschen, der im Freien arbeitet, vor ihr her. Manchmal drehte er sich um und lachte. Ottilia war das Steigen gewöhnt, doch bei seinem Tempo fiel sie immer wieder zurück, und ihr Puls flog. Kurz vor dem Gipfel sagte der Mann, er warte oben. Sie hatte ständig Angst, ihn zu verlieren, sobald sie ihn nicht mehr sah. Als er nach einigen Serpentinen wieder einmal auftauchte, schrie sie mit ihrer kräftigen Stimme hinauf:
Wie heißt du?
Hansimglück.
So nannte sie ihn eben Hans und ließ das Glück weg.
Triebe von Latschenkiefern hatte sie zwischen den Fingern zerrieben und gierig den Duft eingesogen, der sie erfrischte und sie ermutigte, dem Mann bis auf den Gipfel nachzuklettern. Wie eine Geiß! hatte sie gedacht.

Der Postbus hielt endlich an der Bahnstation im Tal. Weit entfernt von Ottilia stellte sich der andere Fahrgast mit seinen zwei Koffern auf den Bahnsteig. Er sah nicht mehr zurück. Sie schob ihre Ueberempfindlichkeit auf den Föhn.
Als der Zug einfuhr, wartete sie, bis der Mann eingestiegen war, rannte zum vordersten Waggon mit lauter leeren Abteilen. Sie schwang die schwere Tasche ins Gepäcknetz und stand nach Atem ringend. Schweiß lief an ihr herunter. Das Kleid hatte dunkle Flecken. Die Frische nach der Brunnenwaschung war längst verflogen. Im Abteil fühlte sich Ottilia gefangen und ohnmächtig gegen von außen an sie herantretende Ereignisse. Der Zug schleuderte sie in die unbekannte Stadt. Sie stand am Fenster, sah oben auf dem Berg noch einmal ihre Hütte als Punkt und wurde mit hundertzwanzig Stundenkilometern von ihrem vertrauten Platz weggerissen.
Als der Kondukteur kam, stand sie immer noch in ihren schweren Bergschuhen und dem festlichen Kleid, gänzlich verwirrt. Sie hatte vergessen, eine Fahrkarte zu kaufen. Der strenge Mann forderte einen Strafzuschlag, den Ottilia gleichgültig bezahlte. Endlich setzte sie sich, hörte, wie der Schaffner sich mit jeder zuschlagenden Abteiltür weiter von ihr entfernte. Schreie würde niemand hören.
Sie zog die Vorhänge der Gangfenster zu und befreite ihre Füße von den Bergschuhen; stemmte die Tasche wieder herunter, suchte nach anderen Schuhen, fand einen Apfel, versteckte das Portemonnaie, hantierte fahrig und zitternd.
Sie schalt sich eine Närrin und wußte doch, daß sie keine war. Angst. Das jährlich einmal überkochende Quittengelee. War sie einen Augenblick nicht aufmerksam gewesen, wallte es über die Topfränder und breitete sich über den Herd aus.

Ottilia zog einen Zettel aus der Tasche, um sich den Inhalt zum xten Mal einzuprägen, obwohl sie jedes Wort vor- und rückwärts hätte hersagen können: Am dreiundzwanzigsten - das ist heute, sie kontrollierte das Datum auf der Fahrkarte -, am dreiundzwanzigsten treffe ich Hansimglück am Bahnhofplatz der Stadt. Mein Kleid hat die verabredete Farbe. Um fünfzehn Uhr wird er kommen. Sollte er mich nicht sehen, werde ich mit lauter Stimme nach ihm rufen; mein jubelndes A wird allen Lärm übertönen. Sollten wir uns trotzdem nicht finden, werden wir - notfalls Tag für Tag - um fünfzehn Uhr, am Bahnhof sein, bis wir einander entdecken.

Natürlich hatten beide, als sie sich verabredeten, von Telefonen, Funk und Fax gewußt. Aber konnte nicht die Batterie ausgehen, ein Blitz das städtische Stromnetz lahmlegen, würde einem nicht das Mobiltelefon aus der Tasche gestohlen?
Als Hans und Ottilia auf der Bergkuppe im harten, von Silberdisteln durchsetzten Gras gelegen waren, hatten sie das alles vorausbedacht.

