Silvia Szymanski. Geb. 1958 in Merkstein, Rheinland. Lebt in Übach-Palenberg.

Chemische Reinigung

Ich arbeite in einer chemischen Reinigung. Da muß ich Preisschildchen an Kleider heften. Ich finde Arbeiten schrecklich.
Katharina, genannt Kätchen, gerufen und angeschrien Kätchen, ist meine Kollegin. Sie ist genauso so alt wie ich, aber völlig anders ausgefallen, obwohl man uns auf ganz ähnlich Weise hergestellt hat. Sie hat ungenaue, mollige Konturen und ein Kartoffelgesicht. Sie ist geistig eingeschränkt. Sie sagt:
"Ej, Silvia, ich mach jetzt ne Diät!", und zählt mir auf, was sie innerhalb dieser Diät alles gegessen hat. Es nimmt gar kein Ende.

"...Aber nach dem Abendbrot hab ich dann gar nichts mehr gegessen. Nur noch eine Tafel Schokolade. Aber das macht nichts, das war keine richtige. Das war eine, weißt du, so zärtlich, so bitterlich."
Sie erzählt mir eine wirre, traurige Geschichte von Bernhard Brink, dem Schlagersänger, der sie auf die Bühne geholt hat, damit sie mit ihm sang, und von einem Typen, der sie in sein Auto geholt hat, damit sie ihm einen bläst. Aber sie kann es nicht richtig erzählen, es geht alles durcheinander, Bernhard Brink, der Typ, das Auto, die Bühne... . Wie löchrig ihr Bild von der Wirklichkeit ist. Sie erlebt nur Bruchstücke. Es ergibt keinen Sinn. Alles stößt ihr zu, sie nimmt es hin. Sie wird ausgenutzt, das nennt man Leben. Sie lacht mich freundlich an.

Weber ist der Freund meiner Chefin. Jeden Morgen läßt er sich von Kätchen die Bildzeitung holen. Dann legt er seinen schweren Bauch auf die Theke und liest die ganze Zeitung. Sogar das Kreuzworträtsel löst er. Er hat behaarte Hände und schöne, glitzernde Augen.
Wie mag das aussehen, wenn sie es miteinander machen? Chef und Chefin aufeinander. Seine haarigen Hoden unter dem dicken, harten Bauch, und auf der anderen Seite sein Hintern, aus dem er auch A-A macht... und sie so in ihrem losen Fleisch, und ihrer Haut, mit ihrem seltsam ausgeleierten Mund.-
Ist doch egal, wie es aussieht. Die Menschen fühlen was dabei, das ist doch gut.

Kätchen sagt:
"Ej Silvia, ich hab mir drei neue Tieschörtse gekauft! Eins mit so... die Blauen, wo immer im Fernsehn, weißt du?"
Vielleicht meint sie die Schlümpfe.
"Die Schlümpfe? …h... ej, boh, guck mal die Frau da hinten, die ist aber dick, ne? Ich bin nicht dick. Hier, fühl mal! Alles nur Fett, ne? Ich bin nicht dick, ne?"
Sie trollt sich, die Bildzeitung zu der alten Frau über der Reinigung bringen. Als sie zurückkommt, riecht sie nach Kaffee, und hat Kuchenkrümel in den immer nassen Mundwinkeln.
"Na?" fragt sie, und legt den Kopf schief, und lächelt wie ein Kind. "Gestern war ich spazierengegangen."
"Ich auch," sag ich.
"Du auch?" fragt sie, begeistert, daß wir was gemeinsam haben. "War schön gestern, ne? Spazieren und zurück. Ej, der Uwe, von meiner Schwester das Kind, der ist jetzt 3 Jahre. Schönes Alter für ein Kind, ne?"
Sie schaut mir erwartungsvoll in die Augen.
"Gestern war schön im Fernsehn," sagt sie. "Otkar Wollis. Den Tatort, weißt du? Der Hund auf den Mann los, ej! Und nachher, wo die da alle in der Kirche lagen, mit die Tücher. Das war ALLES mit Tücher! Das war ... ich kann gar nicht sagen, wie. Schön."

