Klagenfurter
Rede zur Literatur 2001
von Katja Lange-Müller
"ES GIBT NICHT KRIEG UND FRIEDEN."
Warum habe ich nicht sehr konfliktfreudige
Person mich gerade für diesen Satz entschieden? Warum habe
ich der Aufgabe, ausgehend von einem Bachmannschen Satz, redend
nachzudenken über ihr Werk, ihr Schreiben, mein Lesen und womöglich
die Wechselwirkungen der Literatur überhaupt nicht wenigstens
ein wenig widerstanden? Gebietet nicht allein das Wort Aufgabe bloß
eines, nämlich aufgeben? Ingeborg Bachmann, ihre Frankfurter
Vorlesungen und ihre meist zurückweichenden, oft sogar widerspenstigen
Antworten auf Journalistenfragen beweisen es, hat die von anderen,
von immer wieder so fremden Menschen ihr aufgegebenen Aufgaben niemals
hingenommen wie ein Schaf, schwarz aber brav, oder wie eine kleinlaute
Gelegenheitsdiebin, der ein Kaufhausdetektiv zu verstehen gibt,
daß er sie nur habe ertappen können, weil sie nervenschwach
und artistisch nicht auf der Höhe des Möglichen sei.
"Es gibt nicht Krieg und Frieden."
Warum entschied ich mich, allzu einverstanden mit dem Ansinnen,
eine solche Wahl treffen zu sollen, für eben diesen, den berühmten
Romantitel Leo Tolstois in Frage stellenden Satz aus MALINA, Bachmanns
einzigem, noch zu ihren Lebzeiten abgeschlossenen und veröffentlichten
Text des tetralogischen Projektes "Todesarten", von dem
die Dichterin selbst in einem Interview sagte, daß er für
sie kein Roman sei, "sondern ein einziges langes Buch"?
Ich hätte der Quelle MALINA auch andere hände- oder mündervoll
irritierender, verstörender, zum Teil ebenfalls in ostinaten
Wiederholungen variierter Wörter entnehmen können: "Wer
ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie (...) Blutschande
(...) Friedhof der ermordeten Töchter (...) Die neuen Wintermorde
sind angekommen (...) Buchheil (...) Staunend leben (...) Schreiben
im Staunen (...) Wenn jemand alles ist für einen, dann kann
er viele Personen in einer Person sein (...) Es war der Anfang einer
universellen Prostitution (...) Die Gesellschaft ist der allergrößte
Mordschauplatz (...) In meinem Hals steckt ein wahnsinniges Lachen,
aber weil ich fürchte, daß ich dann nie mehr aufhören
könnte zu lachen, sage ich nichts mehr und werde immer düsterer
(...) rauchen und warten (...) Seit wann haben wir dunkle Schatten
über der Zentralheizung? (...) Etwas müssen wir doch an
der Wand haben, wenn wir schon keine Bilder aufhängen (...)
Es muß schon etwas bei den Primaten und später bei den
Hominiden danebengegangen sein. Ein Mann und eine Frau...seltsame
Worte, seltsamer Wahn! (...) Ich habe in Ivan gelebt und sterbe
in Malina (...) Es war nicht Malina (...) Es war Mord."
Doch als ob die Bachmannschen MALINA-Sätze
nicht alle unterirdisch, aber eben durchaus irdisch, wie die aus
sämtlichen Richtungen ihres unregelmäßigen Hexenrings
kreuz und quer herüber- und hinüberwachsenden Myzelfäden
eines großen "Finsteren Hallimasch" miteinander
verwoben wären zu dem einen Sprach-Organismus, der zu weiteren
Organismen der gleichen oder einer ähnlichen Art auch noch
verwandtschaftliche Beziehungen unterhält, habe ich, zunächst
nur mich der Aufgabe unterwerfend und keineswegs beseelt vom manchmal
zerstörerischen, manchmal auch bloß selektiven Forscherdrange,
mir den Satz "Es gibt nicht Krieg und Frieden." herausgefischt.
