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Chemische Reinigung Ich arbeite in einer chemischen
Reinigung. Da muß ich Preisschildchen an Kleider heften.
Ich finde Arbeiten schrecklich.
Katharina, genannt Kätchen, gerufen und angeschrien Kätchen,
ist meine Kollegin. Sie ist genauso so alt wie ich, aber völlig
anders ausgefallen, obwohl man uns auf ganz ähnlich Weise
hergestellt hat. Sie hat ungenaue, mollige Konturen und ein Kartoffelgesicht.
Sie ist geistig eingeschränkt. Sie sagt:
"Ej, Silvia, ich mach jetzt ne Diät!", und zählt
mir auf, was sie innerhalb dieser Diät alles gegessen hat.
Es nimmt gar kein Ende.
"...Aber nach dem Abendbrot hab ich dann gar nichts mehr
gegessen. Nur noch eine Tafel Schokolade. Aber das macht nichts,
das war keine richtige. Das war eine, weißt du, so zärtlich,
so bitterlich."
Sie erzählt mir eine wirre, traurige Geschichte von Bernhard
Brink, dem Schlagersänger, der sie auf die Bühne geholt
hat, damit sie mit ihm sang, und von einem Typen, der sie in
sein Auto geholt hat, damit sie ihm einen bläst. Aber sie
kann es nicht richtig erzählen, es geht alles durcheinander,
Bernhard Brink, der Typ, das Auto, die Bühne... . Wie löchrig
ihr Bild von der Wirklichkeit ist. Sie erlebt nur Bruchstücke.
Es ergibt keinen Sinn. Alles stößt ihr zu, sie nimmt
es hin. Sie wird ausgenutzt, das nennt man Leben. Sie lacht mich
freundlich an.
Weber ist der Freund meiner
Chefin. Jeden Morgen läßt er sich von Kätchen
die Bildzeitung holen. Dann legt er seinen schweren Bauch auf
die Theke und liest die ganze Zeitung. Sogar das Kreuzworträtsel
löst er. Er hat behaarte Hände und schöne, glitzernde
Augen.
Wie mag das aussehen, wenn sie es miteinander machen? Chef und
Chefin aufeinander. Seine haarigen Hoden unter dem dicken, harten
Bauch, und auf der anderen Seite sein Hintern, aus dem er auch
A-A macht... und sie so in ihrem losen Fleisch, und ihrer Haut,
mit ihrem seltsam ausgeleierten Mund.-
Ist doch egal, wie es aussieht. Die Menschen fühlen was
dabei, das ist doch gut.
Kätchen sagt:
"Ej Silvia, ich hab mir drei neue Tieschörtse gekauft!
Eins mit so... die Blauen, wo immer im Fernsehn, weißt
du?"
Vielleicht meint sie die Schlümpfe.
"Die Schlümpfe?
h... ej, boh, guck mal die Frau
da hinten, die ist aber dick, ne? Ich bin nicht dick. Hier, fühl
mal! Alles nur Fett, ne? Ich bin nicht dick, ne?"
Sie trollt sich, die Bildzeitung zu der alten Frau über
der Reinigung bringen. Als sie zurückkommt, riecht sie nach
Kaffee, und hat Kuchenkrümel in den immer nassen Mundwinkeln.
"Na?" fragt sie, und legt den Kopf schief, und lächelt
wie ein Kind. "Gestern war ich spazierengegangen."
"Ich auch," sag ich.
"Du auch?" fragt sie, begeistert, daß wir was
gemeinsam haben. "War schön gestern, ne? Spazieren
und zurück. Ej, der Uwe, von meiner Schwester das Kind,
der ist jetzt 3 Jahre. Schönes Alter für ein Kind,
ne?"
Sie schaut mir erwartungsvoll in die Augen.
"Gestern war schön im Fernsehn," sagt sie. "Otkar
Wollis. Den Tatort, weißt du? Der Hund auf den Mann los,
ej! Und nachher, wo die da alle in der Kirche lagen, mit die
Tücher. Das war ALLES mit Tücher! Das war ... ich kann
gar nicht sagen, wie. Schön."
Das Chefbaby, Enkelkind meiner
Chefin, wird hereingerollt. Apathisch und mißtrauisch äugt
es herum. Chef und Chefin machen das übliche Affentheater
um es. Das Kind reagiert nie darauf. Es lächelt nicht, knatscht
nicht, guckt nicht, wenn man guckmal sagt. "Es ist nur zu
faul dazu," sagt die Chefin. Es ist auch zu faul zum Gehen.
