Die Texte
bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2001

 

Antje Rávic Strubel

geb. 1974 in Potsdam, lebt in Berlin und Potsdam




Das Märchen von der selbstgewählten Entführung

Es ist das Jahr 1978. Drei Tage, bevor Lutz Schobert zu Katja sagt: "Jetzt sei doch mal vernünftig!" Eine Woche, bevor Perkoff auf einer Bettkante in Luanda den Satz hört: "Ihr Ärmsten, man sieht euch immer gleich alles an!" Sieben Jahre, nachdem die ersten Export LKWs W 50 das Automobilwerk Ludwigsfelde in Richtung Sowjetunion verlassen haben. Jahre, in denen jeder weiß, daß er der ersten Generation in einem neuen Land angehört und für alles verantwortlich ist. Für die Zukunft, die formbar sein muß wie ein Rohling. Für die Klarheit im Antlitz, die Wahrheit im Herzen und die blutroten Fahnen der Biographien. Für jeden Einzelnen und die Meister von Morgen. Katja hat zum ersten Mal Hans Perkoff gesehen. Es ist Frühling, es hat geregnet, und der Waldboden spritzt an Katjas Schuhen hoch. Der Waldboden am Pechpfuhl besteht zum großen Teil aus Zigarettenkippen und abgebrannten Streichölzern. Kommt der Wind von der Straße, treibt es die Kippen und die Streichhölzer in den Pfuhl, wo sie sich im Laufe des Jahres mit der Entengrütze vermischen. Bei so einem Wetter bleibt das Wäldchen leer. Katja läuft drei große Runden um den Pfuhl. Sie trägt neue Sportschuhe, die genauso aussehen wie die alten. Der Kleber, der die Gummisohlen mit dem Segeltuch verbindet, ist über die Ränder in den Stoff gelaufen und sperrt den Fuß in eine steife Masse. Katja ist Bezirksjugendmeisterin im Crosslauf. An den Crossläufen nimmt sie teil wegen des guten Gefühls. Sie fühlt sich stark und mehrfach vorhanden, was leise Warnungen ihrer Mutter auslöst, da es Jungs anzieht. Meistens stehen zwei oder drei an der Strecke, und wenn Katja vorbeikommt, zerknüllen sie vor Aufregung das Absperrband. Hinterher streiten sie um das Vorrecht, Katja nach Hause zu fahren. Aber Katja steigt jedesmal auf ihr Rad. Auf der Seite der Straße steht seit der zweiten Runde ein Mann. Bei dem Wetter. Er sieht ihr zu, als sei Hochsommer. Der Wind kommt so stark, daß sich die oberen Äste der Kiefern biegen, aber der Mann hat die Jacke offen. Der rechte Schoß flattert gegen den Baumstamm. Das Mädchen war voller Angst, als es, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, in dem großen Spiegel einen schöngewachsenen Jüngling sah, aus dessen Kleidern das Wasser zu Boden rann. Er schüttelte sich, als ob er friere, und sagte: "Huhu." Dann trat er ans Bett und betrachtete die Schlafende, bevor er sich eilig entkleidete und niederlegte und einschlief. Da aber wurde die Neugier des Fräuleins immer größer. Er sieht aus wie ein Ausflügler, der nicht weiß, daß keinen Kilometer vom Pechpfuhl entfernt wieder die Autobahn kreuzt und das Gras nur in der Druckschrift wächst, die die Kettenfahrzeuge spiegelbildlich in den Waldboden gestanzt haben.Er ist nicht einer der Jungs mit ihren hölzernen Schultern und den ständig schwitzenden Gesichtern. Er sieht ihr ohne Aufregung zu. Einmal schnippt er Asche in eine Dose in seiner Hand. Katja rennt schneller. Er soll nicht denken, sie liefe für ihn. Sie mag es nicht, beim Laufen aufgehalten oder angesprochen zu werden. Als das Fräulein ihn eine Weile fest schlafen hörte, vergaß sie die Worte der klugen Frau und wandte sich vorsichtig und leise um, ihn zu betrachten. Aber da packte er rasch des Mädchens rechte Hand, hieb sie ab und warf sie unters Bett. Dann legte er sich wieder nieder und schlief weiter. "Pfoten weg", sagt Katja zu jedem, der es versucht. Sie glaubt, die wesentlichen Dinge begriffen zu haben. Dazu gehört, Enttäuschungen nicht zu fürchten, sondern zu erwarten, ohne sie deshalb als natürlich anzusehen, und Männern keine Liebesgeständnisse zu machen. Jedenfalls nicht, ohne ihnen vorher zu sagen, daß der Sex als Geschenk zu verstehen sei. Die folgenden Reaktionen sind ihr im Gegensatz zu anderen nicht peinlich. Während ihre Kolleginnen sich in der Mittagspause vorrechnen, wann ein Mann ihnen zum letzten Mal Blumen geschenkt hat, und entweder ihren Charakter oder die Farbe ihres Lippenkonturstifts dafür verantwortlich machen, ahnt Katja den wahren Grund. Ihre Kolleginnen gehören zu den Frauen, denen es unerträglich ist, wenn andere etwas in ihren Augen Peinliches tun. So unerträglich, daß sie es vorziehen, sich selbst an deren Stelle zu blamieren. Sie rutschen dann auf ihrem Stuhl herum. Sie sehen weg. Sie entfernen imaginäre Fussel. Sollte so eine Frau von ihrem männlichen Gegenüber erwarten, daß er während eines gemeinsamen Essens auf das rechtzeitige Nachfüllen ihres Glases achtet, er es jedoch ignoriert, versuchte sie mit aller Kraft zu verhindern, daß es ihm verspätet auffallen und dann peinlich sein könnte, indem sie das leere Glas unauffällig mit der Hand verdeckte. Zuerst waren die drei Mädchen, die man für den Meerprinzen ausgewählt hatte, tief bekümmert, aber wenn sie sich nicht fügten, so hätte es sie und das ganze Land ins Unglück gestürzt. Also gingen sie nacheinander hinunter zu dem Häuschen am Meer mit den besten Vorsätzen, sich an den Rat der klugen Frau zu halten und sich auf keinen Fall umzudrehen, um nachzusehen, was vor sich ginge. Katja weiß, worauf das hinausläuft. Frauen kommen zu spät zu Verabredungen und entschuldigen es damit, daß ein Schnürsenkel gerissen sei. Der Grund ist jedoch nie der Schnürsenkel. Immer ist es ein Mann, der klingelt und sich dann auf zwei oder drei Tassen Kaffee einladen läßt. Später tut er die zaghaften Andeutungen über die nun schon zweimal geleerten Tassen generös als weibliche Taktik ab. Zurückhaltung überzeugt ihn im Gegenteil davon, daß er gerade heute dringend gebraucht wird, und so weicht er nicht von der Stelle. Dann fängt sie an abzuwaschen, mit dem Ergebnis, daß er sie von hinten an die Brust faßt. Und weil ihr das für ihn unsagbar peinlich ist, sieht sie schließlich die einzige Lösung des Problems darin, sich von ihm ausziehen zu lassen, und kommt zwanzig Minuten zu spät. Der Prinz schüttelte sich, als er das Mädchen sah, sagte Huhu, und als sie sich umdrehte, packte er rasch ihre rechte Hand, hieb sie ab und warf sie unters Bett. Katja rennt noch schneller. Als sie mit schmerzender Lunge und Seitenstechen das selbstgesteckte Ziel oben an der Straße erreicht, ist der Mann weg.