Warum nun ausgerechnet den? Auf die Gefahr hin, daß ich allein
schon für diese (zudem selbstverschuldete) Frage nichts als
Ihren - hoffentlich milden - Spott ernte, will ich mich jetzt endlich
bemühen, sie zu beantworten, nach Maßgabe meiner Möglichkeiten.
"Es gibt nicht Krieg und Frieden";
diese so breitbeinig dastehende Be-hauptung, dieses krasse
Gegenteil von einer Ent-hauptung, hat mich, gerade weil ich
- wie gesagt - von eher konfliktscheuem Wesen bin, schon dreimal
gereizt, ist vermutlich reizvoll allemal. Nun meint Bachmanns Behauptung
ja nicht, daß es den - ebenfalls bereits erwähnten -
gleichnamigen Roman von Leo Tolstoi nicht gäbe. Nein, ihr Satz
meint, daß es den "Frieden" nicht gibt und nicht
das "und"; und obwohl es dieses "und"
ebensowenig gibt wie den Frieden, trägt das kleine Bindewort
die ganze Last des wuchtigen und so vehement verneinenden Satzes,
der aus tiefem, aber kaum gut zu nennendem Grund eben nicht lautet:
Es gibt nicht Krieg oder Frieden. Nicht oder, sondern "und"
heißt es in dem Satz, weil wir Leser die Assoziation zu Tolstoi
durchaus haben sollen, weil wir, wie Bachmann in ihrer ersten Frankfurter
Vorlesung forderte, mitdenken sollen, weil Bachmann die Assoziation
auch hatte und sie auf uns Leser übertragen wollte.
Rückblende: Ich bin einundzwanzig, in MALINA verstrickt und
gereizt, weil ich den Satz, "Es gibt nicht Krieg und Frieden"
reizvoll finde, obwohl er mich zum Einspruch, zum Widerspruch reizt.
Klar gibt es Frieden, will mein lesendes Ich dem erzählenden
Ich aus MALINA ins Wort fallen. Oder sitze ich hier vielleicht nicht
friedlich in meiner Couchecke mit einem Bachmann-Buch, frisch aus'm
Westen und einem Kaffee, auch aus'm Westen? Laß mich in Frieden
weiterlesen; laß mich in Frieden mit deinem Krieg! Mein lesendes
Ich ist nämlich das eines weiblichen einundfünfziger Nachkriegskindes
aus und in der DDR, das nicht wünscht, in die Erfahrungen und
wahrscheinlich von denen herrührenden Ängste eines schreibenden
österreichischen Kriegskind-Ich hineingezogen zu werden, es
kann nicht, will nicht, aber: Es soll - und es muß. Es ist
dem Buch schon zu lange gefolgt und zunehmend bedrückter, denn
ein Vater, Mutter, Krokodil,... genannter Mörder in wechselnden
Verkleidungen verfolgt die, auch noch von meinem lesenden Ich mit
steigender Spannung verfolgte, namenlose Erzählerin durch die
gräßlichsten Träume, in denen sie die schändlichsten,
beschämendsten, qualvollsten Tode stirbt - und niemand hilft
ihr in diesen Träumen, nur einmal jener Teil von ihr, den sie
Malina nennt, der sie nicht verläßt, der schließlich
von ihr verlassen werden wird, weil er ihre Geschichten nicht wahrhaben
will und nichts wissen von dem rebellischen Zerstörtsein, auch
einem Sein immerhin, das sich in ihren Träumen offenbart -
mehr noch als in allem anderen.
"Malina: Du wirst also nie mehr sagen:
Krieg und Frieden.// Ich: Nie mehr./ Es ist immer Krieg./ Hier ist
immer Gewalt./ Hier ist immer Kampf./ Es ist der ewige Krieg."