Das kann es immer noch nicht. Es fällt immer um mit seinem
Gehlern-Gestell.
"Weil es so kräftig ist!" sagt die Chefin. "Schauen
Sie mal, was der für ein breites Kreuz hat!" Die Chefin
ist stolz. "Das ist ein ganz schöner Brocken!"
Frau Berduschek, die Büglerin
in der Chemischen Reinigung,ist besessen von ihren Kindern.
"Ich bin mal gespannt, was mein Ralf diesmal in Deutsch
für eine Note kriegt!" sagt sie.
"Mal rechnen: Letztes Mal hatte er eine 5, davor eine 4.
Im Mündlichen steht er zwischen 2 und 3. Wird das eine 3
oder 4?" Sie sieht mich fragend an. "Also eine 5 im
Diktat, dann eine 4, die Arbeit war 4 plus. Die letzte war 2,
das ist 9, 13, 15 durch 4: Da dürften die ihm eigentlich
keine 5 geben. Ne? Ich weiß jetzt wohl nicht, wie die das
Mündliche berücksichtigen. Da steht er 4. Aber eine
5 dürfte es trotzdem diesmal nicht werden."
In Wirklichkeit geht das noch viel länger so. Letzten Monat
quälte sie mich mit der Telefonrechnung. Wir haben nämlich
gleichzeitig Telefon gekriegt, und sie wollte immer wissen, ob
ich schon meine Telefonrechnung hätte.
"Ich bin mal gespannt," sagte sie, "was ich für
diesen Monat zahlen muß! Haben Sie ihre Telefonrechnung
schon gekriegt? Da müßte ja eigentlich auch die Grundgebühr
mit drauf sein. Und natürlich die für den Monat. Aber
ich weiß jetzt nicht, ob die das getrennt abrechnen. Oder
ob die das vorher oder nachher abrechnen? Bekannte von uns mußten
letzten Monat 200 Mark zahlen. Da waren wohl viele Ferngespräche
dabei. WIR führen ja fast nur Ortsgespräche. Na, ICH
bin mal gespannt!"
Sie grinste, wie auf alles gefaßt. Jeden Morgen dieses
Thema, sie machte mich ganz verrückt damit. Ich warf "Da
haben Sie recht!" und "Na klar!" in jede Lücke,
die sie ließ, um einen Punkt zu machen, und mit der Quälerei
aufzuhören. Doch das bestätigte sie nur und ermunterte
sie, weiterzumachen.
Meine neue Kollegin Frau Müller
sagt, eine Frau in ihrem Alter könne keine roten Jersey-Hosen
mehr tragen. Sie hat Angst, allein in ein Cafe zu gehen. Sie
sagt, ein kleiner Hitler wäre da gut. Frau Müller setzt
sich jetzt dafür ein, daß ich eine ernsthafte Berufsausbildung
beginne, und wenn es nur Verkäuferin ist. Sie erzählt
mir, wie schlimm es bei anderen Leuten in der Wohnung aussieht,
und wie unmöglich die anderen Leute auch selber aussehen...:
"Und da hab ich auf ihre Hände geguckt, und da hatte
sie sooo dicken Dreck unter den Fingernägeln! Und das Klo
- wenn ich mich auf dieses Klo setzen müßte, bekäme
ich die Gelbsucht!"
Die Büglerin Frau Berduschek weiß dazu eine Geschichte
von Gelbsuchten, und von da kommt man auf Krebs, Plastikdärme
und Geburten. Frau Berduschek:
"Das dritte Kind, das habe ich so schnell gekriegt, da hatte
mein Mann seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, da war
es schon da! Ich sag immer: Zum Zahnarzt Gehen ist das Schlimmste!
Kinder kriegen könnt' ich laufend. Aber zum Zahnarzt? Ne!
Da bin ich ganz ehrlich drin. Da leg ich mich lieber in den Kreißsaal."
Die Sonne scheint laut und brüllt,
und die Stadt ist voller Mofas mit geilen Jungen drauf. Gerade
kam so ein Junge auf 'nem Mofa bei der chemischen Reinigung um
die Ecke gesaust, er hatte sich seine Shorts runtergezogen und
lächelte stolz über sein steifes Glied, das sich der
Sonne entgegenreckte. Er schaute grinsend um sich und erwartete
Reaktionen, wenn nicht Applaus. Die Leute schüttelten mit
den Köpfen und regten sich auf.
