Franz Schuh, "sätze sind kalauer".
eine kleine philosophie des schreibens.

In Wien, sehr geehrte Damen und Herren, habe ich einen Lesekreis gekannt. Dieser Kreis wurde von freundlichen Menschen gebildet, die zusammentrafen, um nett über von ihnen auserwählte Bücher zu sprechen. Plötzlich aber brach der Kreis auseinander. Was war geschehen?

Es war ein Buch ausgesucht worden, von dem man immer schon wissen wollte, was drinsteht; es ist das Buch, in dem der Satz vorkommt: "sätze sind kalauer", der Satz also, den ich als Zitat für den Titel meines Vortrags annektiert habe. Das Buch entzog dem Lesekreis, der lange funktionierte, den Grund. Man fand keine Möglichkeit, über Oswald Wieners "DIE VERBESSERUNG VON MITTELEUROPA, ROMAN" in der gewohnten Art zu sprechen, und ich halte es für keine schlechte Idee, angesichts der Existenz nur eines einzigen Werkes, das die gewohnten Redeweisen unmöglich macht, sofort auseinanderzugehen. Sollte man, wenn auch das Mißtrauen der Sprache gegenüber ein Klischee geworden ist, nicht wenigstens dort mißtrauisch werden, wo das Vertrauen in die Sprache großartig zelebriert wird, und wo die Kritik - auch meine jetzt - an den Details feilt, aber nicht als Sprachkritik überhaupt die Frage stellt (und sich danach aufführt) : Richtet uns die Sprache nicht aus, richtet sie uns nicht ab, ist sie nicht der Staat im Staate, der uns Hierarchien, Abhängigkeiten aufzwingt, die uns, während wir frei heraussprechen, versklavt erscheinen lassen?

Ich habe nicht im Ernst geglaubt, daß diese Frage an dieser Stelle auch nur den geringsten Sinn hat. Vielmehr bin ich voller Entgegenkommen, das heißt: Ich erwähne etwas Offensichtliches, daß nämlich der Satz Oswald Wieners, des Ehrendoktors der Universität Klagenfurt: "sätze sind kalauer" auch ein Satz ist. Aber eben nicht "auch nur" ein Satz. Ich glaube, der Satz sagt einerseits, daß es ein Witz ist, was einem die Sprache eingibt und was man dann grundsätzlich wieder herausgibt, ein Witz angesichts ..., nun ich glaube, angesichts der Freiheit, die man nötig hätte, um etwas zu sagen. Anderseits aber, und deshalb habe ich diesen Satz zitiert, sagt der Satz nichts geringeres aus als sich selber. Ich gebe zu, ich beichte, daß ich ungläubig gegenüber allen Re-theologisierungen der Sprache bin, die den Sinn des Sprechens davon abhängig machen, daß ein Höheres in unserer Sprache anwesend ist, eine Höheres, als sogar wir selbst es sind. Dagegen hege ich den Verdacht, der Sinn des Sprechens kommt daher, daß niemand da ist, überhaupt niemand. Das, diese Abwesenheit, macht das Sprechen, das sich Präsenz verschaffen will, entweder wunderbar oder widerwärtig obszön, zu einem Agenten des Nihilismus, mit dem man ruhig darauf schauen kann, wie sehr eh alles Gesagte nix (und zugleich alles) ist. "Alles" jedenfalls für die Politik: Nicht das Ziel, sondern der Stil macht die Fraktion, heißt es in der "Verbesserung" (an einer Stelle, die ich zu faul zu suchen war), und dieser Kalauer dürfte erst recht für jene Parteien gelten, die uns im Ernst sagen, wir sollen sie nicht
an ihren Worten, sondern an ihren Taten messen. An der Sprache mag ich ihre Selbstbezüglichkeit, die Sätze also, die sich selber aussagen, oder gar die, die mit einem Wort sich selbstbezüglich widersprechen, wie zum Beispiel das berühmte, oft weithin sichtbare GEÖFFNET, angebracht an einem Lokal, das geschlossen ist. Die Selbstreferenzen der Sprache sind die Anzüglichkeiten, die die Obszönität des Sprechens manchmal genießbar machen. Als Wittgenstein darüber nachdachte, was es eigentlich ist, das einem das Gefühl von Gewißheit verleiht, schrieb er herausgehoben als 216. Punkt einer seiner typischen philosophischen Untersuchungen folgendes: "Der Satz: ‚Es ist geschrieben'", und da dieser Satz tatsächlich geschrieben ist, können wir uns seiner gewiß sein. So untersucht meine kleine, unter dem Titel "sätze sind kalauer" stehende Philosophie des Schreibens einen Satz, von dem andere entscheiden mögen, ob er nun selbstbezüglich, obszön oder vielleicht beides ist, nämlich den Satz: ICH SCHREIBE.

