Jenny Erpenbeck
SIBIRIEN
Mein Vater sagt, an den Haaren
habe seine Mutter damals ihre Widersacherin aus dem Haus geschleift.
Habe sie an den schwarzen Haaren gepackt, im Flur ein oder zweimal
herumgeschleudert und schließlich aus dem Haus geworfen. Keine
Chance hätte sein Vater, mein Großvater, damals gehabt.
Und es sei auch die Freundin des Vaters nicht halb so beeindruckend
gewesen wie die Frau, mit der er verheiratet war, sagt mein Vater.
Großartig, sagt mein Vater, sei seine Mutter gewesen. Das
müsse ich mir einmal vorstellen, sagt er, daß sie Sibirien
überlebt habe. Sibirien! Daß sie all das überlebt
habe, woran die meisten gestorben seien: vier Wochen im Waggon,
Wasser aus Pfützen trinken, schlafen auf Toten, dreizehn Vergewaltigungen,
die Kälte, die Arbeit und kaum zu essen, zweimal Typhus, in
einen verfaulten Hering habe sie beißen müssen, das Salz
das einzige Mittel gegen das Sterben, und dann zurück, unter
dem Namen einer Toten zurück nach Deutschland, eingeschleust
in einen Krankentransport, kahlgeschoren und grindig heimwärts,
statt einer, die schon gestorben war. Ganz klar, sagt mein Vater,
daß es für jemanden wie seine Mutter gar keine Diskussion
geben konnte über die Frau, die sie an ihrem Platz vorfand,
als sie heimkam. An den Haaren habe sie die Freundin des Vaters
gepackt, du Ungeziefer, du Laus habe sie gerufen, hast dich hier
eingenistet, und dann sie herumgewirbelt an den Haaren, zweimal
herumgewirbelt durch den Flur, so daß die andere gegen die
Wand stieß, und der Jesus, der an der Wand angebracht war,
hinterher schief hing.
Und nach all dem, sagt mein Vater, nach
all dem: Nicht ein schlechtes Wort gegen die Russen. Das müsse
ich mir einmal vorstellen. Kein einziges Wort gegen die Russen.
Die Gefangenen hätten zu essen bekommen, wenig, und Suppe nur,
dünne Suppe, aber zu essen, habe sie immer gesagt - die Familien
der Sieger jedoch hatten in ihrem eigenen Land gar nichts zu essen.
Die Kinder ihrer Bewacher seien gestorben, sie aber habe überlebt,
seien die Worte seiner Mutter gewesen, sagt mein Vater.
Was das für ein Auftritt war, könne
ich mir nicht vorstellen. Kahlköpfig auf einem Tankwagen sei
sie daher geritten gekommen, wie eine aus dem wilden Heer, aus der
Nacht herübergeprescht gen Mittag - seine Mutter: rittlings
auf einem Milchtank, ein Bein rechts, ein Bein links, hoch oben,
und das Gesicht zerschrammt von den Ästen der Brandenburger
Alleen. In sein Leben sei sie hineingerutscht von diesem Milchtank
herunter, und er habe sie in dem Moment noch gar nicht erkannt,
sagt mein Vater, habe gar nicht gewußt, daß ihm überhaupt
eine fehlt, eine Mutter, weil er drei Jahre ohne ausgekommen war.
Aber beeindruckt sei er gewesen, habe im Hof dagestanden und sei
beeindruckt gewesen. Eine Erscheinung, sagt er. Meine Mutter - eine
Erscheinung. Seinen Namen habe sie gerufen, habe den Namen noch
gewußt und gewußt, daß er es war, sei vom Tank
auf die Erde gerutscht, mit beiden Füßen auf die Erde,
habe sich vor ihn hingehockt in den Sand und seinen Namen gesagt
und wieder gesagt. Aber er habe die Frau nicht gekannt, habe nicht
gewußt, daß das seine Mutter war, habe vergessen gehabt,
was überhaupt eine Mutter ist. Deshalb sei er stumm geblieben,
doch sie habe ihn umarmt, habe ihn mit ihren gewaltigen Armen eingeschlossen
und nach Vanille gerochen, obwohl sie ganz schmutzig war, nach Vanille.