Das Chefbaby, Enkelkind meiner Chefin, wird hereingerollt. Apathisch und mißtrauisch äugt es herum. Chef und Chefin machen das übliche Affentheater um es. Das Kind reagiert nie darauf. Es lächelt nicht, knatscht nicht, guckt nicht, wenn man guckmal sagt. "Es ist nur zu faul dazu," sagt die Chefin. Es ist auch zu faul zum Gehen. Das kann es immer noch nicht. Es fällt immer um mit seinem Gehlern-Gestell.
"Weil es so kräftig ist!" sagt die Chefin. "Schauen Sie mal, was der für ein breites Kreuz hat!" Die Chefin ist stolz. "Das ist ein ganz schöner Brocken!"

Frau Berduschek, die Büglerin in der Chemischen Reinigung,ist besessen von ihren Kindern.
"Ich bin mal gespannt, was mein Ralf diesmal in Deutsch für eine Note kriegt!" sagt sie.
"Mal rechnen: Letztes Mal hatte er eine 5, davor eine 4. Im Mündlichen steht er zwischen 2 und 3. Wird das eine 3 oder 4?" Sie sieht mich fragend an. "Also eine 5 im Diktat, dann eine 4, die Arbeit war 4 plus. Die letzte war 2, das ist 9, 13, 15 durch 4: Da dürften die ihm eigentlich keine 5 geben. Ne? Ich weiß jetzt wohl nicht, wie die das Mündliche berücksichtigen. Da steht er 4. Aber eine 5 dürfte es trotzdem diesmal nicht werden."
In Wirklichkeit geht das noch viel länger so. Letzten Monat quälte sie mich mit der Telefonrechnung. Wir haben nämlich gleichzeitig Telefon gekriegt, und sie wollte immer wissen, ob ich schon meine Telefonrechnung hätte.
"Ich bin mal gespannt," sagte sie, "was ich für diesen Monat zahlen muß! Haben Sie ihre Telefonrechnung schon gekriegt? Da müßte ja eigentlich auch die Grundgebühr mit drauf sein. Und natürlich die für den Monat. Aber ich weiß jetzt nicht, ob die das getrennt abrechnen. Oder ob die das vorher oder nachher abrechnen? Bekannte von uns mußten letzten Monat 200 Mark zahlen. Da waren wohl viele Ferngespräche dabei. WIR führen ja fast nur Ortsgespräche. Na, ICH bin mal gespannt!"
Sie grinste, wie auf alles gefaßt. Jeden Morgen dieses Thema, sie machte mich ganz verrückt damit. Ich warf "Da haben Sie recht!" und "Na klar!" in jede Lücke, die sie ließ, um einen Punkt zu machen, und mit der Quälerei aufzuhören. Doch das bestätigte sie nur und ermunterte sie, weiterzumachen.

Meine neue Kollegin Frau Müller sagt, eine Frau in ihrem Alter könne keine roten Jersey-Hosen mehr tragen. Sie hat Angst, allein in ein Cafe zu gehen. Sie sagt, ein kleiner Hitler wäre da gut. Frau Müller setzt sich jetzt dafür ein, daß ich eine ernsthafte Berufsausbildung beginne, und wenn es nur Verkäuferin ist. Sie erzählt mir, wie schlimm es bei anderen Leuten in der Wohnung aussieht, und wie unmöglich die anderen Leute auch selber aussehen...:
"Und da hab ich auf ihre Hände geguckt, und da hatte sie sooo dicken Dreck unter den Fingernägeln! Und das Klo - wenn ich mich auf dieses Klo setzen müßte, bekäme ich die Gelbsucht!"
Die Büglerin Frau Berduschek weiß dazu eine Geschichte von Gelbsuchten, und von da kommt man auf Krebs, Plastikdärme und Geburten. Frau Berduschek:
"Das dritte Kind, das habe ich so schnell gekriegt, da hatte mein Mann seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, da war es schon da! Ich sag immer: Zum Zahnarzt Gehen ist das Schlimmste! Kinder kriegen könnt' ich laufend. Aber zum Zahnarzt? Ne! Da bin ich ganz ehrlich drin. Da leg ich mich lieber in den Kreißsaal."

Die Sonne scheint laut und brüllt, und die Stadt ist voller Mofas mit geilen Jungen drauf. Gerade kam so ein Junge auf 'nem Mofa bei der chemischen Reinigung um die Ecke gesaust, er hatte sich seine Shorts runtergezogen und lächelte stolz über sein steifes Glied, das sich der Sonne entgegenreckte. Er schaute grinsend um sich und erwartete Reaktionen, wenn nicht Applaus. Die Leute schüttelten mit den Köpfen und regten sich auf.