Zu Schobert hat sie wenige Wochen zuvor gesagt: "Ich lebe nicht mehr gern so." Sie hat flach, die Hand am Mund,in den Maschinenlärm von Halle 11 gesprochen. Unter ihren Nägeln Ränder von öliger Bohrmilch. Lutz Schobert hat die Schultern gezuckt und darauf geachtet, daß der heiße Drehspan ihm nicht den Blaumann versengt.Aber die Haltung ihrer Hand zwingt ihn, den Satz wieder und wieder zu hören. Beim Rasieren, im Singen des Metalls unter dem Meißel und auf dem Moped nach Schichtschluß: Ich lebe nicht mehr gern so. Unter den Arbeitern gibt es ein ungeschriebenes Gesetz. Wer sich auf krumme Dinger einläßt, muß dafür bezahlen. Der Spätschicht den Schnaps aus dem Spind klauen, ist so ein krummes Ding. Zu oft die Norm übererfüllen oder die Klobrillen bepinkeln. Die Frau eines Freundes schwängern. Lutz Schobert denkt manchmal daran, Cowboystiefel zu tragen. Er denkt daran, auf einer Harley über die Route 66 zu fahren, und schraubt deshalb eines Abends an der Simson, mit der er immer ins Werk kommt, den Auspuff ab. "Ich hab die Kleine frisiert", sagt er und bringt es bergab auf siebzig. Als er an diesem Abend nach Hause kommt, sieht er sich im Schatten, den die Sonne auf das Pflaster wirft. Er steigt ab, um das Moped unter den niedrigen Balkon zu schieben. Es wird gerade erst Frühling, und der Schatten macht ihn riesig. Aber durch die Verzerrung scheint es, als reichte ihm das Moped nur bis an die Knie. Das ist ihm zuvor nie aufgefallen. Die Lenkergabel liegt so tief, daß er sich vorgebeugt in einer Demutshaltung bewegen muß. Er wird rot. Der Schatten verrät, wie die anderen ihn sehen.Dabei ist er sicher, daß er das Leben direkt angeht. Frontal, wie er gern sagt. Ohne sich oder irgend jemandem etwas vorzumachen. Nur aus diesem Grund braucht er so lange, bevor er mit einer Frau allein ist. Er will nicht so tun, als ob es nicht um Sex geht, und er fürchtet, die Frauen könnten daran zerspringen wie Preßglas. Als der Prinz in der darauffolgenden Nacht das zweite Mädchen sah, schüttelte er sich, sagte Huhu, und als sie sich umdrehte, packte er rasch ihre rechte Hand, hieb sie ab und warf sie unters Bett. Kurz darauf nimmt Lutz Schobert Katja ohne Helm auf dem Rücksitz mit. Er fährt mit ihr in das Wäldchen am Pechpfuhl, durch den aufgewühlten Sand der Waldwege, wo er die Beine spreizen muß, um das Gleichgewicht zu halten. HoKaHe, hat er dabei immerzu im Kopf. HoKaHe, wie es die Junkies unter den Cheyenne der Großstadt bei einem halluzinierten Angriff rufen. Dort, wo der Pfuhl an das Übungsgelände grenzt, bockt er das Moped auf und setzt sich neben Katja auf einen Baumstumpf. "Also gut", sagt er. "Aber wieso mußt du ausgerechnet mich da mit reinziehen?" An ihrem Geburtstag hat Schobert hinter einem riesigen Strauß Rosen versteckt vor der Tür gestanden. Er überbrachte nur die Glückwünsche der Brigade, aber die Rosen hatten jedes natürliche Verhalten vereitelt."Man könnte einen Tunnel graben", sagt Katja. "Es gibt doch Geschichten, wo die Leute durch eine Kellerwand im Hinterhaus von irgendeinem Treptower Altbau durch sind. Man könnte mit einem Schlauchboot über die Ostsee", sagt Katja in die Stille. Das Schilf steht aufrecht am Ufer wie viele Male ein und derselbe Soldat. Lutz Schobert sieht ein kleines, völlig überladenes Boot weit draußen auf den Wellen, die zehnmal höher als die Wellen des Pechpfuhls sind. Er sieht, wie das Boot kentert, wie es steuerlos unter die Schaumkämme gleitet und von ihnen nach oben geschleudert wird. Er sieht auch, wie es schließlich in den Lichtkegel eines Hubschraubers gerät. Der Lichtkegel läßt das Schlauchboot in den Wellen nicht mehr los, als verspräche das Licht einen Eingang. Er sieht die Schläge des Wassers und ein Boot aus luftgefüllten Kammern unter einer Hülle aus PVC.Ein gelber, richtungsloser Fleck. "Alles Märchen", sagt Schobert. "Jetzt sei doch mal vernünftig."