Der Zug fuhr in einen Tunnel. Ottilia behielt den Zettel in der Hand. Sie leierte die Worte mechanisch vor sich hin. Oder sie starrte durch den Schmutzfilm des Fensterglases die groben, gespenstisch beleuchteten Tunnelwände an. Schließlich sank Ottilia in einen fortwährend gestörten Schlummer.
Vom Rumpeln der Waggons über den Weichen erwachte sie. Sie zog das Fenster herunter. Der Wind zerrte ihre langen Haare aus dem Rahmen, waagrecht flatterten sie im Luftstrom. Es roch nach Eisen. Zu sehen waren das Gewirr der Gleise, die Signale und Masten, auftauchende Bahnsteige, die sich wieder verloren. Im Hintergrund Häuserblöcke, die als Reklameflächen dienten. Zeichen, die sich im Gedächtnis einprägten und die Aufmerksamkeit von ruhigeren Bildern abzogen. Probeweise rief Ottilia das Wort Hans zum Fenster hinaus. Der Wind riß ihr die Silbe von den Lippen, die augenblicklich im Fahrtlärm unterging. Das Fenster ließ sich nicht mehr schließen. Mit den Fingern wurden die Haare geordnet. Mit drei Griffen wurden sie im Nacken zusammengebunden.

Ottilia nahm ihre Tasche und stieg, als erste Person, ganz vorne aus. Die Leute im Bahnhof liefen gehetzt, nervös, ja ruckartig. Scheinbar ohne Ziel huschten sie dahin, dorthin, schleppten Gebinde, versperrten einander den Weg. Gruppen finsterer Männer und Kioske behinderten die Eiligen. Hohe Lokomotiven glichen erratischen Blöcken. Unvermittelt, fast lautlos, schob sich die eine oder andere rückwärts aus dem Bahnhof.
Ottilia wunderte sich über die vielen Invaliden und Rollstühle. Es sah aus, als würden alle Behinderten die Stadt verlassen. Die Leute wurden gestützt, getragen, in Züge gehoben. Doch glaubte Ottilia eine Erklärung gefunden zu haben: die Hoffnung dieser Menschen lag in einer Pilgerreise, wahrscheinlich fuhren sie in Sonderzügen nach Lourdes.
Ottilia folgte den Hinweisen über Treppen hinauf und hinunter; stand schließlich auf dem Bahnhofplatz. Der weite Raum war ungewöhnlich belebt, befahren, er dröhnte von Lärm und Geschrei. Die junge Frau zog Fuß vor Fuß. Die Tasche wurde mit jedem Schritt schwerer. Hier Hans zu rufen wäre verschwendeter Atem gewesen, und Hansimglück bliebe im Hals stecken.
Die Tasche rutschte von der Schulter. Die Frau blieb mitten im Getümmel stehen, starrte auf den Boden, auf ein Pflänzchen, das aus einer Spalte im Asphalt wuchs. Zwei andere Zeilen von Valkeapää sägten sich durch Ottilias inneren Monolog: "Ich ging/ wenn ich dort sein könnte/
wirklich, zeitlich, auf dem Platz..."
Ein Koffer wurde auf das Unkraut gestellt. Als Ottilia aufblickte, erkannte sie das Gesicht des Mannes aus dem Postbus. Sie spürte einen Stich und schlug nach dem Insekt. Das Männergesicht kam maßlos nahe, jede Pore vergrößerte sich um ein Vielfaches, jedes Haar schwoll zu Fingerstärke an. Die Sonne, die Häuser, Menschen - die aus Lücken nachdrängten, Bäume, alles kippte und verfinsterte sich.
Bevor Ottilia ganz auf das Pflaster hinfiel, packten sie zwei Männer unter den Achseln und trugen sie zu einem Gefährt. Ihre Füße schwebten über dem Boden. Niemand bemerkte, daß die Frau, die den Kopf auf eines Mannes Schulter gelehnt hatte, nicht selbst ging.