Dann sei sie aufgestanden und schnell über die kleine Treppe
hinaufgelaufen, geradenwegs in das Haus, in den Flur, und vom Flur
auf die Schwelle zur Küche. In der Küche saßen die
beiden. Nichts Besonderes, sagt mein Vater, sie haben gegessen,
es war ja Mittag.
Obwohl sie so viel durchgemacht hatte,
sei seine Mutter mit großer Kraft heimgekehrt. Sie habe die
Kraft wahrscheinlich gebraucht, um sich vom Krieg abzustoßen.
Vielleicht war, daß es weiterging, genau das Problem, daß
sie wußte, was hätte verloren sein können, und es
war aber nicht verloren, sondern war noch da. Inzwischen glaube
ich, sagt mein Vater, daß die Kraft nur der Größe
ihrer Anstrengung entsprochen hat. Ja, sagt er, es müsse für
seine Mutter eine Anstrengung gewesen sein, das Leben zu schätzen,
nur weil sie es hatte behalten dürfen, und wieder da anzufangen,
wo sie aufgehört hatte, als sei sie noch diejenige, die drei
Jahre zuvor nach Sibirien geschafft worden sei. Es muß eine
Anstrengung gewesen sein, zu versuchen, wieder die Frau zu werden,
die sie drei Jahre zuvor gewesen war. Deshalb wahrscheinlich sei
sie mit solcher Gewalt aufgetreten, weil sie selber nicht wußte,
ob es noch möglich sei, den Erdrutsch aufzufangen, der ihr
Leben verrückt hatte.
Wild sei seine Mutter gewesen, bei Gott,
eine Wilde. Nie werde ich das vergessen, sagt er, wie sie die andere
erst ohne ein Wort bei den Schultern gepackt und geschüttelt
und nur den Blick in sie hineingebohrt hat, weil ihre Wut sich derart
hinter den Zähnen staute, daß kein einzelnes Wort herausfahren
konnte. Und wie dann die Worte plötzlich herausgesprungen sind
und sie die Frau geohrfeigt und dabei gerufen hat: Du Hure, du feige
Hure, was machst du in meinem Haus, und die Frau bei den Haaren
gepackt und aus der Küche bis in den Flur gezogen und herumgewirbelt
hat, sie als Ungeziefer, als Laus tituliert und schließlich
zur Tür hinaus und die Treppe hinuntergeworfen. Die kleine
Treppe, sagt mein Vater, an der jetzt das Geländer so verrostet
ist, daß es bald abfallen wird. An dem Geländer habe
sich die Frau damals festzuhalten versucht, sagt er, das sei ihr
jedoch nicht geglückt, weil seine Mutter ihr einen solchen
Schwung mit auf den Weg gegeben hatte. Das sei ein Gegensatz gewesen,
sagt mein Vater, einerseits diese Stimme, diese großartige
Stimme seiner Mutter, und andererseits nur Geräusche. Kein
Wort hat die sich zu sagen getraut, sagt mein Vater, kein Wort.
Unscheinbar sei sie gewesen, die Freundin
seines Vaters, keine Schönheit, und gesprochen hätte sie
nie viel, nicht einmal in der Zeit, als sie bei ihnen wohnte, bevor
die Mutter aus Sibirien zurückkam. Hätte sich nicht getraut,
mit ihm, dem Sohn, zu reden, hätte gekocht oder aufgeräumt,
aber nichts gesagt. Deine Schattenmorelle, habe seine Mutter sie
im nachhinein seinem Vater gegenüber immer genannt, aber sein
Vater habe, wenn sie das sagte, geschwiegen. Schön war meine
Mutter immer, sagt mein Vater. Das kannst du auf den Fotos sehen.