"Sie haben ja jede Menge Natur hier", sagt Perkoff als Begrüßung zu Katja. Das ist im Werk und obwohl sie nicht damit gerechnet hat, ihn wiederzusehen. Perkoff trägt diesmal einen hellen Anzug und einen Schlips, der ihm nicht steht. Er gehört zu einer vierköpfigen Delegation aus Dortmund, mit der bewiesen ist, daß das kapitalistische Ausland die heimische Produktion keineswegs ignoriert, sondern die internationalen Wirtschaftsbeziehungen entgegen feindlicher Propaganda glänzend florieren. Für die Delegation endet die Führung durch den sozialistischen Produktionsbetrieb mit holländischer Butter, belgischem Käse und einheimischem Export-Sekt. Katja fixiert Perkoffs Schlips, während der Brigadeleiter von Maschine zu Maschine geht, und stellt sich vor, wie der Sekt unter dem Schlipsknoten die Kehle hinunterrinnt. Im Arm des Brigadeleiteres klemmt ein mit Metallstaub und Öl überzogenes Buch. Vor jeder Maschine bleibt er einen Augenblick stehen und klappt das Buch auf, um die technischen Daten exakt wiederzugeben. Er sieht nicht hinein. Statt dessen nestelt er an den Taschenaufsätzen seines Blaumanns. Hinter ihm steht der Parteisekretär und sagt kein Wort. "Hier werden Stanzwerkzeuge, Biegewerkzeuge und Umformwerkzeuge gefertigt", sagt der Brigadeleiter, "Jedes Werkzeug ist genau auf einen Blechstreifen, wie Sie ihn hier sehen, zugeschnitten. Der wird durch das Werkzeug geführt, damit er umgeformt werden kann. Alles in mechanischer Feinstarbeit. Da ist kein Mitarbeiter unserer Brigade, der nicht an der Standbohrmaschine, an der Dreh- und an der Fräsmaschine ausgebildet ist -." Die Delegation lächelt höflich und bemüht sich, nicht in eine der Bohrmilchpfützen auf dem Boden zu treten. "Der mit dem Schlips", flüstert Katja, ohne Schobert dabei anzusehen. "Hat mich neulich angeglotzt beim Laufen." Schaper studiert einen Schuhabdruck mit italienischem Markennamen. "Haben Sie noch Fragen?", sagt der Brigadeleiter. Der Schuhabdruck gehört zu Perkoff. "Fatzke", flüstert Schobert zurück, während er den Schuhabdruck austritt wie eine Kippe. Hans Perkoff sagt nichts. Er sieht Katja an. "Das ist Kollegin Siems", sagt der Brigadeleiter. "Sie werden sie in unserer Straße der Besten finden." Perkoff sieht Katja anders an als am Pechpfuhl. Am Pechpfuhl hat er sie nicht ohne die Umgebung gesehen. Jetzt sieht er in ihr Gesicht. "Warum tragen Sie immer noch dieses Ding?" sagt er dann mit Blick auf ihre Haarkappe. "Das ist eine Vorschrift, um die Sicherheit des Arbeiters an der Maschine zu gewährleisten", sagt der Brigadeleiter. "Und? Fühlen Sie sich damit sicher?" fragt Perkoff. Er beugt sich leicht vor, da Katjas Stirn und die Augen für jemanden, der größer ist als sie, vom Schirm der Haarkappe verdeckt sind. "So als -" Er zögert. "Arbeiter?" Katja greift unwillkürlich nach der Kappe, sagt aber nichts. Sie nimmt die Kappe auch nicht ab. Sie rückt nur ein bißchen am Schirm herum und schiebt ein Haar zurück, daß sich gelöst hat und auf die Stirn heraushängt. Sie sieht geradeaus. Sie hat den Eindruck, als sei durch ihr Schweigen jede Bewegung erstarrt. Schobert, Perkoff, der Brigadeleiter, der reglos das blaue Buch in der Hand hält, die sich öffnende Tür von Halle 11 und das Vibrieren der riesigen Tore der Endmontagehalle. Der Lärm der Fräsmaschinen und Bohrer tritt dahinter zurück. Es scheint die Bewegung der Hubarme zu verlangsamen, es senkt sich auf die Hebebühne und die Fahrerhäuser an den noch unfertigen, nackten Skeletten der Karosserien. Die Fahrerhäuser verharren vornübergeklappt wie Menschen, die für eine Viertelstunde den Kopf auf die Tischplatte legen. Mit klopfendem Herzen wartete nun das dritte Mädchen in der Hütte, bis der Meerprinz kam. Als der Schlag zwölf hereintrat, triefend naß, schüttelte er sich und beugte sich ungewöhnlich lange über das Bett, um die Schlafende zu betrachten. Sie rührte sich jedoch nicht. Er ging mehrmals an das Bett, betrachtete das Mädchen vom Fußende aus und seufzte. Endlich springt in der Ferne ein LKW-Motor an. Und der Parteisekretär, der die ganze Zeit nichts gesagt hat, sagt leise von hinten: "Achten Sie nicht auf das Wohl Ihrer Arbeiter?" Katja fängt an zu grinsen. "Wir arbeiten nicht mit solchen Maschinen", sagt Perkoff zu Katja. Schobert ist rot geworden. "Sie werden Frau Siems in unserer Straße der Besten finden", sagt der Brigadeleiter noch einmal. "Sieh dir mal an, wie kompakt diese Dinger sind", schwärmt jemand aus der Delegation. "Ich sag dir, russische Modelle sind belastbar bis zum get-no!" Das ist das zweite Mal.