Da kommt meine Chefin wieder vom Einkaufen. Ungeschlacht jagt ihr großer Hund um sie herum, dann geht er toben zwischen den frisch gereinigten Sachen, und schmiert seinen Geifer dran. Kätchen haßt ihn deshalb, sie muß seinen Schleim immer überall wegmachen. Die Chefin will ihn selbst gern wieder verkaufen, aber sie wird ihn nicht los, weil er zu teuer ist, ein schicksalhafter Umstand, gegen den sie völlig machtlos ist. Chefin:
"Wir wollen sicher sein, daß er in gute Hände kommt. Aber umsonst abgeben können wir ihn nicht!"
Alle meine Kolleginnen pflichten ihr bei: Umsonst geht gar nichts.

Heute versanken wir in wüsten Kleiderhaufen. Die Stangen bogen sich, und die Säcke krachten. Ganz Merkstein läßt seine von Karnevalskotze beschmierten Sachen chemisch reinigen.
Herr Weber stand wuchtig und unbeweglich hinter der Theke und machte keinen Finger krumm.
Dann ist die ganze Kleiderstange zusammengebrochen. Alle Klamotten lagen im Staub. Das war mir eine finstere Genugtuung.

*

Der Heilige Abend war wieder warm wie Pipi.
Die Menschen schwitzten in ihren dicken Mänteln und knöpften sie nicht zu, so daß sie ein sehr unordentliches Bild abgaben. Die Regale mit den Weihnachtsschnitzereien waren durchwühlt, und beinah leer.
Ich hatte Angst. Aber ich würde es tun.
Ich würde jetzt zu Kochs reingehen und die Ohrringe aus dem Schaufenster kaufen.
"Na, Silvia, was machst du denn noch so?"
Ich hatte diesen Satz schon über meinem Kopf hängen gespürt, seit ich in Kochs Drogerie reingekommen war. Ich wußte, daß er auf mich fallen würde. Frau Kochs wollte eine Antwort darauf von mir, zum Weitererzählen. Ich fing aus Verlegenheit an, wirklich zu sagen, was ich mache. Also Arbeiten in der chemischen Reinigung, aber eigentlich Musik in einer Punkband, aber auch Schreiben, und überlegen, ob ich doch studieren soll, und was. Eins klang wie eine Entschudigung für das andere.
Frau Kochs Tochter Birgit war meine beste Freundin gewesen, von 13 bis 16. Ich durfte manchmal bei ihr in Merkstein übernachten. Ich wohnte damals bei meinen Eltern auf dem Dorf, und das pisselige Merkstein war für mich eine Stadt.
Autos waren wahnsinnig laut, und Betrunkene schrien wie ich es noch nie gehört hatte. Es war mir peinlich, daß alle in der Wohnung mitkriegten, daß ich aufs Klo ging, und Pipi machte, und wie oft.
Morgens saßen Herr und Frau Kochs in Morgenmänteln am Frühstückstisch. So etwas hatte ich noch nie gesehen, in Morgenmänteln! Es gab Strammen Max. Dann sind wir zwei Stunden mit dem Mercedes gefahren, und dann mußte ich kotzen.
Frau Kochs sagte: "Oje, du Arme. Wir halten da hinten an der Brücke an. Da ist ein Geländer."
Ich verstand, daß sie meinte, ich solle auf das Geländer kotzen. Ich fand das seltsam, tat das aber brav. Ich kannte mich ja nicht aus in der großen Welt. Ich selber hätte es sinnvoller gefunden, von der Brücke runter zu kotzen. Aber wenn sie es so haben wollte.
Sie lachte sich kringelig, und ich begriff. Ich fand das Lachen nett von ihr. Ich hab die Szene überlebt. Aber ich finde das Leben sehr, sehr anstrengend.

*

Es ist für mich oft solch ein Eiertanz, ein Spießrutenlauf. Die anderen scheinen so sicher zu gehn, auf Eiern, trotz Spießen. Kann man lernen, sagen sie. Aber so war das nicht gemeint.