Da kommt meine Chefin wieder
vom Einkaufen. Ungeschlacht jagt ihr großer Hund um sie
herum, dann geht er toben zwischen den frisch gereinigten Sachen,
und schmiert seinen Geifer dran. Kätchen haßt ihn
deshalb, sie muß seinen Schleim immer überall wegmachen.
Die Chefin will ihn selbst gern wieder verkaufen, aber sie wird
ihn nicht los, weil er zu teuer ist, ein schicksalhafter Umstand,
gegen den sie völlig machtlos ist. Chefin:
"Wir wollen sicher sein, daß er in gute Hände
kommt. Aber umsonst abgeben können wir ihn nicht!"
Alle meine Kolleginnen pflichten ihr bei: Umsonst geht gar nichts.
Heute versanken wir in wüsten
Kleiderhaufen. Die Stangen bogen sich, und die Säcke krachten.
Ganz Merkstein läßt seine von Karnevalskotze beschmierten
Sachen chemisch reinigen.
Herr Weber stand wuchtig und unbeweglich hinter der Theke und
machte keinen Finger krumm.
Dann ist die ganze Kleiderstange zusammengebrochen. Alle Klamotten
lagen im Staub. Das war mir eine finstere Genugtuung.
*
Der Heilige Abend war wieder
warm wie Pipi.
Die Menschen schwitzten in ihren dicken Mänteln und knöpften
sie nicht zu, so daß sie ein sehr unordentliches Bild abgaben.
Die Regale mit den Weihnachtsschnitzereien waren durchwühlt,
und beinah leer.
Ich hatte Angst. Aber ich würde es tun.
Ich würde jetzt zu Kochs reingehen und die Ohrringe aus
dem Schaufenster kaufen.
"Na, Silvia, was machst du denn noch so?"
Ich hatte diesen Satz schon über meinem Kopf hängen
gespürt, seit ich in Kochs Drogerie reingekommen war. Ich
wußte, daß er auf mich fallen würde. Frau Kochs
wollte eine Antwort darauf von mir, zum Weitererzählen.
Ich fing aus Verlegenheit an, wirklich zu sagen, was ich mache.
Also Arbeiten in der chemischen Reinigung, aber eigentlich Musik
in einer Punkband, aber auch Schreiben, und überlegen, ob
ich doch studieren soll, und was. Eins klang wie eine Entschudigung
für das andere.
Frau Kochs Tochter Birgit war meine beste Freundin gewesen, von
13 bis 16. Ich durfte manchmal bei ihr in Merkstein übernachten.
Ich wohnte damals bei meinen Eltern auf dem Dorf, und das pisselige
Merkstein war für mich eine Stadt.
Autos waren wahnsinnig laut, und Betrunkene schrien wie ich es
noch nie gehört hatte. Es war mir peinlich, daß alle
in der Wohnung mitkriegten, daß ich aufs Klo ging, und
Pipi machte, und wie oft.
Morgens saßen Herr und Frau Kochs in Morgenmänteln
am Frühstückstisch. So etwas hatte ich noch nie gesehen,
in Morgenmänteln! Es gab Strammen Max. Dann sind wir zwei
Stunden mit dem Mercedes gefahren, und dann mußte ich kotzen.
Frau Kochs sagte: "Oje, du Arme. Wir halten da hinten an
der Brücke an. Da ist ein Geländer."
Ich verstand, daß sie meinte, ich solle auf das Geländer
kotzen. Ich fand das seltsam, tat das aber brav. Ich kannte mich
ja nicht aus in der großen Welt. Ich selber hätte
es sinnvoller gefunden, von der Brücke runter zu kotzen.
Aber wenn sie es so haben wollte.
Sie lachte sich kringelig, und ich begriff. Ich fand das Lachen
nett von ihr. Ich hab die Szene überlebt. Aber ich finde
das Leben sehr, sehr anstrengend.
*
Es ist für mich oft solch
ein Eiertanz, ein Spießrutenlauf. Die anderen scheinen
so sicher zu gehn, auf Eiern, trotz Spießen. Kann man lernen,
sagen sie. Aber so war das nicht gemeint.
*
Ich muß jetzt erzählen,
wie ich schuldig wurde am Tode zweier armer Kerle.