Im achten Stock eines Hauses, in dem Ottilia seither hinter dem Fenster sitzt, war sie wieder zu sich gekommen.
Nach und nach konnte sie Farben und grobe Umrisse unterscheiden, dazu gesellte sich ein undeutliches Gesicht, das aber, wenn sie es fassen wollte, wegtauchte ins Nichts. In wachen Stunde dachte sie: Dort liegt Ottilia.
Eine häßliche oder schöne Frau?
Unter Saamen hätte sie als schön gegolten.
Als nächstes fielen Ottilia einzelne Wörter ein: Ich-ging-wenn-ich-dort-sein-könnte-wirklich-zeitlich-auf-dem-Platz. Der Sinn der Worte war nicht zu begreifen.
Tage später entdeckte sie neben sich einen Notizblock mit einem Bleistift. Hansimglück, sagte sie monoton, während sie auf dem Block zu zeichnen begann: einen Schnörkel, aus dem eine Bergkuppe wurde, die Ottilia mit kurzem Gras versah. Unten an den Berg stellte sie ein Strichmännlein und ein Strichweiblein. An den Blatträndern entstand eine Alpenkette mit Tälern, schattigen Wäldern und Felsen. Die Gletscher waren kariert. Ottilias Wangen hatten sich gerötet. Männlein und Weiblein wurden jetzt auf dem Gipfel gezeichnet. Sie standen dicht nebeneinander, den Rücken zum Betrachter. Mit einer Hand beschatteten sie die Augen, mit der anderen umfingen sie sich. In eine Sprechblase über ihre Köpfe kam der Satz: Auf dem Berg rauscht warmer Wind.
Mit exakten Strichen legte Ottilia das Paar auf die Bergkuppe, das Männchen über das Weibchen. Die Sonne war nur noch als Rand zu sehen. Ottilia ließ die Figürchen den Berg hinunterspringen. Weit unten standen glotzende Kühe. Das Paar ragte mit Schultern und Köpfen hinter den Kuhleibern hervor. Auf den einzigen freien Winkel des Blattes skizzierte sie eine Hütte mit einen Brunnen davor. In die Hütte ging das Paar.
Ottilia sank erschöpft zurück. Sie spürte Hansimglück, aber sie erinnerte sein Gesicht nicht und fürchtete sich davor, ihn nie mehr finden zu können.

Eines Nachts, als der Mond bleiche Quadrate auf die Zimmerwände warf, schrak Ottilia aus einem Traum auf. Es hatte sie das Gesicht des Mannes angesehen, den sie in den Fluß gestoßen hatte; worauf sie die Stadt verlassen und einige Jahre in der Berghütte des Großvaters im Verborgenen zubrachte hatte, ohne Strom und Wasser in den vier Wänden.
Dort oben blieben nur das Singen und das Zeichnen, in dem sie einige Fertigkeit erworben hatte.

Als Kind wollte Ottilia Clown werden. Sie hatte sich vor die Spiegel gesetzt und geschminkt. Sie hatte Grimassen geschnitten und die Narrengesichter abgezeichnet, die Augen ernst über dem aufgemalten Lachen. Sie zeichnete den Clown besser als sie ihn spielte. Sie zeichnete auch andere Leute, ohne sich je Skizzen zu machen. Eindrücke hafteten lange in ihrem Gedächtnis, niemand fühlte sich von ihr beobachtet. Später bestand ihre Freiheit darin, keinem von ihrem Zeichnen zu erzählen. Nachts malte sie die Großstadt-Menschen impulsiv auf große, billige Papiere, die sie auf den Schrank legte oder zerriß.