"Ich habe Philosophie studiert" und "ich schreibe" - mit einem Satz wenigstens eine Fragwürdigkeit, denn was soll das schon heißen: "Ich schreibe?" Durch die Schulpflicht schreiben in unseren Breiten alle, und unter Schreibern ist der primäre Analphabet, dessen Unfähigkeit zu schreiben durch die Unfähigkeit zu lesen ergänzt wird, also ein Ganzes bildet, unter Schreibern ist der veritable Analphabet eine höchstinteressante Gestalt: Ist das analphabetische Weltbild grausam, schärft die Schriftlosigkeit andere Sinne , hat der, der sich nichts aufschreiben kann, ein besseres Gedächtnis, weil er sich so viel merken muß? - und was immer es an rücksichtslosen Fragen sonst noch gäbe. Aber dieses "Ich schreibe" hat, jeder weiß es, unter allen Schreibern die Funktion einer Heraushebung; alle können zwar schreiben, aber "jemand, der schreibt" und der von sich sagt: "Ich schreibe", stößt auf ein anderes Verständnis und wünscht auch ein anderes. Er will nämlich sagen, daß sein Schreiben eine Überschreitung der einfachen Kulturtechnik, über die nur Ausnahmen nicht verfügen, bedeutet und dieser banal-pathetische Gebrauch des Satzes "Ich schreibe" hat etwas von einer Fetischisierung der Sache, die von der Grundlage her eine einfache ist, und die in der Bedeutung von ICH SCHREIBE eine merkwürdige Pseudosachlichkeit erhält; der Satz ist sozusagen das rhetorische Ab-Zeichen einer Profession, die aus Pflicht und aus Neigung damit kokettieren muß, eine Berufung zu sein.

Dieses ICH SCHREIBE als Fetisch, als begeisternde, als die das selbstverständliche Schreiben überschreitende Motivation und Selbstdarstellung, als Selbstbestimmung, als Souveränität, dieses ICH SCHREIBE könnte nicht zuletzt der Nachhall aus einer Zeit sein , da Schreiben Macht hieß, weil eben noch nicht alle schrieben, weil aber schon die Vereinheitlichung der Gesellschaften durch Schrift im Gange war; die Akten waren schnell angelegt und wer was wollte, sollte mit seinem Willen zum Akt werden, in den Akt hineinkommen; am wirksamsten ist die Eingabe schriftlich. Wer da schreiben konnte und sagte ICH SCHREIBE, repräsentierte für alle, die nicht schrieben, die Chance zur Eingabe. Durch die Eingabe, vom Schreiber im Namen der Petenten geschrieben, kann der Wille der Petenten geschehen; aber es kann auch etwas stehen in den Akten, etwas geschrieben stehen, das den, der es gar nicht lesen kann, das den, der es vom Papier herunter gar nicht verstehen kann, vernichtet, das ihn zur Vernichtung ausschreibt oder das ihn schlicht als diesen und jenen definiert, präsentiert, festhält oder sucht - und es wäre demjenigen lieber, er könnte dieser Präsentation (oder Suche) entkommen.

