Michael Lentz

Eine Krankheitsgeschichte gab es am Beginn des zweiten Lesetages in Klagenfurt.

"Muttersterben", so hatte Michael Lentz seinen Text übertitelt. Die Nachricht vom Tod der Mutter führt den Ich-Erzähler zurück in die Vergangenheit. Er beschreibt die Veränderungen, die er an der Mutter durch die Krankheit erlebte, aber auch wie die Krankheit sein Verhältnis zu ihr beeinflusste.

Thomas Widmer fand in diesem Text endlich die Mitte, die man tags zuvor in den Texten vergeblich gesucht hatte. Die Mitte sei der Schmerz über den Tod der Mutter. Der Schmerz werde in die Form einer Chronologie erzählt und der Text funktioniere über weite Strecken. Eine Einschränkung habe er, ihn störe nur die Einsprengsel eines zweiten, sprechenden Ichs. Dieses zweite Ich eher poetisierend, kalauernd bis klugscheißerisch, auch effekthascherisch, sei weniger gelungen als das Haupt-Ich. Übers Ganze wäre es ein starker gelungener Text.

Zwei Ebenen sah auch Konstanze Fliedl. Der Motor der Sprachproduktion ist hier die Sprachlosigkeit nach der Tod eines Menschen. Das wäre auch die Balance des Textes, dass er neben der persönlichen Ebene noch diese zweite Ich habe, das eher kommentierend ist. Der Text sei ungeheuer exakt komponiert.

Elisabeth Bronfen fand ebenfalls zwei Dinge besonders gut am Text, der Tod inspiriere uns zum Sprechen. Die Mutter generiere ungemein viele Gedanken und Phrasen. Die Verknüpfung von Sprache und Mutter fand sie gut gelungen, da werde Hilflosigkeit und Versehrtheit wunderbar umkreist. Sehr präzise treffe der Text auch die Hilflosigkeit des Sterbenden.

Denis Scheck gratulierte dem Autor. Der Text gehe das Risiko ein, abzustürzen, hier sei es aber gut gelungen, den "Quellcode" für das "Betriebsystem Mutter" mitzuliefern. Die bildungsbürgerlichen Elemente als Brüche zu sehen, lehne er ab. Es gehe nicht nur darum, dass die Mutter hier aufbewahrt, ja zum Leben erweckt werde, es gehe ja auch um den Schatz der Seelen, die durch den Tod beschädigt werden. Zwar wären die Chronik des Todes und die Einschübe über die Heimatstadt Düren Brüche, aber in Entenhausen wäre ja auch Donald das Leben und Dagobert der Tod und Enkel gäbe dort gar nicht.

Birgit Vanderbeke schloss sich dem Urteil der anderen an, sie fände den Text wunderbar. Es sei ein Text der wiedergefundenen Sprache Ihr zeige sich das Bild eines wütenden jungen Mannes, der erst durch den der Tod der Mutter Sprache finde. Die Chronistenarbeit sei für sie der Versuch, immer wieder diese Sparsprache zu vermeiden. Kleinere Einwände würden fast ins Lektorieren gehen, so fände sie den Titel Muttersterben falsch, man würde da falsch assoziieren.

Burkhard Spinnen bedankte sich bei den Jurykollegen, sie hätten alle Argumente genannt, warum er den Autor eingeladen habe. Zu Düren fügte er erklärend an, wir würden doch alle aus einem Düren stammen, was leises Gelächter auslöste. Düren stehe für ihn als der Tod in der modernen Medizin. Der Autor habe dafür die richtige Wut gefunden, es sei die angemessen Darstellung des zeitgenössischen Wegsterbens, ohne einen Hauch von Medizinkritik. Der Text zeige einfach, wie entsetzlich dieses Steren sei. Im Schlussbild sehe er das Bild des abgeheftet werden nach dem Tod.

Es müsse doch einen Sinn haben, dass ein Text so eine kalte Ouvertüre habe, so Robert Schindel. Für ihn sei der Text eine einziger Versuch, das unaufhörliche Weinen durch Sprache zu verhindern und das sei das Großartige an dem Text. Er wäre auch ein Beispiel, wie durch wütende Sprache, durch bildungsbürgerliche Elemente und das Hilfesuchen bei anderen, die so etwas schon hätten, Angst und Schrecken gebannt würden, um leben zu können. Ein wunderbaren Beispiel, wie das Angsthaben, das er hier sehe, wobei aber in der Sprache die Angst und die Wut enthalten ist, das fände er großartig, schloss Robert Schindel.

Alle Fotos: ORF Kärnten


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