Es gibt Tage, an denen Ottilia meint, es bestehe Hoffnung.
An solchen Tagen singt sie. Viele Menschen sind häßlich, wenn sie den Mund aufreißen, wenn sie die Augen verdrehen und angestrengt singen. Ottilia wird hübscher. Es bilden sich Grübchen in ihren Wangen; ihre Zähne sind zu sehen, einer schöner als der andere. Sie wirft den Kopf ein wenig zurück, die Linie ihres Halses ist makellos. Allerdings schielt sie mit ihren hellblauen Augen beim Singen leicht, und bei einem sehr hohen oder tiefen Ton zieht ihre Nase Fältchen.
Ottilia wurden Gesangsstunden angeboten. Sie überlegte und glaubte, die Beweggründe zu durchschauen. Sie willigte ein. Ottilia wollte singen, aber nur für sich - und aus Freude am Klang. Den Fensterplatz würde sie jedoch nicht verlassen, sich nicht in Konzertsäle begeben und ihre Freunde nicht an Orte locken, deren Gefahren unvorhersehbar wären. Auch würde sie nicht gegen Geld singen, aufgeputzt und geschminkt, mit einer Stimme, die Kunststücke machte wie ein dressiertes Hündchen. Doch mit einem weittragenden Organ könnte sie im richtigen Augenblick über den großen Platz hinweg Hansimglück anrufen, damit er sie hier heraushole. Seine Gestalt würde sie bestimmt erkennen, wenn er eines Tages dort unten auf dem Platz suchend herumliefe. Und ein wirklich reiner Ton ist genauso eine Wahrheit wie jedes gehaltene Wort. Ein reiner Ton ist jede Mühe wert, dachte Ottilia.

Das Zimmer, hinter dessen Fenster die Frau seit Jahren sitzt, scheint zu einer Art Anstalt zu gehören.
Schrecklich ist das Morgengrauen, wenn Ottilia langsam erwacht, wenn Fragen aus den Ecken auf sie losspringen und von den Wänden fallen, wenn böse Gedanken durch den Kopf schwirren. Auch mit zunehmender Helligkeit wird der Zustand nicht besser. Sie braucht alle Kräfte, um die Schatten zurückzudrängen in Wände und Ecken. Das eigentliche und entsetzliche Wesen der Angst ist ihre Gegenstandslosigkeit, fühlt Ottilia.
Gelingt das Einschlafen nicht mehr, ist sie am Tag auf einen Strahl Sonne, auf eine Melodie angewiesen oder auf einen Vogel, der auf ihrem Sims sänge. Schwere, häßlich gurrende Tauben, manchmal erschienen sie ihr groß wie Hühner, oder schreiende Möwen befliegen den Platz. Kleine Singvögel sind nur selten zu sehen.

In ihrer Not nimmt Ottilia den Spiegel vom Nachttisch und schaut hinein, um nicht allein zu sein. Ihr Kopf scheint ihr nicht mehr ganz rund, als hätte er einen Schlag bekommen. Weiß der Irre eigentlich, daß er wahnsinnig ist?
Diese alte Frage stellt Ottilia dem Spiegel. Er ist kein Trost. Er wird zum Schauplatz der Begegnung mit dem Bruder, der im Fluß verschwunden ist. Der zuletzt mit Ottilia gesehen worden war.
Die Frau im Bett erzählt im Spiegel:
Da war meine Angst, allein gehen zu müssen. Mit aufgerissenen Augen lief ich durch die Welt, auf der Suche nach einem Bruder. Gatten und Kinder sind etwas anderes, die meine ich nicht. Ich hoffte, daß einer von fünf Milliarden Menschen, mich begleite wie ein Bruder und ich ihn wie eine Schwester.
Solange wir Zucker hatten, legte ich jeden Abend ein Stück auf den Fenstersims. Ich hoffte, der Storch würde es holen und mir dafür den Bruder bringen.
Es war kein Bruder herbeizuzaubern. Doch die Möglichkeit eines verlorengegangenen Bruders bestand immerhin.
Lange Jahre habe ich nach ihm gesucht. Es schien mir, als verursache der Mangel eine leblose Stelle an mir, ein fühlloses Stück Haut.