Ein solches Bild, das Inbild der Bürokratie, dient mir dazu, um die Vorstellung von einem Leben zu erwecken, in dem das Schreiben ungeheuer stark gewesen sein muß, weil es am Stärksten überhaupt ansetzte, nämlich sowohl an der Hoffnung als auch an der Furcht, und Hoffnung und Furcht müssen wohl zu einer Zeit, da das Schreiben noch nicht jedermanns Sache war, es also noch nicht durchschaut war, Hoffnung und Furcht müssen da übergroß an Intensität gewesen sein. Dem Schreiber gegenüber wird wohl Ergriffenheit geherrscht haben, und ich vermute, es ist diese uralte Art von Ergriffenheit, eine Ergriffenheit der unaufgeklärten Verhältnisse, nach der auch noch manche Satzbauten von heute langen, nach der es so manchem Schriftsteller ist, der sich - und hier schon wiederum eine Differenzierung in der Differenz - als Dichter fühlt im Unterschied zum Schriftsteller; erste Differenz: jeder kann schreiben und verfügt dennoch über kein schriftstellerndes Ich, nächste Differenz: ein schriftstellerndes Ich ist auf keinen Fall ein dichterisches - eine charakteristisch deutsche Differenz, in der ein Schreiben, das ein jeder kann, sich auf einer anderen Ebene erneut von einem charismatischen "Ich schreibe" unterscheidet. Sein Charisma spielt der Dichter (oder spielt der öffentliche Diskurs) gegen den Schriftsteller aus, der von Berufs wegen schreibt, der aber keinen Anspruch auf jene Aura stellen darf, die dem Wort "Dichter" zu kommt - kein Wunder, daß man eines Tages solche Differenzen einebnete, indem man anonym wurde und schlicht weder von den einen noch von den anderen sprach, sondern von allen Schreibenden bloß unter dem Titel "jemand, der schreibt."

Zuwenig Aufmerksamkeit ist hier von mir bisher dem ICH geschenkt worden, als wäre es nur ein Anhängsel von SCHREIBE in ICH SCHREIBE; Wolfgang Hilbig hat ein ganzes Buch ICH genannt, und er hat das ICH im Titel unter Anführungszeichen gesetzt, und zwar mit einem genauen Recht: Hilbig beschreibt nämlich in seinem Roman "ICH" anhand eines Dichters in geheimdienstlichen Funktionen, wie da etwas nicht funktioniert, dessen Funktionieren sonst Sache des Schreibens ist: es funktioniert nicht die Selbstsetzung, die ICH-Werdung, das ICH-Sein durch Dichten; Sich-Sammeln im Schreiben - das Schreiben ist eine der traditionellen Produktionen, ein ICH zusammenhalten, es zu konstituieren; das Schreiben hat ein ICH zur Voraussetzung und das Schreiben setzt andererseits diese Voraussetzung aus sich heraus, es produziert das ICH oder ICH ist am Ende diese Produktion. Schreiben hält Leib und Seele zusammen. Im Schreiben, durch das ich außer mich gerate, komme ich zu mir selber. Was für ein Glück für die Schriftsteller, daß das ICH nicht Herr im eigenen Haus ist; sonst bliebe ein jeder, auch ein jeder, der schreibt, in sich eingesperrt und hätte nichts außer sich zu schreiben. "ICH bin ein Schriftsteller" ist eine Selbstverständlichkeit, denn - so behaupte ich, und dafür gäbe es große Paten - daß die Schriftkultur dieses Subjekt ICH hervorgebracht hat, und daß das Schreiben und Beschriebenwerden jene Identifikation und Selbst-Identifikation zuerst einmal gesichert hat, die dann in den vielen ICH-Formen scheinbar unerschöpflich, aber auch auseinanderfallend, zelebriert werden konnte.

Nach wie vor ist die Arbeit am Text die Arbeit an einem selber (und daran, wie man selber die Welt, die man nicht in sich hat, konstituiert): Als Schreibender merke ich, wie ich mich im Schreiben aus verschiedenen Teilen zusammensetze, wie ich mich konzentriere, allerdings ohne, abgesehen von glücklichen Augenblicken, ein für alle Mal ganz in dem schriftlichen Konzentrat aufzugehen; man selbst überragt am Ende doch seine Schrift; oder, kritisch, sprich: tröstlich mit Karl Kraus gesagt: Niemand ist so schlecht wie er schreibt! Die Schrift freilich, und die Sprache, die sich in ihr niederschlägt, überragt keiner: Die Sprache beherrschen ist eine der gleichsam automatischen Utopien des schriftstellernden ICH, des schreibenden Subjekts. Die Utopie drückt sich auch masochistisch aus, im bekundeten Willen, von der Sprache beherrscht zu werden. Schön wär's, aber das tut sich keine Sprache an. Was beim Schreiben beherrscht wird, ist vor allem der Schreibende selbst; ein Schreibender kann sich nicht gehen lassen, bevor er zu Ende geschrieben hat; er muß sich zusammenhalten im Schreiben oder sich Schreibtechniken ausdenken, die diesen Zusammenhalt (zum Beispiel durch automatisches Schreiben) unterlaufen; diese Selbstsetzung durch Schreiben, die Konzentration des ICH durch Schrift, hängt mit Selbstmächtigkeit zusammen, also mit Autonomie. Der Wunsch, diese Autonomie loszuwerden, aus ihr auszubrechen, ist - das will ich hier beichten - nach meiner Ansicht fromm. Aber ginge er in Erfüllung, es wäre wunderbar. Solange nämlich Schreiben in der Subjektivität verankert bleibt, ist es etwas Altes, auf das ent-subjektivierende Medien zurückblicken dürfen. Das neue Schreiben, das ganz neue, hätte nichts mehr von dem ICH SCHREIBE, aber noch ist keiner da, der es als Schreiben erkennen würde. Noch gibt es nur die Grenzgebiete, die der Wunsch nach Transzendierung des Alten eröffnet, aber die Übertretung ist noch nicht endgültig passiert.