Beim dritten Mal küßt er sie. Auf dem Platz hinter der Halle, wo Unkraut und Weißdornbüsche die Schrottabfälle überwuchern. Katja hat keine Zeit mehr gehabt, sich die Hände zu waschen, und macht Fäuste, als er ihre Hände auf seine Brust zieht. Sie schlägt die Augen auf. Zu ihm und zum Fenster des Parteisekretärs im zweiten Stock. Die Weißdornbüsche zeigen ihre nackten Dornen. Es ist noch lange nicht Frühling. Katja zieht ihre Hände unter seinen hervor und sagt: "Danke, Mister." Bevor sie sich umdreht, um wieder an die Werkbank zurückzugehen, weil die Pause längst vorbei ist, sagt sie noch: "Und? - Was jetzt?" Denn wenn noch niemand die Welt aus den Angeln gehoben hat, denkt sie, dann vor allem deshalb, weil sich noch nie jemand wirklich darum bemüht hat. Machbar ist eines ihrer Lieblingswörter. Sie setzt es in Situationen ein, die andere schon abgeschrieben haben. Schobert vor seinem aufgebockten Moped am Pfuhl hat sie geantwortet: "Nix Märchen. - Alles machbar!"Aber Schobert hat Perkoff lächeln sehen. Er hat den Nachdruck gesehen, mit dem er sich das Haar zurückwarf. Und er hat Katja gesehen. Er geht zurück an die Maschine, lockert den Hebel des Schraubstocks und zieht einen erkalteten Span aus den Backen. Er zieht den Span zwischen seinen Fingern glatt. Aber er läßt sich nicht glattziehen, sondern springt in die alte Form zurück. Das Metall ist längst starr geworden. Es läuft in einer Spirale spitz zu.