Hansi und Mausi waren mir aufgezwungen worden. Keiner hatte die
beiden Wellensittiche gewollt, weil der eine von ihnen den Flügel
gebrochen hatte, und nur durch die Luft auf die heiße Herdplatte
trudeln oder hinter den Kohleofen fallen konnte. Es roch schmerzhaft
nach verbrannten Hornfüßchen, wenn er es wieder getan
hatte.
Wenn sie mich mit der Futtertüte kommen sahen, schrien meine
Vögel aufgeregt und flatterten herum wie Teenager bei einem
Rockkonzert, wenn ihr Star auf die Bühne kommt.
Aber wenn dann ihr Futter im Käfig lag, rührten sie
es nicht an. Sie quetschten sich ängstlich an die Stäbe
und äugten aus den Winkeln schüchtern zu den Körnern
hin. Oder taten, als sähen sie sie gar nicht, pfiffen gleichgültig,
guckten aus dem Fenster, und schaukelten auf der Schaukel. Es
dauerte sehr lange, bis der erste sich ein Korn holte, verstohlen,
hastig wie ein Dieb.
Ich hab versucht, Zugang zu ihnen zu finden. Ihnen zu vermitteln,
daß sie mir leid taten und ich an ihrem Scheißleben
nicht schuld war. Ich überlegte oft, ob ich sie nicht freilassen
sollte, ein Rausch, und dann frißt sie die Katze oder der
Geier.
Aber wir blieben uns fremd. Ich verstehe nichts von Vögeln.
Irgendwann vegetierten sie nur noch nebenher. Kriegten Futter,
sauber gemacht, das war's. Das war zu wenig. Eines Tages, als
mein Freund Kurt und ich heimkamen, sahen wir, daß der
Körperbehinderte sich in der Blumengießkanne ertränkt
hatte. Ein paar Tage später lag der andre tot im Käfig.
*
Rosi, die Frau, die unter mir
wohnt, heizt wie der Teufel. Sie macht unser Wasser in den Leitungen
warm, und unsere Wände sind so heiß, bald fängt
die Tapete an, zu brennen, und der Boden sackt durch, und ich
falle in Rosis Wohnung, und muß mein Leben lang Likör
trinken und fernsehgucken.
Ich will auch so ein Schlafzimmer im Kontroll-Look wie Rosi,
mit Schaltern und Knöpfen am Bett, um alles zu verstellen!
Eine Küche wie Schweinebraten. Alt, deutsch, echt, Eiche.
Nein. Ich hab nur Quatsch gemacht. Ich bin besoffen. Aber immerhin
toll, daß mir nicht schlecht davon wird.
Mir ist mal schlecht davon geworden, vor zwei Jahren, auf einer
Fete.
Ich hatte das noch am selben Abend für immer verdrängen
wollen, aber mir wurde es doch am nächsten Tag wiedererzählt:
daß ich zum Klo getorkelt wäre, und daneben gekotzt
und nicht mal dran gedacht hätte, das aufzuwischen.
Ich hab immer gedacht, das Jüngste Gericht käme erst
nach dem körperlichen Tod. Die Scham, die Schande. Aber
Gott wartet nicht so lange. Gott quält und quält. Ich
habe mir seitdem fast zweitausend Jahre lang die Zähne geputzt,
aber ich spüre den Makel. Er bohrt ein Loch in alles. Er
stellt alles in Frage.
Ich bin der Fliegende Holländer der Kotze.
Ich ging am "Imbiß
Futterkrippe" vorbei, und der alte versoffene Hugo winkte
mit seinem Krückstock von der anderen Straßenseite,
er hatte sich eine Fritte gekauft.
"Eh, was macht der Kurt noch? Hat er noch seine Band?"
rief er zu mir rüber.
Ja, das sind so die Geschichten, die man in meiner Heimat Merkstein
erlebt. Und das sind noch die Highlights.
Inder Nacht zuckten meine Füße
dann erst, und dann lösten sie sich von mir und gingen jeder
in eine andre Ecke zappeln. Das geschieht manchmal mit meinen
Gliedmaßen nachts. Es macht mir jedesmal Angst, aber etwas
Schlimmes ist dabei noch nie passiert. Man sieht es nicht. Das
Herz schlägt dabei schnell, wie ein Trommelwirbel bei einer
Zirkusattraktion.