Diese Autonomie zu fordern (oder sie mit einer speziellen Schreibtechnik autonom, aus freien Stücken aufzugeben), ist weder bloß moralisch noch bloß politisch, es ist schlicht professionell, also ist sie gar kein Ideal, sondern die Norm: Der ideale, nämlich der geglückte Text ist fensterlos wie die Monade des Leibniz, das heißt, er enthält, repräsentiert alles, aber nichts davon ist ihm von außen hineingeschoben, unterschoben worden; es ist wahrscheinlich, daß der Sinn für die Autonomie eines Textes mit der moralischen Autonomie seines Schreibers korrelliert. Der Geheimdienst in Hilbigs "ICH" versucht diese moralische Autonomie in Heteronomie umzuwandeln, und es gelingt ihm paradoxerweise nicht zuletzt deshalb, weil der Dichter im Roman sich von seiner Heteronomie, von seiner Abhängigkeit einen Zuwachs an Autonomie in der Zukunft verspricht; die Hoffnung, durch gelungen absolvierte Abhängigkeit unabhängig zu sein, ist ein Element in der Struktur der Verführung; fällt man dieser Verführung anheim, bleiben vom ICH nur mehr die Anführungszeichen; und da diese verführerische Hoffnung, durch gelungen absolvierte Abhängigkeit, unabhängig zu werden, unseren sehr modernen Gesellschaften grundsätzlich, propagandistisch eingeschrieben ist, ist es auch schwierig, im Extremfall die richtige Entscheidung zu treffen. Weiß ich, ab welcher Unmoral meine Autonomie als Schriftsteller gefährdet ist und welcher Kompromiß sie erst sichert?

Schriftstellerbiographien wird man auch als einen Kampf um die Möglichkeiten lesen können, am Schreibtisch frei zu sein; anders als im Leben sind im geglückten Text Autonomie und Heteronomie einander streng entgegengesetzt; Lebensgeschichten von Schriftstellern sind, wie die von jedermann, durch artistische Balanceakte gekennzeichnet, deren Zweck aber bei den Schriftstellern die Schreibtischautonomie ist. Da im Text oder besser: als Text Autonomie möglich ist, wird diese Möglichkeit gerne auch als Utopie für das soziale Leben generell genommen. Schreiben ist ein Freiheitsversprechen, das der Schriftsteller nicht zuletzt sich selber gibt (und für sich selber einlöst). "Ich schreibe" ist ein stolzes Wort.

Im Schreiben selber und nicht nur im Verhältnis des Schreibenden zu einer schützenden oder bedrohenden Macht (machtgeschützte, machtbedrohte Innerlichkeit), im Schreiben selber "arbeitet" gleichsam, "provoziert", stichelt gleichsam eine Dialektik von Macht und Ohnmacht; aus dieser Sicht ist das Schreiben ein gespaltener Vorgang, bei dem die beiden abgespaltenen Teile aufeinander wirken, als wären sie ohnedies (noch) zusammen und bildeten eine Einheit: die Einheit der Wechselwirkung von Macht und Ohnmacht.

Im Kopf kann nämlich jeder Schreibende eine Welt nach Gutdünken formulieren, und die formulierte muß keineswegs eine beliebige, bloß ausgedachte Welt sein, es kann tatsächlich eine Form der bestehenden Welt sein, eine, die die bestehende Welt durchdringt, "aufklärt", aber diese, die bestehende Welt, läßt sich an ihrem Bestand, je irrer sie ist, durch eine Formulierung nicht irre machen.