An einer Versammlung entdeckte ich ihn. Unter Hunderten habe ich ihn in dem Augenblick, als ich den Saal betrat, erkannt. Ich drängte mich neben ihn. Einmal ergriff er das Wort, redete in einer Sprache, die ich kaum beherrsche. Trotzdem verstand ich ihn. Er war mein Bruder.
Nach der Versammlung, ich war vor ihm hergegangen, lag seine Hand auf meiner Schulter. Ob wir zusammen essen wollten. Während der Mahlzeit hatten wir Mühe, uns zu verständigen, wegen der schreienden Männer am Nachbartisch. Wenn sie in Gelächter ausbrachen, mußte ich mir die Finger in die Ohren stopfen. Gehen wir, sagte mein Bruder. Ich zog die Gabel aus dem Fleisch und verließ augenblicklich den Saal. Auf der Straße lief ich unruhig auf und ab. Endlich trat mein Bruder aus dem Tor und kam auf mich zu. Nach all den Jahren.
Wir wandten uns zum Fluß. Die Nacht war durchscheinend wie eine Dämmerung, obwohl der Uferweg nicht beleuchtet war. Wir gaben uns die Hand und hatten beim Gehen denselben Schritt. Wir waren gleich groß. Augen, Nasen und Schultern hatten wir auf derselben Höhe: ein aufgeklappter Scherenschnitt. Auch hatten wir beide die gleiche Haarfarbe. Ueber unseren Geruch läßt sich nichts sagen, alles an uns war durchtränkt vom Rauch der Gaststube.
Wir sahen die fest verankerte Boje, die von der Strömung mitgerissen wurde und doch standhielt. Die Bäume, die sich dunkler noch als das Wasser im Fluß spiegelten. Wir blieben an der Stelle stehen, an der ein gegenüberliegendes Gebäude rote und goldene bewegliche Lichter auf die Wellen projizierte. Wir schauten den Reihern nach, die aus einem Baum stoben und flach über das Wasser hinflogen, ihre schwarzen Schatten nachziehend. Wir hörten die Musik des Wassers, des Windes und manchmal - weit weg - einen Zug.
Die Glocke eines nahen Klosters kündigte Mitternacht an.
Ich dachte nicht mehr "ich", ich dachte "wir".
Erst später bemerkten wir unsere Müdigkeit, als wir über Unebenheiten des Weges stolperten und die Kühle unter unsere Kleider kroch. Morgenlicht drängte in das Dunkel der Nacht. Mein Rückgrat hatte Mühe, den Körper aufrecht zu halten. Bald würde der Kopf heruntersinken, der Hals, die Schultern. Meine Hände würden den Boden berühren. Nicht der Rede wert bei der Seligkeit, nicht mehr allein gehen zu müssen.
Vor uns eine Brücke. Sie nahm weit im Land ihren Anfang und spannte sich mächtig zum anderen Ufer. Ein gewaltiges Monument für die Eisenbahn, unbegehbar für uns.
Es war kalt. Ich fürchtete mich. Meine Augen wanderten an dem Monument hinunter. Auf dessen halber Höhe, im tiefen Schatten, entdeckte ich eine schmale, kleinere Brücke.
Ueber die kleine Brücke gingen wir leichtfüßig und lachten. In ihrer Mitte stützten wir uns auf das Geländer. Wir sahen auf das Wasser, das wild und schwarz unter uns durchschoß. Mein Bruder begann, von dem Land zu erzählen, in dem er geboren worden war, in einem Jahr, als ich schon zu groß gewesen war, noch Zucker vor das Fenster zu legen.
Der Fluß rauschte. Plötzlich hatte ich Mühe, die fremde Sprache zu verstehen. Ich schloß die Augen.
Ueber die große Brücke donnerte endlos ein Zug.
Als ich die Augen öffnete, war der Mann nicht mehr da.
Ich lief ratlos auf dem Steg hin und her. Ich rannte ein Stück dem Flußlauf entgegen und kehrte wieder um, lief atemlos flußabwärts. Ich hätte den Namen des Mannes gerufen, wenn ich ihn gewußt hätte. So lamentierte ich laut, ein heulendes Kind. Das Wasser neben mir floß unregelmässig über Steine und Schwellen, doch insgesamt schneller als ich lief. Die Sterne verblaßten, der Fluß erhellte sich.
In meinem Kopf dudelte ein Kinderlied.
Eigentlich hätten die Versuche mit dem Zucker von damals vollkommen genügt, mußte ich mir sagen: Es war kein Bruder vorgesehen!
Ich wußte, es ist eine Schuld - alles geglaubt zu haben. Alles, was sie mir vorgemacht hatten: mit der großen Liebe, mit der reinen Angst, der Mensch könne nicht alleine gehen.
Ich wußte nun, daß ich allein zu gehen hatte.