So endet das Kapitel "Der dritte Mann",
das zweite der insgesamt drei MALINA-Kapitel. Und ich sitze auch
immer noch auf meiner Couch, rauchend und lesend, und denke verstockt:
Was soll's, du armes, geschundenes Ich, wir beide wissen ja, daß
deine Erfinderin, diese dir wie eine Schwester ähnliche, gerade
zwölf Jahre alt war als sie den Männern des gebürtigen
Oberösterreichers Alois Schicklgruber, alias Adolf Hitler,
zum ersten Mal begegnete, daß dieses Erlebnis bei ihr zu einer
Art Schlüsseltrauma führte: "Es hat einen bestimmten
Moment gegeben, der hat meine Kindheit zertrümmert. Der Einmarsch
von Hitlers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Entsetzliches,
daß mit diesem Tage meine Erinnerung anfängt: durch einen
zu frühen Schmerz, wie ich ihn in dieser Stärke vielleicht
später überhaupt nie mehr hatte. Natürlich habe ich
das alles nicht verstanden in dem Sinn, in dem ein Erwachsener es
verstehen würde. Aber diese ungeheure Brutalität, die
spürbar war, dieses Brüllen, Singen und Marschieren -
das Aufkommen meiner ersten Todesangst..."
Als ich MALINA zum erstenmal las, kannte ich
diese Sätze bereits, aus einem Gespräch, das die "Brigtte"-Redakteurin
Gerda Bödefeld 1971, im MALINA-Erscheinungsjahr, mit Ingeborg
Bachmann geführt hatte. Ina, ein Mädchen aus der Nachbarschaft,
hatte sie in einem Brief ihrer Westberliner Cousine gelesen, dann
abgeschrieben und die Blaupausen an ihre Freundinnen verteilt. Ich
weiß noch, daß ich sehr ergriffen, ja gerührt war
von diesem Text. Von MALINA hatte ich mich auch ergreifen lassen
wollen, aber doch nicht so, wie es nun geschah. "Glücklich
mit Ivan", steht über dem ersten Kapitel. Also hatte ich
eine zu Herzen gehende Geschichte erwartet, eine Liebesgeschichte
oder wenigstens die einer grandiosen Errettung. Schließlich
war der Mann kein Österreicher und hieß "Ivan".
Nicht anders nannte "Fritz", der "einfache Mann"
meines Volkes, seinen Befreier und Besatzer. Und ich war kein Nachkriegskind
mehr, sondern, dank Ivan, ein Friedensfräulein, daß Masern,
Mumps und sogar die Pubertät längst hinter sich gelassen
hatte. Und obwohl ich 1972, als MALINA mich verwirrte und enttäuschte,
im wahren Sinne des Wortes, schon nicht mehr glaubte, daß
wir "DeDeRonis", wie uns die Tschechoslowaken spöttisch
nannten, an der Seite unserer sowjetischen Genossen den Krieg gewonnen
hätten und sich auch meine Begeisterung für unseren immer
noch dürftigen Sozialismus bereits seit meinem zehnten Jahr
- und dem ersten der Berliner Mauer - buchstäblich in Grenzen
hielt, betrachtete ich Männer, speziell die jüngeren,
doch als mich grundsätzlich an- und von Fall zu Fall auch ausziehende,
in meinem Land den Frauen gleichberechtigte Mitmenschen, die aber,
im Unterschied zu uns und im Einklang mit meinem Hang zur Schadenfreude,
erst einmal in der Nationalen Volksarmee und, wenn sie Pech hatten,
sogar an der Grenze dienen mußten, während ich gemütlich
in meiner Sofaecke liegen und MALINA lesen konnte.
1997, als ich Ingeborg Bachmanns "einziges
langes Buch" zum zweiten- und sowieso 2001, als es zum drittenmal
wiederlas, kannte ich die meisten von ihr und sehr viele der über
sie veröffentlichten Texte bereits, und war, sicher auch deshalb,
gar nicht mehr ivan, aber schon ein wenig malina.
- Wie das zu verstehen ist, das darf ich Ihnen jetzt erläutern.
Darauf, ich gebe es gern zu, freue ich mich, seit ich es entdeckt
habe; vielleicht nicht als einzige, aber ganz allein, was genau
bedeutet, allein mit der Hilfe Ingeborg Bachmanns.