Im starken Kopf sind die Widerstände überwunden, die die (außerliterarische) Wirklichkeit leistet, ohne daß diese Widerstände in Wirklichkeit verschwunden wären; der starke Kopf kann seine realen Beschränkungen im Ideellen nicht überwinden, aber er kann sie überschreiben, und das ist - im geglückten Fall - eine Übertretung, eine Subversion, und eben keine Flucht aus der Realität; die außerliterarische Realität will sich auch in Darstellungen verfestigt wissen, will hören, daß sie die einzige ist, aber da jede Realität einmal vergeht, ist es nur realistisch, sie anders als zum Beispiel nach den immanenten Kriterien der Realitätstüchtigen darzustellen. Deshalb beschwören Schreibende nicht selten die Nachwelt, weil diese ihrem Weltbild einmal rechtgeben könnte, während dagegen die Mitwelt in so mancher Schrift nur ihr höchstes Unrecht erblicken kann. Wiener dessen "Verbesserung" daraus besteht, alles was gilt zu negieren, bis - omnis determinatio est negatio - nichts als das bloße und freie, also herrliche ICH des Autors bleibt, Wiener negiert selbstverständlich auch dieses Mit-Welt - Nach-Welt Übereinkommen. Unter "mein ideal" steht in der "Verbesserung": "ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser ära komplett zu machen." Wie man sieht, hat er recht behalten.

Ich behaupte nicht, daß "jemand, der schreibt", sich automatisch in diese Konstellationen verwickelt. Ich behaupte nur, daß der stolze Ton des Satzes: "Ich schreibe" von diesen Verwicklungen herkommt: Niemand ist mächtiger als der, der am Schreibtisch die Welt aus den Angeln hebt (oder der, der in einer rein sprachlichen Welt - gesetzt den Fall, es gäbe sie - fuhrwerkt), niemand aber ohnmächtiger als er, wenn ihn die Welt wiederum in Empfang nimmt, nachdem er die Stätte seiner nicht abzuwendenden Siege verlassen hat. Aber auch umgekehrt, für die Realitätstüchtigen und real Mächtigen wird ein Paradox daraus: Sie sind einer Sprache, einer Schrift gegenüber wehrlos, die nichts gegen sie vermag; sie bleiben an der Macht, aber sie haben die Sprache nicht, die ihnen sagt, was für eine Macht das "eigentlich" ist. Hier ist - vor allem in politisch schlechten Zeiten - ein weites Feld für sie: Über so vieles herrschen sie, aber ausgerechnet über ihre Muttersprache verfügen sie nicht einmal für den Hausgebrauch.

Dergleichen sind natürlich Entgegensetzungen in utopischer Reinkultur, was freilich nicht besagt, daß sie nicht gerade in dieser Reinkultur auch vorkommen können. Für mich, der ich, wie gesagt, schreibe, steht in der beschriebenen Konstellation noch etwas anderes auf dem Spiel: Macht und Ohnmacht mögen sich in einer dialektischen Formel, also gleichsam "auf dem Papier" wechselseitig entschärfen. Das Leben, also der Literaturbetrieb, ist hart, aber modern, und in der Moderne gehen sich die erlösenden Synthesen kaum jemals aus, und wer einen in sich widersprüchlichen Beruf hat (wie die, die schreiben), der läuft Gefahr, zermalmt zu werden. Im Zusammenhang mit oben erwähnter Konstellation ist der Schriftstellerberuf aufreibend, der Schriftsteller reibt sich tendenziell auf zwischen seiner Macht, am Schreibtisch alles im Griff zu haben, und seiner Ohnmacht, am Ende vielleicht doch zu unterliegen: der Politik, den Finanzen oder der Kritik. Das erzeugt die berufsspezifische Pathologie, die deformation professionelle, die, wie ich meine, automatisch entsteht, wenn man den Beruf "Schriftsteller" in meinem Sinne ergreift und ihn richtig ausübt: Es ist die Pathologie des Schwankens zwischen Größenwahn und Niedergeschlagenheit, zwischen Grandiosität und Depression - Enzensbergers Plädoyer für das Mittelmaß im Kontext mit dem Wahnsinn lese ich nicht ohne Ironie wie eine Selbsttherapie dieses großen Autors ...