Vor der Gefangenschaft sei ihr Gesicht rund und glänzend gewesen
wie ein Apfel, blank irgendwie, viel gesundes Fleisch hinter der
Haut und alles fest. In der Gefangenschaft aber sei sie so durchscheinend
geworden, wie man es auf den späteren Fotos sieht, und das
gefiele ihm, wenn er jetzt die Fotos vergleiche, noch besser. Das
Innere sei mehr zum Vorschein gekommen, das Fleisch hinter der Haut
sei weniger geworden, aber das Innere mehr. Wenn du dir vorstellen
kannst, was ich meine. Sie sah aus, sagt mein Vater, als ob alles,
was sie erlebt hat, ihre Haut dünner gemacht hätte, ihre
Oberfläche abgewetzt und das, was dahinter war, zum Vorschein
gebracht. Er erinnere sich noch gut daran, wie er sich als Kind,
wenn sie ihm Geschichten erzählte, immer vorstellte, er könne
durch ihre Haut hindurch all das sehen, was sie erlebt hat. Sibirien
sei ein schönes Land, habe sie zum Beispiel wieder und wieder
gesagt, und dann habe er Sibirien durch sie hindurch deutlich sehen
können: kalt, weit und großartig, Wald, der sich hinter
den Wangen der Mutter auftat und kein Ende hatte, menschenlose riesige
Wildnis, viel Wasser. Im Frühling habe es immer sehr lange
gedauert, bis der Boden aufgetaut sei, aber gute Erde sei es gewesen,
fruchtbarer Boden, habe sie immer wieder gesagt, und viel Platz
dort, alles weit. Wenn sie nicht hätte zurück müssen
zu ihrer Familie, wäre sie gern dort geblieben, habe sie manchmal
gesagt.
Wenn sie nicht zu uns zurückgekommen
wäre, dann wäre sie gar nicht zurückgekommen, sagt
mein Vater. Wir sind ihr Ziel gewesen, und deshalb war klar, daß
sie, als sie am Ziel war, ankommen mußte. Körperlich
sei sie viel schwächer gewesen als die Freundin des Vaters,
aber es habe eben für sie keine andere Möglichkeit gegeben,
als ihr Leben wieder in Besitz zu nehmen. Das glaubt man nicht,
sagt mein Vater, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat,
wieviel Kraft ein Mensch aufbringt, nur um das, was war, wieder
in die Gegenwart zu ziehen. Geohrfeigt habe sie die andere in der
Küche, als könne sie so die Vergangenheit, die ihr abgesoffen
war, wiederbeleben. Mit ein paar kräftigen Ohrfeigen wachmachen
und zum Leben zurückbringen. Das sei etwas gewesen, das er
nie mehr hätte vergessen können, sagt mein Vater: wie
einfach und klar seine Mutter reagiert hat. Einfach den Leib der
anderen mit ihrem Leib hinauszuschieben, das eine Fleisch einfach
durch das andere zu ersetzen, einfach an die Stelle, an der sie
deren Körper vorfand, ihren Körper zu stellen. Im Nachhinein
habe er noch oft daran denken müssen, wie sie, als die andere
weg war, das Essen, das die für seinen Vater zubereitet hatte,
vom Tisch genommen und in den Abfall gekippt hat. Zwiebeln habe
sie genommen und Kartoffeln und Fett, und neu angefangen zu kochen.
Sein Vater habe geschwiegen.Er habe, nachdem seine Frau aus Sibirien
heimgekehrt war, kaum noch Möglichkeiten gehabt, seine Freundin
zu sehen, und habe daher begonnen, ihr Briefe zu schreiben. Ich
bin ihm nachgegangen, sagt mein Vater, ich habe gesehen, wie er
die Briefe im Mauerschlitz eines Hauses versteckte, wo die sie später
herausfischte. Seine Schattenmorelle, sagt mein Vater. Briefe aus
dem Schatten zu fischen, das habe zu ihr gepaßt. Damit habe
die sich zufriedengegeben, sagt er. Nicht das Format, das seine
Mutter hatte. Feige sei die gewesen, kein einziges Mal mehr habe
die sich zum Haus hingetraut. Ohne zu kämpfen, habe die den
Kampf aufgegeben. Sein Vater habe schon gewußt, warum er die
Briefe in Kurzschrift verfaßte, denn wären sie lesbar
gewesen, hätte er, der Sohn, sie sicher gelesen und seiner
Mutter gesagt, was drin stand. Bis heute wisse er nicht und könne
sich auch nicht vorstellen, was sein Vater ausgerechnet dieser Frau
so dringend zu schreiben hatte, die nicht einmal willens war, um
ihn zu kämpfen. Einmal die Treppe hinuntergeworfen und schon
aufgegeben. Einige Dinge ließen sich nun einmal nicht anders
auskämpfen als mit dem Körper, dazu gehöre an erster
Stelle die Liebe, das habe er von seiner Mutter gelernt. Er glaube,
daß sein Vater im Grunde damals schon eingesehen habe, daß
seine eigene Frau viel beeindruckender war als diese Freundin. Sonst
hätte er doch etwas unternommen, sagt mein Vater. Im Grunde
sei sein Vater froh gewesen, daß die Mutter heimgekehrt war.