Wenn man dann aufsteht und zur Toilette geht, kommt man sich
vor wie ein surrealistisches Kunstwerk, mit dem Kopf unter den
Armen, den Fingern neben den Ohren, und den Füßen
in einer fernen Galaxie. Man erwartet, daß ein abgeschnittener
Kopf einen anglotzt, wenn man den Klodeckel aufmacht. Oder daß
man, in Scheiben geschnitten, zerfällt wie ein Ei im Schneider.
Aber das passiert nicht.
Am Morgen warfen meine Nachbarn
wieder ihre Mördersägen an. Meine Füße
fingen wieder mit dem Schwitzen an. Sie waren noch dran, oder
wieder dran.
Unten auf der Straße bereitete
der Junge von nebenan eine Knaller-Attacke auf mich vor. Seine
Mutter hörte Heino, in Heavy-Metal-Lautstärke, bei
offenem Fenster.
Aus der Wohnung gegenüber schaute ein alter Mann den kleinen
Kindern zu beim Spielen, mit todernstem, grauen Gesicht.
Rosi bläkte mit einer Frau,
die vor ihrem immer offenen Fenster stehengeblieben war. Sie
erzählte ironisch aufgemotzte Sachen von Dieter. Sie spielt
immer alles so hoch.
Aber es stimmt, ich hatte es auch gehört. In der Nacht war
Dieter, ihr Mann, kurz nach mir aus der Kneipe heimgekommen,
und schon auf der Straße hatte er "Pünzjen! Pünzjen!"
nach ihr gerufen. Er war so zärtlich und so glücklich
vom Saufen, obwohl er krank ist und jeden Tag in einer Fabrik
arbeiten muß.
Dann warf er seine neue Stereoanlage an und drehte alle Knöpfe
auf.
"You can ring my be-he-hell, ring my bell," sang Anita
Ward.
Erst wollte ich wirklich bei ihm klingeln gehen, aber dann dachte
ich, der macht das doch bestimmt nicht lang so laut. Nur bis
sein Schnitzel halbwegs auftaut und er mit letzter Kraft versucht,
das Ding zu essen. Und so war es auch. Aber bis dahin hatte er
viel Spaß mit seinem Stereo, und drehte den Lautstärkeregler
bis zum Anschlag, wenn die Synthie-Drums mit ihrem "Wuh!
Wuh!" einsetzten, das ihn faszinierte. "Wuh! Wuh!"
Ich hörte ihn tanzen und
mitjaulen. Der verrückte Mensch.
*
Gestern abend kam ein Auto langsam
an mich herangerollt und hielt mit mir Schritt. Sein Fahrer steckte
den Kopf aus dem Fenster und rief mich leise:
"Hallo, willst du mitfahrn? Komm doch näher. Komm,
steig ein."
Sein Auto war neu und sauber. Aber ich dachte, das ist bestimmt
ein Triebverbrecher, der da drin sitzt, nachher bist du tot.
Man weiß nicht, was noch nachher kommt, und so bleibt man
lieber vorsichtig am Leben, das man kennt.
Also sagte ich dem Mann ab.
Ich ging nach Hause und konnte natürlich nicht schlafen.
Ich wünschte mir, das Telefon klingelte, er wär dran
und würde schwer atmen. Solche Männer haben Mut. Aber
natürlich werden sie abgewiesen.
Sie irren weiter in ihren lüsternen Autos durch die Nacht,
unbefriedigt, ruhelos, allein. Niemand steigt zu ihnen ein. Sie
müssen sich an einer Tankstelle ein Heftchen kaufen und
sich darüber ergießen.-
Aus den dem Sommerabend geöffneten Fenstern in meiner Straße
hörte ich die Fernseher in den Wohnungen reden. Die Leute
davor konzentrierten sich auf das Wesentliche, das als Licht
in ihre Wohnzimmer geschüttet wurde. Die Fernseher wurden
ihre Programme los an die Hirne. Da gingen sie dann weiter und
vermischten sich mit uralten genetischen Informationen zu einem
dicken, nebligen Wahn.
Das gelbe Licht der untergehenden Merksteiner Sonne linste noch
einmal scheel über den Tellerrand und wälzte sich dann
faul ganz auf die andre Seite.
Eine paranoide Amsel warnte unablässig vor Gefahren.
Von den fernen Feldern brüllte eine Kuh vor Schmerzen, vor
Geilheit.