In ihrer Frankfurter Vorlesung über den
"Umgang mit Namen", beschreibt Bachmann, Joyce zitierend,
daß Namen "im Sinn u n d lautlich verrückbar"
sind; "sie können verrückt gemacht werden, verschrieben
oder verstellt werden, aber doch so, daß der ursprüngliche
Name angespielt wird..." Sie belegt das mit dem "Akrostichon,
das der junge Bloom fabriziert hat." - Doch jetzt kommt das
Eigentliche. - Bachmann: "Wie mit dem Namen Bloom Karussell
gefahren wird, bis dem Namen und uns schwindlig wird, zeigt eine
andere Stelle (ein Anagramm, das Bloom in seiner Jugend gemacht
hat)".
Ich schaute auf von der Lektüre, denn
ich erinnerte mich in diesem Moment an eine Passage in MALINA, bei
der mir zunächst gewesen war, als hätte ich mich verlesen.
Und dann erinnerte ich mich auch an einen Satz Hermann Burgers,
dem genau dasselbe aufgefallen war.
"Malina: Todesarten.// Ich: Aber auf dem nächsten Zettel,
DIN A 2, zwei Jahre später geschrieben, steht Todesraten'."
- "Todesarten : Todesraten", das
zumindest, da wußte ich mich mit Burger einig, war kein Freudscher
Verleser, kein Druckfehler, kein Zufall. Und nun lösten die
Wörter Freud und Verleser eine geradezu psycho-logische
Assoziation in mir aus. Und noch einmal las ich den in beinahe allen
Rezensionen und Essays zu MALINA erwähnten, berühmten
Satz "Ich habe in Ivan gelebt und sterbe in Malina." Diesen
Satz schrieb ich auf ein Blatt Papier, DIN A 4, und starrte ihn
an, bis es mir, buchstäblicher denn je, wie Schuppen von den
Augen fiel: IVAN : NAIV, MALINA : ANIMAL. Der Titel-"Held",
wenn ich das mit Malina bezeichnete Undefinierbare einmal so nennen
darf, des ersten Todesarten-Buches und ebenso Ivan, die zweite Erscheinung,
Projektion, Teilsubstanz,..., zwischen denen das Drei-Buchstaben-Ich
klemmt, bis es, zusammengeschrumpft zum mittleren c oder noch weniger,
also n-ICH-ts, in eine Wandritze entweicht, und nur sie übrigbleiben
- im Zimmer und am Telefon, - sie sind Anagramme. Und was für
Anagramme! In dem Moment, in dem wir Leser, sie als solche erkannt
und entschlüsselt haben, verwandeln sich die vermeintlichen
Namen in Wörter, mit denen unsere Vorstellung etwas recht Konkretes
verbindet, aus dem Lateinischen aus- oder eingewanderte Wörter,
die wir als eigenschaftshaltige Zustandsbeschreibungen des Seins
verstehen. Ivan, der vermeintliche Begriff für ein Amalgam
aus einer - wie eine Wand bis zur Unkenntlichkeit vollprojizierten
- literarischen Liebhaberfigur und einer allein im erzählenden
Ich, diesem "Niemand und Jemand in Narrenkleidern", existierenden
und schließlich selbst dort zur Erinnerung verblassenden Sehnsuchtsphantasie,
wird zu einem Adjektiv, bei dem wir an Kinder denken, an junge Mädchen
und dilettantisch gemalte bunte Bilder. Und aus dem ohnehin seltsam
weiblich klingenden Begriff Malina, der, wie die Rezeption übereinstimmend
meint, dem Prinzip Mann zugeschriebene Verbalreaktionen und Verhaltensweisen
nicht literatur-wirklich verkörpert, aber wenigstens hervorbringt,
wird Animal. - Ein Blick ins Wörterbuch macht staunend
im Schreiben'. "Animal: die aktive Lebensäußerung
betreffend, auf Sinnesreize reagierend, zu willkürlichen Bewegungen
fähig." Aber so richtig weckte mich erst das - dem Wort
"animal" eingeschriebene - Wort "anima", das
etymologisch wie folgt definiert ist: "Lufthauch, Atem, Seele",
nach C. G. Jung die Personifizierung der verdrängten gegengeschlechtlichen
Züge eines männlichen Individuums, also die Frau im Unbewußten