Selbst mit dem einen Bein wäre es doch sonst ein Leichtes für
ihn gewesen, Partei für seine Freundin zu ergreifen, etwas
zu unternehmen. Oder. Selbst mit dem einen Bein sei er ja noch immer
viel stärker gewesen als seine Frau. Aber er habe nicht kämpfen
wollen, das war es, sagt mein Vater. Weil er fand, daß es
sich nicht lohne. Deshalb. Nur in dem einen trüben Punkt seien
die beiden sich einig gewesen, in ihrer Feigheit. Ein Rätsel
sei es ihm, dem Sohn, schon damals gewesen, was sein Vater in die
Briefe hineinschrieb, und sei es ihm bis auf den heutigen Tag. Bis
heute könne er sich nicht vorstellen, was es denn war, das
sein Vater mit der Mutter nicht hätte besprechen können.
Er selbst nämlich habe sehr gern seine Mutter um Rat gefragt.
Lebenserfahrung, sagt er, hätte seine Mutter gehabt wie sonst
niemand. Ist ja klar, sagt er, nach all der Zeit.
Sein Vater hätte damals nie mit
ihm geredet, aber seit einiger Zeit käme er, als wenn nichts
wäre, zum Traum hereinspaziert. Erst letzte Nacht, sagt er,
habe sein Vater ihn bei der Hand genommen und sei mit ihm in einem
Boot auf einen See hinausgefahren. Aber der See sei, während
der Vater ruderte, immer größer geworden, bis das Ufer
nicht mehr zu sehen war, so groß wie ein Meer. Und dort, mitten
auf dem Meer, habe der Vater versucht, mit ihm zu sprechen. Er,
der Sohn, habe jedoch nichts hören können, weil ein starker
Wind dem Vater alle Worte vom Mund riß und über das Wasser
hinweg in alle Himmelsrichtungen spuckte. Er habe gesehen, wie die
Worte des Vaters durch fremde Fenster hinein- und zu fremden Türen
hinausfuhren, Staub über Straßen jagten und Bäume
bis aufs Gerippe entblößten, wie sie geatmet wurden und
blähten, sich auf den Zungen des Wassers ausruhten und wieder
davonflogen, eine Fahrt ohne Ende. Irgendwann habe der Vater geschwiegen,
da sei das Wehen zur Ruhe gekommen, und das Wasser habe nur noch
leise ans Boot geschlagen, und schließlich sei ganz und gar
Stille eingetreten, eine Stille, weiß wie ein Blatt Papier,
und auf diesem Blatt Papier könne er noch jetzt den Satz lesen,
den sein Vater in die geträumte Stille hinein sagte: Die Wahrheit,
habe der Vater gesagt, sei aus anderem Stoff als ein Schweinebraten.
In dem Augenblick habe er, der Sohn, bemerkt, daß das Boot
im Wasser festgefroren war, und sein Vater und er mußten aussteigen
und zu Fuß über das Eis nach Hause zurückgehen.
Seit heute morgen nun würde er die Vorstellung nicht mehr los,
daß die Wahrheit ein Wind sei, der auf irgendeinem Meer bis
in alle Ewigkeit dieses Boot schaukelt, das sich, als es wieder
wärmer wurde, gelöst hat und davongetrieben ist. Unwirtlich
seien seine Träume geworden, seit ihn sein Vater im Schlaf
besucht, sagt mein Vater.