*

Ich muß jetzt erzählen, wie ich schuldig wurde am Tode zweier armer Kerle.
Hansi und Mausi waren mir aufgezwungen worden. Keiner hatte die beiden Wellensittiche gewollt, weil der eine von ihnen den Flügel gebrochen hatte, und nur durch die Luft auf die heiße Herdplatte trudeln oder hinter den Kohleofen fallen konnte. Es roch schmerzhaft nach verbrannten Hornfüßchen, wenn er es wieder getan hatte.
Wenn sie mich mit der Futtertüte kommen sahen, schrien meine Vögel aufgeregt und flatterten herum wie Teenager bei einem Rockkonzert, wenn ihr Star auf die Bühne kommt.
Aber wenn dann ihr Futter im Käfig lag, rührten sie es nicht an. Sie quetschten sich ängstlich an die Stäbe und äugten aus den Winkeln schüchtern zu den Körnern hin. Oder taten, als sähen sie sie gar nicht, pfiffen gleichgültig, guckten aus dem Fenster, und schaukelten auf der Schaukel. Es dauerte sehr lange, bis der erste sich ein Korn holte, verstohlen, hastig wie ein Dieb.
Ich hab versucht, Zugang zu ihnen zu finden. Ihnen zu vermitteln, daß sie mir leid taten und ich an ihrem Scheißleben nicht schuld war. Ich überlegte oft, ob ich sie nicht freilassen sollte, ein Rausch, und dann frißt sie die Katze oder der Geier.
Aber wir blieben uns fremd. Ich verstehe nichts von Vögeln. Irgendwann vegetierten sie nur noch nebenher. Kriegten Futter, sauber gemacht, das war's. Das war zu wenig. Eines Tages, als mein Freund Kurt und ich heimkamen, sahen wir, daß der Körperbehinderte sich in der Blumengießkanne ertränkt hatte. Ein paar Tage später lag der andre tot im Käfig.

*

Rosi, die Frau, die unter mir wohnt, heizt wie der Teufel. Sie macht unser Wasser in den Leitungen warm, und unsere Wände sind so heiß, bald fängt die Tapete an, zu brennen, und der Boden sackt durch, und ich falle in Rosis Wohnung, und muß mein Leben lang Likör trinken und fernsehgucken.
Ich will auch so ein Schlafzimmer im Kontroll-Look wie Rosi, mit Schaltern und Knöpfen am Bett, um alles zu verstellen! Eine Küche wie Schweinebraten. Alt, deutsch, echt, Eiche. Nein. Ich hab nur Quatsch gemacht. Ich bin besoffen. Aber immerhin toll, daß mir nicht schlecht davon wird.
Mir ist mal schlecht davon geworden, vor zwei Jahren, auf einer Fete.
Ich hatte das noch am selben Abend für immer verdrängen wollen, aber mir wurde es doch am nächsten Tag wiedererzählt: daß ich zum Klo getorkelt wäre, und daneben gekotzt und nicht mal dran gedacht hätte, das aufzuwischen.
Ich hab immer gedacht, das Jüngste Gericht käme erst nach dem körperlichen Tod. Die Scham, die Schande. Aber Gott wartet nicht so lange. Gott quält und quält. Ich habe mir seitdem fast zweitausend Jahre lang die Zähne geputzt, aber ich spüre den Makel. Er bohrt ein Loch in alles. Er stellt alles in Frage.
Ich bin der Fliegende Holländer der Kotze.

Ich ging am "Imbiß Futterkrippe" vorbei, und der alte versoffene Hugo winkte mit seinem Krückstock von der anderen Straßenseite, er hatte sich eine Fritte gekauft.
"Eh, was macht der Kurt noch? Hat er noch seine Band?" rief er zu mir rüber.
Ja, das sind so die Geschichten, die man in meiner Heimat Merkstein erlebt. Und das sind noch die Highlights.

Inder Nacht zuckten meine Füße dann erst, und dann lösten sie sich von mir und gingen jeder in eine andre Ecke zappeln. Das geschieht manchmal mit meinen Gliedmaßen nachts. Es macht mir jedesmal Angst, aber etwas Schlimmes ist dabei noch nie passiert. Man sieht es nicht. Das Herz schlägt dabei schnell, wie ein Trommelwirbel bei einer Zirkusattraktion.
Wenn man dann aufsteht und zur Toilette geht, kommt man sich vor wie ein surrealistisches Kunstwerk, mit dem Kopf unter den Armen, den Fingern neben den Ohren, und den Füßen in einer fernen Galaxie. Man erwartet, daß ein abgeschnittener Kopf einen anglotzt, wenn man den Klodeckel aufmacht. Oder daß man, in Scheiben geschnitten, zerfällt wie ein Ei im Schneider. Aber das passiert nicht.