Nun ist, wie jeder weiß, Schreiben doch nicht allein eine Machtfrage! Vom Machtverlust des Schreibens, vom Machtverlust der Schrift als Medium, war schon in meiner historisierenden Fiktion die Rede; gewiß zeigt sich auch der Machtverlust im Vergleich mit anderen Medien. Tatsächlich kann man, wie es ja auch gesagt wird, sagen: Die Schrift sei als Medium unzuverlässig, die Bilder, die sie liefere, seien unscharf, und selbst Wörter kämen in einem Text schwächer heraus als in einem Film; das gälte zum Beispiel für das Wort "Grauen" an der mir liebsten Stelle in der Literatur, ein Wort, um das Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness am Ende kreist; in Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now", gewänne dieses Grauen - ich zitiere einen philosophisch orientierten Germanisten, Jochen Hörisch (Merkur H1/1991, S. 93) "schlechthin abgründige Dimensionen, wenn der Film Marlon Brandos jenseitig-trostlose Gesichtszüge zu den Klängen dieses Wortes einblendet".

Der Film, der per se und unmittelbar alle Sinne bedient, erscheint unschlagbar gegenüber der Schrift, deren Zeichen die Vorstellungskraft erst übersetzen muß, um sich ein Bild zu machen. Daß im Film das Bild samt seiner Bewegung, "movies", immer schon da ist, also vorgeschrieben, ist eine Entlastung der Vorstellungskraft; in the long run vielleicht sogar eine Schwächung, und wenn einem schon die Lust ankommt, die Medien zu hierarchisieren, so steckt im berechtigten Lob des Filmes gelegentlich vielleicht auch etwas von einem Kult der Funktionstüchtigkeit (kann er, der Film, nicht mehr und kann er es nicht exakter?), von einer Anbetung des Reichtums der Mittel; da lob' ich mir die Schrift und ihre Armut. Im Schreiben, zumindest im mimetischen, wird die Erfahrung des Sozialen individuell reproduziert, das Individuum bewahrt sich, bestätigt sich, in dieser Reproduktion; es ist am Ende der Schriftsteller, der das letzte Wort hat - in der sozialen Anstrengung hingegen, einen Film zu machen, ist das individuelle Schreiben aufgehoben, zum Beispiel das des Francis Ford Coppola, der besagtem tyrannischen Marlon Brando die Rolle an den Leib geschrieben hat, und zwar stückchenweise. Aber das Geschriebene wollte dem Tyrannen Brando nie so richtig passen, also wurde von neuem geschrieben, und wiederum von neuem und so fort… am Ende steht vor allem der Film, der Film, in dessen gemeinschaftlicher Anstrengung das individuelle Schreiben aufging, verloren ging ... Der Film ist - banal genug - Teamarbeit, entspricht also auf den ersten Blick der modernen Art zu produzieren mehr als Schreiben, aber genau diesen Widerspruch (zur modernen Art zu produzieren), wie man sagt "fruchtbar" zu machen, das ist Schreiben als Kunst, ist Schreiben als eine moderne, zeitgemäß-unzeitgemäße Produktion, als die Produktion von jemandem, der sagt: "Ich schreibe."

Na ja, das klingt schon ein bißl allgemein und trompeterisch; aber ich will auf etwas Komplizierteres hinaus, bei dem das Trompeten vielleicht noch lauter gerät; warum nämlich der Film, der die Sinne der sitzenden, der zuschauenden Menschen so perfekt bedient, der sie so perfekt mit Eindrücken versorgt, warum der Film (und der Schwarm all der anderen Medien) den Schreibenden nicht vom Schreiben abhält und ihm auch keineswegs zum Beispiel das Wort GRAUEN jemals deutlicher machen kann als ein Text, hat einen peinlichen Grund. Ich nenne den Grund in der am meisten altmodischen Formulierung: Es ist die Liebe zum Wort!