Meine Mutter war klug, sagt mein Vater.
Sibirien sei ein schönes Land, habe sie oft gesagt, und so
sei bis auf den heutigen Tag in seinen Augen Sibirien ein schönes
Land. Es sei fruchtbar, guter Boden für Weizen, so gut, daß
man nicht einmal düngen müßte. Zweimal im Jahr könne
man ernten, dort in Sibirien, wenn man nicht faul sei. Der Boden
gäbe das her. Seine Mutter, sagt mein Vater, habe die Augen
auf die Schönheit gerichtet, und das sei eine Fähigkeit,
um die er sie beneide. Es habe sie einfach nicht interessiert, ob
der Vater die Verbindung zu seiner Geliebten weiter aufrechterhielt.
Nachdem sie diese Geliebte aus der Küche herausgezogen, aus
ihrem Haus gestoßen und die Treppe hinuntergeworfen hatte,
war das einfach nicht mehr interessant für sie. Wie ein gestohlenes
Kleid habe sie der anderen ihren Anspruch vom Leib gerissen, habe
ihr die Wünsche wie eine Haut über den Kopf gezogen und
ihr dann einen Tritt versetzt - aber damit, sagt mein Vater, war
es für sie auch erledigt. Sie sei nicht im mindesten nachtragend
gewesen, sagt mein Vater, und habe es auch gar nicht nötig
gehabt. Alles, was recht oder unrecht war, habe sie nun einmal scharf
angeleuchtet, das sei ihre Natur gewesen, es sei einfach ein gleißendes
Licht von ihrem Verstand ausgegangen - und dadurch habe sie, ohne
daß sie noch hätte einen Gedanken daran verschwenden
müssen, andererseits eben harte Schatten geworfen. Seine Mutter
sei klug gewesen, sagt mein Vater. Sie habe sicher gewußt,
daß alles, was einmal in diesen Schatten fiel, blind blieb.
Er, der Sohn, habe damals nicht anders
können, als seinen Vater zu beobachten. Ihm sei dieser nach
der Wiederkehr der Mutter vorgekommen wie einer, auf den man geschossen
hat, der aber nicht tot umfällt. Der Vergleich sei nicht gut,
sagt mein Vater, denn im Grunde sei es genau umgekehrt gewesen:
Seine Mutter sei mit einem ungeheuren Willen zum Leben aus ihrer
Gefangenschaft zurückgekommen, der Vater aber habe dem Leben
nichts mehr abgewinnen können. Nachdem sein Bein weg und er
vom Krieg beurlaubt war, habe er ohnedies nur noch wenig gesprochen,
nach der Rückkehr seiner Frau aber sei er praktisch verstummt.
Wie ein Geist sei sein Vater ihm zu der Zeit erschienen, wie einer,
in den man hineingreifen kann wie in Luft. Ohne auf Fleisch zu stoßen,
ohne auf irgend etwas zu stoßen, das einem Widerstand entgegensetzt.
Unheimlich sei das gewesen, sagt mein Vater. Er erinnere sich noch
gut daran, wie er geradezu davon besessen gewesen sei, seinen Vater
zu beobachten, um das herauszufinden, von dem er damals nicht wußte
und bis auf den heutigen Tag nicht weiß, was es war. Eine
wahre Beobachtungswut sei über ihn gekommen. Wut, sagt er,
sei wahrscheinlich für das, was damals seine Hauptbeschäftigung
war, das richtige Wort. Verschwendung habe man durch den Krieg hassen
gelernt. Und es sei Verschwendung gewesen, sagt er, daß seine
Mutter zu diesem Mann zurückkam - aus Sibirien - zu diesem
Mann. Alles, was ihm an seiner Mutter so gefiel, sei vom Vater geschluckt
worden, der ganze Vater sei ihm vorgekommen wie ein einziges, tiefes,
schweigsames Loch, eine Müllgrube. Das habe ihn, den Sohn,
damals wütend gemacht: zu sehen, wie dieser Mann alles, was
seine Frau ihm schenkte, durch sein Schweigen in Müll verwandelte.