des Mannes". - Somit ist MALINA gerade nicht das, was uns die
meisten bislang an dem Text verübten Deutungsversuche nahegelegen
wollen, nicht "das Männliche im Unbewußten der Frau",
sondern der Teil eines literarischen Doppel- und Dreifachwesens,
der den Ich-genannten weiblich-kreativen Teil dieses mit MALINA
betitelten seltsam metamorphen (Geistes- und Gemüts)-Zustands
vernünftig, pragmatisch und therapeutisch souverän enteignet,
aber eben auch beerbt. Doch warum heißt das Buch MALINA und
nicht Ich oder Ivan? Wohl weil das ermordete weibliche Ich, das
naiv auf Wiederbelebung und Heilung durch eine als Iwan imaginierte
Liebe hoffte, und in dieser Zombi-Phase von seiner Hoffung und seiner
Vernichtung und der Vernichtung der Hoffnung erzählte, sich
schließlich nur noch in die Ivan-Wand verkrümeln kann,
auf die es seine immer weniger bunten Liebesfilmbilder bis zuletzt
projiziert hat; aber animal und als Anima, als "Lufthauch,
Atem, Seele", als das Gespenst des Weiblichen im Männlichen,
überdauert es vielleicht seinen als Krieg gegen jegliche feminine
Erfahrung inszenierten Tod, der jedoch keineswegs Resignation bedeutet.
Denn dieses sich "verzettelnde, verirrende, verlierende"
Ich, wie die Germanistin Sigrid Weigel es sieht, muß ja aufgelöst
werden, nur so verschwindet es nicht vollends, sondern überläßt
sein Bestes und Schlimmstes, nämlich die gescheiterte Utopie
eines Erzählens aus dem unmittelbaren Da-sein, die schönen
und furchtbaren Worte, in "großer Erregung gesagt",
dem - Menschen gegenüber besonneren, wachsameren und überhaupt
eher analytisch veranlagten - Prinzip MALINA. Auf daß Malina,
seines Verlusts wie seines Gewinns sich bewußt werdend, möglicherweise
zu einer neuen Form des Sprechens, Erzählens, Schreibens findet,
einer Form, in der die verletzenden und verletzten, demaskierten
und parodierten Figuren nicht mehr gegen ihren Willen, also wehrlos
und zornig, in den Geschichten gefangen sind, sondern die Geschichten
in ihnen.
- "Übernimm du", spricht das
Ich zu Malina, "die Geschichten, aus denen die große
Geschichte gemacht ist. Nimm sie alle von mir." - Müßig
zu sagen, daß auch dieser Satz wieder eine doppelte Spur enthält:
"... nimm sie alle von mir" und "nimm sie
alle von mir".
Und wer weiß, vielleicht wäre ja,
- der ganz andere Ton, in dem die "Simultan"-Erzählungen
Frauen reflektieren, läßt mich das vermuten, - aus dem
weiblichen Ich, dem männlichen Malina und Ivan, der halluzinierten
Sehnsucht nach einer alles erneuernden symbiotischen Liebe von Mann
zu Frau oder einem Menschen zum anderen, doch noch so etwas Freies
und - bei allem Ungleichen - einander Ebenbürtiges geworden
wie die Geschwister Agathe und Ulrich im Fragment gebliebenen Roman
"Der Mann ohne Eigenschaften" des von Bachmann hoch geschätzten
Robert Musil, ein Amalgam, eine androgyne Schreib-Stimme, die den
Friedenskrieg zwischen den Menschen toben hört und artikulieren
kann, aber ebenso den Kriegsfrieden in ihnen, weil jeder
beides ist und damit auch all das, was die Männer den Frauen
und einander antun, und die Frauen einander und den Männern
- seit und solange es die Welt gibt, und uns, und den Krieg, und
die Literatur. - Womit ich endlich wieder auf den von Tolstoi inspirierten
Satz zurückkomme, der nun auch meiner ist, so wie Ingeborg
Bachmann ganz selbstverständlich manchen Satz eines anderen
Dichters oder Schriftstellers unterschiedslos und meist ohne Beistriche
mit ihren Sätzen verband, wenn der sie nur "erregte",
weil sie ihn für "magisch" befand oder "wahr".