Die Liebe, so Theweleit, sei der andere Pol zur Macht, und wenn Philosophie "Liebe zur Weisheit", wie man gelehrt bekam, heißen soll, dann liegt hier die entscheidende Unterscheidung, der kritische Unterschied: Schreiben ist Liebe zum Wort; es ist eine Kunst, mit dieser Behauptung derartig umzugehen, daß sie nicht die Phrase bleibt, als die sie durchaus auch erscheint. Zunächst, wie es ein Wortgewaltiger in einem Buchtitel ja auch gesagt hat: LIEBE ist auch nur ein Wort - das heißt: was auch nur ein Wort ist, umfaßt auch sein Gegenteil: Der Haß auf die Sprache ist ebenfalls gemeint, fällt ebenfalls unter den Begriff der Liebe; und auch gemeint ist zum Beispiel so etwas wie die Idiotie, etwa von der Art, wie sie Sartre an Flaubert nachzuweisen suchte, und die darin bestehen kann, daß jemand alle Wörter hat, sie im Munde führen kann, aber an entscheidenden Punkten seines Lebens wie ein Idiot nicht weiß, worauf diese Wörter sich beziehen, was sie sagen. Das macht Angst: So viele Wörter und deren eigenmächtiges Drängen, etwas zu bedeuten, etwas anderes zu sein als bloß Wörter; Schreiben ist dann eine Art und Weise, diesen unerhörten Pluralismus der Wörter in eine Form zu bringen, ihnen eine Fassung zu geben, immer der Gefahr eingedenk, wieder einmal fassungslos vor den Wörtern zu stehen, allein mit seinen Wörtern zu sein, die einem auf der Zunge liegen.

So wäre es vielleicht klüger, nicht von der Liebe zum Wort zu sprechen, sondern von einer im Sprachlichen aufbrechenden IRRITATION, die eine erhöhte Anschaulichkeit erzwingt, eine schwerere Arbeit, sie zu erzielen, sodaß für den IRRITIERTEN zum Beispiel das Wort "Grauen" im Text eine viel stärkere Kraft ausübt als alles, was so ein Schreiber je im Leben zu sehen bekommen hat - und ohne die Vorstellung einer solchen Kraft in den Wörtern, ohne Ansteckung der Wörter mit einer solchen veranschaulichenden Kraft, kann auch keiner "wirklich", das heißt: in dem emphatischen Sinne von sich sagen: ICH SCHREIBE.

Also klüger wäre es, von einer im Sprachlichen aufbrechenden Irritation zu sprechen, die eine erhöhte, ja überdeutliche Anschaulichkeit von Wörtern erzwingt; ich sage aber dennoch weiterhin LIEBE ZUM WORT, erstens schon aus Neigung zu einem antithetischen Stil, und weil ja Macht, und sei es Selbst-Mächtigkeit, Autonomie, einer Opposition, einer internen Opposition, eines Gegenpols bedarf, den sie offensichtlich auch hat, denn hätte sie's nicht, dann wäre Schreiben längst schon auf die Stufe abgesunken, wo das Schreiben in einem spezifischen journalistischen Gebrauch manchmal schon ver-west: Es ist die Stufe, auf der ausschließlich geschrieben wird, um zu schaden oder zu nützen, also einzig allein um einer mehr oder minder illusorischen Macht willen. Nicht nur der Geheimdienst, sondern auch der Dienst an der Öffentlichkeit nimmt das Schreiben, wie das Wort es besagt, in den Dienst.
Die "Liebe" bezeichnet den Gegen-Pol zur Macht, mit durchaus unterschwelligen Übereinkünften; ich finde in Robert Musils Tagebuch die Aufzeichnung: "Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter ist: Ihr Wesen - ein tragischer Witz!" Das ist ein von Musil nicht ausgewiesenes Nietzsche-Zitat; der Kommentar allerdings, den man nicht missen möchte, nämlich daß die Liebe in ihrem Wesen "ein tragischer Witz" sei, stammt von Musil persönlich. Denkt man das Altherrenhafte weg, das man zu Zeiten der Jahrhundertwende schon in jungen Jahren andächtig tragen durfte, denkt man auch die Tendenz zur Selbstbestätigung eigener Grausamkeit mittels eines fundamentalistischen Gedankens über den Haß weg, dann kann man etwas vom Witz der Liebe verstehen; Liebe ist danach ein Verfahren von höchster Intensität, mit der ein todbringender Haß dadurch ausgeschaltet wird, daß man ihn in ein Begehren, in eine Fusion mit dem oder mit der Begehrenswerten in-vestiert. Wenn's so ist, dann ist's ein Tanz überm Abgrund, und was mich daran fasziniert, ist die phantastische Kraft, mit der ein Todfeind verwandelt wird und als Objekt der Begierde nicht minder gefährlich zu einem zurückkehren kann. Von dieser Kraft der Phantasie, mit der ein Mensch einen anderen zum Glutkern seines Eigenlebens macht, von dieser Kraft der Phantasie, die von Widersprüchen belebt wird, von aufreibenden Spannungen zwischen Gegensätzen, arbeitet etwas am Schreiben mit: die Wörter, die sich ihrerseits, je mehr man sie begehrt, zu entziehen drohen, sind damit gleichsam auch aufgeladen mit Sinnlichkeit; wie der Liebende ein überdeutliches, sich von allen anderen Bildern unterschiedenes Bild von der geliebten Person hat, hat der im emphatischen Sinne schreibende Mensch ein klares und zugleich auratisches Bild von seinen Wörtern. Das Bild ist zwingend, nicht beliebig, er ist nicht mit anderen, mit irgendwelchen Wörtern zufrieden. Die Wörter sind, um es häßlich zu sagen, "libidinös besetzt", nah und zugleich fern; in ihrer Abwesenheit quälend, der Schreiber macht sich auf die Suche, und hat er gefunden, was er suchte, ist er vorübergehend glücklich.