Oft habe er den Vater beobachtet, wie
er im Schuppen saß, ganz still saß er da zwischen dem
Brennholz, hielt einen Brief in der Hand und las. Geantwortet habe
sie ihm ja auf seine Briefe, die Schattenmorelle, sagt mein Vater.
Aber sonst nichts. Gekämpft nicht. Nur geschrieben. Ganz still
habe der Vater dagesessen, die Antwort gelesen und dabei getrunken.
Die Schnapsflasche zwischen die Scheite geklemmt und ein Gläschen
neben sich auf dem Hackklotz. Das kleine mit dem hellblauen Streifen.
Bis zu dem Streifen habe er sich immer eingeschenkt, nie drüber,
und immer getrunken, während er las, aber keines der Gläschen
war voller als bis zu dem hellblauen Streifen. Letztendlich, sagt
mein Vater, sei diese Freundin schuld daran, daß sein Vater
so früh sterben mußte. Da in dem Holzschuppen, beim Lesen
ihrer Briefe, habe er angefangen zu saufen, zwar immer nur gläschenweise
zu saufen, aber zu saufen. Es war nicht das Bein, sagt mein Vater.
Wenn man so eine Frau hat wie meine Mutter, sagt er, braucht man
sich keine Sorgen darüber zu machen, daß man auf einem
Bein durch die Welt geht. Nein, das Bein war es nicht, sagt mein
Vater. Es waren diese verflixten Briefe.Dann sei es schlimm geworden,
sagt er. Sein Vater sei eines Abends so betrunken gewesen, daß
er in den Spiegel hineinfiel, in den großen Spiegel, der damals
im Flur hing, gegenüber vom Jesus. Das Gesicht und den Arm
habe er sich dabei aufgeschnitten, und alles sei voller Blut gewesen.
Die Mutter und er hätten den Vater auf einen Schlitten gelegt
und ihn so die ganze Nacht hindurch hinter sich hergezogen, bis
in die Stadt, wo das Krankenhaus war. Seine Mutter habe immer getan,
was notwendig war, aber über all das kein Wort verloren. Eine
starke Frau war sie, sagt er. Meine Mutter, sagt er, hat gut gerochen,
selbst wenn sie schmutzig war, ich konnte sie anfassen, und wenn
sie wütend war, hat sie geschrien. Ein leidenschaftliche Frau,
sagt er, während sein Vater allem, was schwer war, immer nur
aus dem Weg gegangen sei. Nach dem Krieg jedenfalls. Wie der Vater
vor dem Krieg gewesen sei, daran habe er keine Erinnerung. Er wolle
ihm nicht unrecht tun, aber nach dem Krieg jedenfalls sei sein Vater
nur noch müde gewesen, und nichts mehr sonst. Im Grunde hätte
ihm damals nichts Besseres passieren können, als daß
seine Frau zurückkam und die Erziehung des Sohnes wieder übernahm.
Nicht einmal dazu sei sein Vater in der Lage gewesen: sein eigenes
Kind zu bändigen, ihn, meinen Vater, der damals noch klein
war. Er nicht, und seine Freundin schon gar nicht. Eines Tages zum
Beispiel habe mein Vater, um seinen kindlichen Willen durchzusetzen,
laut schreiend ein Glas zerschlagen, habe die Splitter in die Hand
genommen und damit gedroht, sie zu schlucken. Sein Vater aber habe
nur kurz zu ihm aufgesehen und nur einen einzigen Satz gesagt, und
nach dem Satz weiter an einem Wasserrohr herumgeschraubt. Der Krieg
ist aus, habe er gesagt, und dann in aller Ruhe weitergearbeitet,
habe sein Kind mit den Splittern in der Hand neben sich stehenlassen,
und sich nicht weiter darum gekümmert, was passiert. Von ganz
anderem Format sei die Mutter gewesen. In diesem ersten Moment,
als er sah, wie diese Frau die Freundin des Vaters packte, wie sie
das, was ihr nicht paßte, beim Schopf nahm, von Wand zu Wand
wirbelte und hinausstieß, in dem Moment habe er wiedererkannt,
wie er selbst war, sagt mein Vater. Ohne zu wissen, daß diese
Frau seine Mutter war, ohne überhaupt zu wissen, was eine Mutter
ist, habe er sie dennoch wiedererkannt. Sie hat mir in den Knochen
gesteckt, meine Mutter, sagt er.