Deine Leistung besteht darin, sagte Ottilia in den Spiegel, nicht auf dem Stuhl zum Fenster zu rollen oder zu kriechen, dich am Sims hochzustemmen, dich nicht rücklings oder kopfüber aus dem Fenster zu kippen, nicht hinunterzufallen wie die vielen Zeichnungen, die du hinausgeworfen hast.
Einmal werden die Blätter Hansimglück in die Hände geraten, und er wird dich zu finden wissen. Du aber bist inzwischen zu einem Ei aus Granit geworden, vollkommen in deiner Form und unverletzlich.

Damals waren Ottilia und Hansimglück weglos vom Berg heruntergestiegen. Sie hatten Pilze gesucht.
Es hatte sich herausgestellt, daß seine Augen die weißen Pilze und ihre, die gelben, erdfarbenen schneller sahen. Sie hatte den Steinpilz und die seltenen Pfifferlinge entdeckt: kahl, etwas fettig anzufühlen, die Hüte wellig geschweift, den Saum abwärts gebogen, gut getarnt im Pflanzengestrüpp.
Auf einer Anhöhe hatte er sie noch einmal gepackt, gehalten und nicht mehr losgelassen. Ottilia liebkosend, hatte er den Weg doch aufmerksam überwacht.
Sie hatte das als Beschütztwerden aufgefaßt.
In der Stube hatten sie die Pilze auf den Tisch geschüttet und sortiert: ein Häufchen leuchtender Pfifferlinge, einen Steinpilz, viele Boviste und Reizker. Den Steinpilz und die Pfifferlinge hatte er mit großer Sorgfalt in eine alte Zeitung gewickelt. Gerührt hatte sie seine Vorsorge abgewehrt, er müsse ihr wirklich nichts übriglassen.
Ich bringe sie meiner Mutter, sie wird Augen machen! hatte er geantwortet.
Ottilia hatte aus der Sprechmelodie und den Frequenzen seiner Stimme die Lüge gehört. Zweifellos hatte er andere Pläne mit ihren Pilzen.
In einem Jahr, wenn wir uns um drei am Bahnhofplatz treffen, wirst du dein gelbes Kleid tragen, Ottilia, und uns Pfifferlinge mitbringen, die essen wir dann ganz allein!
Erst nach der Mahlzeit hatte sie darauf geantwortet.
Heute in einem Jahr, werde sie am Bahnhof der Stadt auf ihn warten. Um drei. Mit Pfifferlingen und einem Steinpilz, wenn es wieder so ein gutes Pilzjahr würde. Er könne sich auf ihr Wort verlassen.

Das glaubt Ottilia sich schuldig zu sein: gegen die Lüge eine Wahrheit zu setzen.

Ottilia hatte das Profil des Fremden betrachtet, während er geistesabwesend zum kleinen Kammerfenster hinaussah. Mechanisch hatte er die linke Vorderpfote der Katze gestreichelt, die er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Das scheue Tier lag wie für die Ewigkeit über seinen Schoß gebreitet, es schnurrte auf höchster Stufe, ohne sich im geringsten zu regen. Bis er die Katze schließlich, zu deren größtem Entzücken, auf den Boden warf.

Er wird auch das Granitei in den Brunnen vor der Hütte werfen, sagte Ottilia im Spiegel. Hinein zum Mond, der dort auf dem Grund längst seinen Platz hat, und zu den flirrenden Punkten einiger Sterne.
Er wird das Granitei mitten durch sein zitterndes Spiegelbild fallen lassen, das vom Wasser bewegt wird, solange es sich im Brunnen zeigt.

Es war auf jeden Fall besser, wenn Objekte gefunden werden konnten.