Kein Wunder, daß Plato solche Phantasten wie die Dichter aus seinem nach vernünftigen Prinzipien aufgebauten Staat weghaben wollte, und es ist gewiß ein Fortschritt, daß ironischerweise ausgerechnet in der "entzauberten Welt" , also in der unseren, Schriftsteller, Dichter ein Beruf geworden ist. Die Nationen zeigen einander ihre Schriftsteller vor. Die Gesellschaften inszenieren Veranstaltungen, aus denen nichts anderes hervorgeht, als daß sie noch Schriftsteller haben. Im Beruf geht das ICH SCHREIBE in eine öffentliche Angelegenheit über, das Veröffentlichen ist der Schnitt, gleichsam der Filmschnitt, nach dem sich der schreibende Mensch wiederum formiert, sich wiederum neu zusammensetzt. Oft reißt an dieser Stelle der Film überhaupt. Jedenfalls ist das Öffentlichwerden der entscheidende Einschnitt ins Schreiben; Roland Barthes hat diesen Einschnitt dargestellt, und zwar in einer Passage, die den Wandel vom Amateur zum "professional" beschreibt: "Der Amateur ist nur bestrebt, seine eigene Lust hervorzubringen (die ohne weiteres obendrein zur unsrigen werden kann, ohne daß er es wüßte) und diese Lust wird keiner Hysterie entgegengetrieben. Jenseits des Amateurs endet die eine (vor jeder Neurose geschützte) Lust und beginnt das Imaginäre, das heißt, der Künstler: Der Künstler empfindet vermutlich Lust, doch sobald er sich zeigt und Gehör verschafft, sobald er ein Publikum hat, muß seine Lust sich mit einem imago abfinden, nämlich mit dem Diskurs der anderen über sein Tun".

Öffentlichkeit enteignet einerseits den Schreibenden, nimmt ihm die Intimität, die er mit sich im Schreiben zelebriert, setzt ihn der Neurose, jetzt plötzlich der der anderen aus. Alles drängt darauf hin, treibt hysterisch dem entgegen daß er die andere Neurose zu seiner eigenen machen soll. Andererseits aber führt die Öffentlichkeit den Schreibenden seiner Bestimmung zu; auch durch Öffentlichkeit wird er zum Schriftsteller. Die Öffentlichkeit, spiegelt sich schließlich in seinem Schreiben wieder, geht in seine Perspektiven und Techniken ein, und zwar nicht zuletzt als Gegenwehr gegen die unlustigen Bestandteile der Öffentlichkeit, gegen all das, was für jemanden, der schreibt, unerträglich, oft physisch widerwärtig ist. Ich glaube aber, daß der Film dann abreißt, wenn in diesem ICH SCHREIBE Öffentlichkeit nicht immer schon impliziert gewesen wäre. Am Ende repräsentieren die erfolgreichen Schriftsteller jene Öffentlichkeiten, deren Selektionen und Taxinomien sie einst ausgesetzt waren. Die Entgegensetzung vom gesunden Amateur und kränkbaren, neurotisierbaren Profi ist zu schön, um ganz wahr zu sein. Dennoch sollten wohl alle, die an der Imago der Schriftsteller herumbasteln, vorsichtig bleiben, damit sie mit ihren imagines niemanden, auch sich selber nicht, krankmachen.

Zitate der Rede im üblichen Rahmen sind möglich und honorarfrei. Die Verwendung von weiteren Ausschnitten müssen mit dem Verfasser oder dem Tagungsbüro geklärt werden.

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