Seine Mutter habe ja auch einiges durchgemacht
im Krieg, aber sie habe das Leben geliebt, habe es vielleicht durch
den Krieg mehr geliebt als zuvor. Durch die vielen Toten, die sie
gesehen hatte, sei sie dem Leben verfallen. Von seinem Vater aber
glaube er inzwischen, daß er zu denen gehört haben muß,
die durch den Krieg auf die Seite des Sterbens hinübergewechselt
sind, obgleich sie den Krieg überlebten. Er sei, als er aus
dem Krieg zurückkam, wie vom Tod befallen gewesen, so, als
umschließe seine Haut nicht wie bei anderen das, was lebendig
ist, sondern helfe ihm im Gegenteil, sich vom Lebendigen abzugrenzen.
Er erinnere sich noch, wie der Vater immer die Hand wegzog, wenn
die Mutter ihn anfassen wollte. Der Vater sei überhaupt nur
noch auf dem Rückzug gewesen, als wäre das seine Krankheit.
Bis zum letzten Atemzug habe er der Mutter die Hand weggezogen.
Die Frau aber habe von dem Tage an,
als er bettlägerig wurde, auf der anderen Straßenseite
gestanden. Sie habe offenbar gewußt, daß sein Vater
im Sterben lag, sei aber niemals nähergekommen. Er erinnere
sich daran, wie er, noch ein Kind zu der Zeit, sie durch die Gardinen
des Krankenzimmers hindurch beobachtete. In einem bunt bedruckten
Kleid stand sie da und sah zu unserem Haus herüber. Sein Vater
sei zu dieser Zeit schon nicht mehr ganz klar gewesen. Er sei mit
dem Finger über die Bettdecke gefahren, als suche er einen
Punkt auf einer Landkarte, und habe immer wieder gesagt, dahin wolle
er noch einmal fahren. Die Stimme des Vaters im Rücken und
die Frau mit dem bedruckten Kleid vor Augen, habe sich beides in
ihm, dem Sohn, zu der Vorstellung verbunden, daß die Krankheit
seines Vater eine Reise sei, zu der die Frau, die draußen
stand, die Landkarte auf dem Kleid trug. Rückzug sei dafür
womöglich gar nicht das richtige Wort, sagt mein Vater.
Mein Vater und ich sitzen im Flur, unter
dem Jesus, und alles, was in den Schränken war, liegt rings
um uns auf dem Boden verstreut. Wir sitzen inmitten von Kleidern
und Wäsche, Schachteln und Mappen, Büchern, Blumenvasen
und altem Geschirr. Wir blättern und öffnen, legen beiseite,
nehmen, falten auseinander und legen beiseite, zeigen, zerknüllen,
zerreißen, und legen beiseite. Alles ist staubig. Die Gummibänder,
mit denen meine Großmutter ihre Fotos zusammengebündelt
hat, sind so trocken, daß sie brechen, wenn wir die Bilder
zur Hand nehmen. Kartons sind unter ihrem eigenen Gewicht zerdrückt,
den Kästchen fehlen die Schlüssel, Mäntel sind von
Motten zerfressen, Koffer stinken, wenn wir sie aufmachen, die Bettwäsche
ist gebügelt. Komisch, sagt mein Vater, daß seine Mutter
den Haushalt so weiter geführt habe, wie zu Lebzeiten seines
Vaters. Sein Leben in ihrs eingefroren. Und jetzt fault alles auf
einmal, sagt er. Blättern und öffnen, legen beiseite,
nehmen, falten auseinander, legen beiseite, zeigen, zerknüllen,
zerreißen, legen beiseite.Ich habe Angst, sagt mein Vater,
daß ich die Briefe finde.
(16. 5. 2001)
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