Am Morgen warfen meine Nachbarn wieder ihre Mördersägen an. Meine Füße fingen wieder mit dem Schwitzen an. Sie waren noch dran, oder wieder dran.

Unten auf der Straße bereitete der Junge von nebenan eine Knaller-Attacke auf mich vor. Seine Mutter hörte Heino, in Heavy-Metal-Lautstärke, bei offenem Fenster.
Aus der Wohnung gegenüber schaute ein alter Mann den kleinen Kindern zu beim Spielen, mit todernstem, grauen Gesicht.

Rosi bläkte mit einer Frau, die vor ihrem immer offenen Fenster stehengeblieben war. Sie erzählte ironisch aufgemotzte Sachen von Dieter. Sie spielt immer alles so hoch.
Aber es stimmt, ich hatte es auch gehört. In der Nacht war Dieter, ihr Mann, kurz nach mir aus der Kneipe heimgekommen, und schon auf der Straße hatte er "Pünzjen! Pünzjen!" nach ihr gerufen. Er war so zärtlich und so glücklich vom Saufen, obwohl er krank ist und jeden Tag in einer Fabrik arbeiten muß.
Dann warf er seine neue Stereoanlage an und drehte alle Knöpfe auf.
"You can ring my be-he-hell, ring my bell," sang Anita Ward.
Erst wollte ich wirklich bei ihm klingeln gehen, aber dann dachte ich, der macht das doch bestimmt nicht lang so laut. Nur bis sein Schnitzel halbwegs auftaut und er mit letzter Kraft versucht, das Ding zu essen. Und so war es auch. Aber bis dahin hatte er viel Spaß mit seinem Stereo, und drehte den Lautstärkeregler bis zum Anschlag, wenn die Synthie-Drums mit ihrem "Wuh! Wuh!" einsetzten, das ihn faszinierte. "Wuh! Wuh!" Ich hörte ihn tanzen und
mitjaulen. Der verrückte Mensch.

*

Gestern abend kam ein Auto langsam an mich herangerollt und hielt mit mir Schritt. Sein Fahrer steckte den Kopf aus dem Fenster und rief mich leise:
"Hallo, willst du mitfahrn? Komm doch näher. Komm, steig ein."
Sein Auto war neu und sauber. Aber ich dachte, das ist bestimmt ein Triebverbrecher, der da drin sitzt, nachher bist du tot. Man weiß nicht, was noch nachher kommt, und so bleibt man lieber vorsichtig am Leben, das man kennt.
Also sagte ich dem Mann ab.
Ich ging nach Hause und konnte natürlich nicht schlafen.
Ich wünschte mir, das Telefon klingelte, er wär dran und würde schwer atmen. Solche Männer haben Mut. Aber natürlich werden sie abgewiesen.
Sie irren weiter in ihren lüsternen Autos durch die Nacht, unbefriedigt, ruhelos, allein. Niemand steigt zu ihnen ein. Sie müssen sich an einer Tankstelle ein Heftchen kaufen und sich darüber ergießen.-
Aus den dem Sommerabend geöffneten Fenstern in meiner Straße hörte ich die Fernseher in den Wohnungen reden. Die Leute davor konzentrierten sich auf das Wesentliche, das als Licht in ihre Wohnzimmer geschüttet wurde. Die Fernseher wurden ihre Programme los an die Hirne. Da gingen sie dann weiter und vermischten sich mit uralten genetischen Informationen zu einem dicken, nebligen Wahn.
Das gelbe Licht der untergehenden Merksteiner Sonne linste noch einmal scheel über den Tellerrand und wälzte sich dann faul ganz auf die andre Seite.
Eine paranoide Amsel warnte unablässig vor Gefahren.
Von den fernen Feldern brüllte eine Kuh vor Schmerzen, vor Geilheit.
Kuh, es ist schwer. Ich weiß, ich ziehe solche Männer an wie den im Auto grade. Sie sitzen auf Bänken, an denen ich an warmen Tagen vorbeispaziere, und machen sich die Hosen auf, wenn sie mich sehen. Sie streicheln sich und schauen mich dabei an. Ich tue, als sähe ich es nicht, aber das ist doch absurd: Achtlos vorbeigehen an Reihen von Männern, die mir mit ihren Erektionen salutieren.
Es gab in Merkstein einen Mann, der zog sich eine Eselsmaske an, und er kletterte nachts an den Häusern hoch, und brach in die Wohnungen ein, in denen eine Frau allein war. Ihm war es egal, wie die Frauen aussahen, und wie alt sie waren. Er brach einfach überall ein. Ich finde das gut, was der Mann da gemacht hat. Ich finde das gut.
Ich schaltete das Radio ein.
"Heute passiert's! Heute passiert's! Heut zeig ich ihr, was ich kann!" sang Peter Rubin drohend und wild in "Musik zum Träumen", WDR 4. Aber wann ist das denn: 'Heute', Peter? Das war schon. Du hast es verpaßt. Howard Carpendale war geknickter und bescheidener.
"Ich geb mir selbst ne Party, eine einsame Party. Und ich trinke mein Glas leer. Und ich träum, daß es schön wär, würde heut nacht aus der Party allein eine Party zu zwein."
Ich machte meine Wasserfall-Lampe an. Es sind die Viktoria-Fälle drauf, glaube ich. Drauf gemalt, und dahinter bewegt sich was, eine Folie mit Wellen. Je heißer die Birne wird, umso schneller bewegt sich die Folie, und der Fall schwillt an und sprudelt, jedoch alles nur innerhalb des Lampenschirms, es ist alles nur Illusion.