- Im Werk dieses verarmten russischen Grafen, lieblosen Gatten und
Vaters von elf Kindern gibt es einen Satz, den man gut neben den
der Ingeborg Bachmann stellen könnte, so von ihr inspiriert
klingt er: "Die Menschheit hat sich genug vermehrt, es wäre
an der Zeit, daß sie sich vereinigt."
Mit der, wie wir gesehen und gehört haben,
keineswegs unausgesprochenen Aufforderung, ihre Anagramme zu entschlüsseln,
hat uns Ingeborg Bachmann einen - wiederum buchstäblichen -
Schüssel in die Hand drückt, einen aus einem dicken Bund
von Schlüsseln, der uns eine Tür öffnet - oder zwei
- zu den vielen einander kreuzenden und querenden (Gedanken-)Gängen
im Labyrinth MALINA, enge Gänge, in die wir, nun, da es uns
gepackt hat, tiefer und tiefer hineinkriechen mit Helm und Grubenlampe,
wie Forscher auf der Suche nach weiteren versteckten Schlüsseln,
Türen und Gängen. Denn daß die außerordentlich
sprach- und formbewußte, belesene und überhaupt vielseitig
gebildete Dichterin mit der Affinität zu kabbalistischen Wortspielen
wußte, was wir Leser "mitdenken" sollen bei Ivan
und Malina, daran habe ich keinerlei Zweifel. Zumal sie in den erwähnten
Frankfurter Vorlesungen, die sich, flach gesagt, als eine Art Gebrauchsanweisung
zum Lesen ihres Werkes und besonders der Prosa verstehen lassen,
uns auch noch diese Erbsen auf oder in den Weg streut: "Namensverweigerung,
Namensironisierung, Namensspiel mit und ohne Bedeutung, die Erschütterung
des Namens: das sind die Möglichkeiten - aber es gibt noch
eine radikalere."
Die noch radikalere Möglichkeit beschreibt
sie anhand von William Faulkners "Schall und Wahn", mit
dem Faulkner seine Leser "in Verzweiflung stürzt",
weil er gleich klingende Namen immer anders geschrieben auf unterschiedliche
Figuren verteilt, die außerdem auch noch je einmal weiblich
und einmal männlich sind. "In den Text verstrickt",
schreibt Bachmann, "fühlt man sich wie in einen Spürhund
verwandelt, der alle Augenblicke die Spur verliert, weil ihm wieder
ein anderer Geruch in die Nase gekommen ist. Aber (...) wir sollen
die Figuren ja nicht an ihren Namen erkennen. Die Namen muten wie
Fallen an. Erkennen sollen wir sie an etwas ganz anderem, an einem
Flor, der jede Person umgibt, an einer in sehr zarten Stimmungen
bezeichneten Konstellation, in der sie stehen. Sie wird ausgedrückt
in kleinen Zitaten, auf die wir achten sollen (...) Wichtiger, als
auf die Namen zu achten, ist es, auf den Zusammenhang zu achten,
in dem der Name genannt wird (...) Wir entdecken plötzlich,
daß wir nur so an Boden gewinnen, daß die Personen uns
sonst für immer verborgen blieben. Und sie wollen sich verbergen,
denn da ist ein Grund, ein Rätsel, das die Namen scheu macht.
Es ist einmal etwas geschehen, Blutschande, und die Schuldigen wollen
nicht genannt sein - das Kind aus der Beziehung soll nicht genannt
sein. Das Geschehnis wird öfter beschworen und sogleich wieder
vertuscht, und die Namen werden beschworen und vertuscht (...) Die
Methode Faulkners ist eigentlich die: uns abzubringen von den Namen,
um uns umweglos, erklärungslos in die Wirklichkeit zu stoßen.