Kuh, es ist schwer. Ich weiß, ich ziehe solche Männer
an wie den im Auto grade. Sie sitzen auf Bänken, an denen
ich an warmen Tagen vorbeispaziere, und machen sich die Hosen
auf, wenn sie mich sehen. Sie streicheln sich und schauen mich
dabei an. Ich tue, als sähe ich es nicht, aber das ist doch
absurd: Achtlos vorbeigehen an Reihen von Männern, die
mir mit ihren Erektionen salutieren.
Es gab in Merkstein einen Mann, der zog sich eine Eselsmaske
an, und er kletterte nachts an den Häusern hoch, und brach
in die Wohnungen ein, in denen eine Frau allein war. Ihm war
es egal, wie die Frauen aussahen, und wie alt sie waren. Er brach
einfach überall ein. Ich finde das gut, was der Mann da
gemacht hat. Ich finde das gut.
Ich schaltete das Radio ein.
"Heute passiert's! Heute passiert's! Heut zeig ich ihr,
was ich kann!" sang Peter Rubin drohend und wild in "Musik
zum Träumen", WDR 4. Aber wann ist das denn: 'Heute',
Peter? Das war schon. Du hast es verpaßt. Howard Carpendale
war geknickter und bescheidener.
"Ich geb mir selbst ne Party, eine einsame Party. Und ich
trinke mein Glas leer. Und ich träum, daß es schön
wär, würde heut nacht aus der Party allein eine Party
zu zwein."
Ich machte meine Wasserfall-Lampe an. Es sind die Viktoria-Fälle
drauf, glaube ich. Drauf gemalt, und dahinter bewegt sich was,
eine Folie mit Wellen. Je heißer die Birne wird, umso schneller
bewegt sich die Folie, und der Fall schwillt an und sprudelt,
jedoch alles nur innerhalb des Lampenschirms, es ist alles nur
Illusion.
Vielleicht kommt nach dem Tod
erst die richtige Zeit für mich, in der die Leichen übereinander
herfallen wie Krokodile, und sich gegenseitig voller Ernst und
Abgrund vergewaltigen.-
Rumpelstilzchen kann nicht aufhören,
seinen Namen zu nennen, und zu tanzen, um sein Haus, sein heißes,
kleines Haus. Und Schlampi hört nicht auf, zu spielen. Im
dunklen Wald, wo Schlampi haust, spielt sie mit Ideen wie mit
Puppen, die sie auszieht, und nackt aufeinanderlegt.
Ich will meinen Kopf ablegen
wie einen Helm. Dann werden die Jungen mit ihm Fußball
spielen. Sie werden ihre Schwänze in den Mund meines Totenschädels
stecken, und ich werde nicht beißen; ich bin lieb bis an
mein finsteres Ende.
*
Ich hab ihn nicht mehr wiedergesehen,
den Mann mit dem Auto, mit dem ich nicht weggefahren bin. Das
Leben hatte keinen Bock mehr. Es fand, es sei genug.
Das macht es mit vielen Sachen so. Sie fangen an, laufen schief,
werden schwach, bleiben dahingestellt. Es ist nicht so, wie ich
es mir als Kind vorgestellt habe. Es wurde immer zu viel Reklame
für das Leben gemacht.
Und jetzt weiß keiner mehr, wie's wirklich ist.
*
Eigentlich möchte ich immer
nur so bleiben wie ich jetzt hier liege, hier im Gras. Doch das
geht nicht. Ich müßte Angst haben, daß ich sterbe.
Weil ich so kein Geld verdienen würde. Aber man stirbt auch,
wenn man Geld verdient.
Die Adler würden mir die Leber aus dem Bauch picken.
Nichts gegen Adler.
Nichts gegen Leber.
Aber Leben? Was ist damit? Was soll damit sein?
Wo ich heute mit dem Fahrrad war, das ist der westlichste Teil
von Deutschland, der Selfkant. Es gibt da ein Tiergehege mit
Löwen, genannt die "Löwen-Safari". Auf dieser
Safari hat einmal ein Indianerhäuptling gearbeitet. Sie
haben in der Zeitung über ihn berichtet. Er wollte zurück
zu seinem Stamm, wenn er genug Geld verdient hätte. Doch
jetzt ist er tot.
Er ist von einem Auto überfahren worden.
*
Der Forsythienstrauß blüht
in stiller Pracht in der blauen Vase.
Zwei alte Männer gehen an der chemischen Reinigung vorbei
und reden ganz laut:
"Eine Fistel am Steißbein ?"
Dann sind sie weg.
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