Vielleicht kommt nach dem Tod erst die richtige Zeit für mich, in der die Leichen übereinander herfallen wie Krokodile, und sich gegenseitig voller Ernst und Abgrund vergewaltigen.-

Rumpelstilzchen kann nicht aufhören, seinen Namen zu nennen, und zu tanzen, um sein Haus, sein heißes, kleines Haus. Und Schlampi hört nicht auf, zu spielen. Im dunklen Wald, wo Schlampi haust, spielt sie mit Ideen wie mit Puppen, die sie auszieht, und nackt aufeinanderlegt.

Ich will meinen Kopf ablegen wie einen Helm. Dann werden die Jungen mit ihm Fußball spielen. Sie werden ihre Schwänze in den Mund meines Totenschädels stecken, und ich werde nicht beißen; ich bin lieb bis an mein finsteres Ende.

*

Ich hab ihn nicht mehr wiedergesehen, den Mann mit dem Auto, mit dem ich nicht weggefahren bin. Das Leben hatte keinen Bock mehr. Es fand, es sei genug.
Das macht es mit vielen Sachen so. Sie fangen an, laufen schief, werden schwach, bleiben dahingestellt. Es ist nicht so, wie ich es mir als Kind vorgestellt habe. Es wurde immer zu viel Reklame für das Leben gemacht.
Und jetzt weiß keiner mehr, wie's wirklich ist.

*

Eigentlich möchte ich immer nur so bleiben wie ich jetzt hier liege, hier im Gras. Doch das geht nicht. Ich müßte Angst haben, daß ich sterbe. Weil ich so kein Geld verdienen würde. Aber man stirbt auch, wenn man Geld verdient.
Die Adler würden mir die Leber aus dem Bauch picken.
Nichts gegen Adler.
Nichts gegen Leber.
Aber Leben? Was ist damit? Was soll damit sein?
Wo ich heute mit dem Fahrrad war, das ist der westlichste Teil von Deutschland, der Selfkant. Es gibt da ein Tiergehege mit Löwen, genannt die "Löwen-Safari". Auf dieser Safari hat einmal ein Indianerhäuptling gearbeitet. Sie haben in der Zeitung über ihn berichtet. Er wollte zurück zu seinem Stamm, wenn er genug Geld verdient hätte. Doch jetzt ist er tot.
Er ist von einem Auto überfahren worden.

*

Der Forsythienstrauß blüht in stiller Pracht in der blauen Vase.
Zwei alte Männer gehen an der chemischen Reinigung vorbei und reden ganz laut:
"Eine Fistel am Steißbein ?"
Dann sind sie weg.

***