Nicht er, der Autor, maßt sich die Namen an, nicht er führt
sie uns vor... Sondern die Figuren untereinander kennen sich, nennen
sich und andere beim Namen, und wir müssen zusehen - wie in
der Wirklichkeit -, wie weit wir vordringen und was wir in Beziehung
zu setzen vermögen zwischen Menschen, die uns niemand vorformt,
präpariert und etikettiert zum größeren Verständnis."
Wie Sie jetzt gehört haben und jederzeit
selbst nachschlagen können, ist Ingeborg Bachmann nicht nur
eine große Dichterin und Schriftstellerin, sie war auch eine
ebenso meisterhafte, und daher nicht gerade an der schlichtesten
Lektüre interessierte Leserin. Und diese "radikalere Möglichkeit",
die sie uns mit Faulkner vorführt, o ja, die gibt es auch im
Buch MALINA, das sich - obgleich nicht nur der Ivan-Teil und die
Briefträger-Passage viel Ironie enthalten und die Journalistengeschichte
eine grandios gelungene, sogar amüsante Travestie ist - bei
seinen Lesern nicht anwanzen oder deren (ja gar nicht so banales!)
Leben treffend beschreiben will. MALINA ist das - völlig unglatte
- Gegenteil dessen, was manche Blatt- und Plattmacher das "neue
deutsche Erzählen" nennen, nämlich nicht eitel, nicht
verbindlich, nicht konventionell. Das Buch MALINA fordert die Leser,
auch die mit der Lizenz zur Rezension, schon sehr, - aber nicht
als Beifallspender oder mitgefühlige Hinterbliebene oder ideologische
Spekulanten, sondern als mitdenkende Menschen, und die können,
wenn es stimmt, was ich glaube, nämlich, daß Literatur
eine - gelegentlich sogar physische Affekte auslösende - Übertragung
ist, nicht dauernd lachen und es nicht leicht haben, denn für
MALINAS Autorin war das Schreiben dieses Buches sicher auch weder
lustig noch einfach, sondern wohl eher so etwas wie die Suche nach
einem Ausweg aus einer Krise, auch der Krise des "jahrzehntelangen
Ringens um die adäquate Prosaform", die wahrscheinlich
nicht weniger labyrinthisch verlief als der manchmal fast protokollhafte,
also, wie Bachmann betont, um die Wahrheit bemühte Bericht
davon. - Mit dem Menschenrecht auf's Geliebt- oder wenigstens Gelobtwerden,
ist der Anspruch, "wahre Sätze finden zu müssen"
aber kaum vereinbar, erst recht nicht, wenn man eine Dichterin ist
und eine Frau war, von der man in jeder Hinsicht Schönheit
erwartete. - Ich liebe und lobe Ingeborg Bachmann für diesen
Mut zum Antagonismus, für den schwierigen und auf andere als
die übliche Weise schön geführten Kampf um radikal
wahre Sätze, gerade in MALINA, ihrem bis heute am meisten mißverstandenen
Werk.
So, das war's, was ich sagen wollte, speziell
zu meinen jüngeren Kolleginnen und Kollegen, die hier ab morgen
öffentliche und womöglich unsanfte Kritik erwartet; doch
manche und manchen von Ihnen auch mehr als das - und eine oder einen
der 25 Ingeborg Bachmann Preis.
Ein letzter Satz sei mir gestattet, und selbst
der bloß, weil ich mich der Aufgabe, von einem ihrer Sätze
ausgehend, über Ingeborg Bachmann nachzudenken, nun lange genug
unterworfen habe: "Es gibt nicht Krieg und Frieden"; diesen
Satz mußte niemand finden, so scheußlich einfach nur
wahr ist er.
Meine Damen und Herren, ich danke für
Ihre Aufmerksamkeit.
© 2001 by Katja Lange-Müller
|