"Jetzt sei doch mal vernünftig!" Es ist das Jahr 1978. Es ist immer noch Frühling, und Schobert glaubt nicht an Märchen. An Märchen zu glauben kommt ihm vor, als versuchte man, jemand durch eine Glasscheibe zu küssen. Nach der Schicht geht er nicht nach Hause. Er geht auch nicht zu Katja oder zu sonst irgend jemandem. Er geht einfach nirgendwohin. Schließlich gelangt er an den Pechpfuhl. Regenwasser hängt aufgeschäumt im Schilf, und wenn man in den Pfuhl hineinsieht, schaut nichts zurück. Dort hält sich nur die Entengrütze, die in der Mitte ausfranst. "Schnauze", hat Schobert gesagt, als im Umkleideraum jemand begonnen hat, über Katja herzuziehen. "Wer sie verpfeift, kriegt´s mit mir zu tun." Aber jetzt, mit den Füßen im Schilf, kann er es nicht verhindern zu denken: sie ist eine Hure, eine Schlampe, ein Flittchen. Gerissen, gewieft, eine Hexe, oder nicht.

Am Abend kommt sie zu Perkoff.Er wohnt im Luanda. Es gibt in Ludwigsfelde kein Hotel, und seit die Angolaner im Werk sind, heißt das Arbeiterwohnheim Luanda, selbst für die Vietnamesen im dritten Stock. Er wohnt im zweiten mit Blick auf die Hauptstraße, neben ihm Karosserieschlosser, die nachts zuviel Bier trinken. Katja hat nicht geklopft, und Perkoff nimmt überrascht die Beine vom Bett, auf dem er über sie nachgedacht hat. Sie trägt kein Make-up, keinen Lippenstift, keinen Schmuck. Wie erwartet, treibt sie ihre ungebremste Natürlichkeit her, ein Sinn für das Elementare, der abstumpft, je feiner und geistiger die Menschen fühlen. Aber unter Verboten werden sie natürlich. Verbote zwingen sie, sich zur Wehr zu setzen, und diese Gegenwehr verlangt einen natürlichen Instinkt. Er dagegen ist längst erstickt an einer großen Müdigkeit. Dafür wohnen sie hier in Zimmern mit schief gefugten Betonplatten und einem leichten Geruch nach Klo.Katja schiebt die Tür mit der Ferse zu. Aus irgendeinem Grund versucht er herauszufinden, wie spät es ist. Er hat vorhin kein Licht gemacht, und das Zimmer sieht jetzt fast gemütlich aus, mit kleinen Schatten neben dem Bett, über dem Waschbecken in der Ecke und mit ihrer Figur im Halbdunkel an der Tür. Katja verschränkt die Hände vor ihrem Schoß und legt die gestreckten Zeigefinger aneinander. Ihre Zeigefinger zielen auf die Spitzen ihrer Mokassins."Setzen Sie sich doch. Vielleicht 'n Kaffee? Mehr ist hier um diese Zeit wohl nicht drin." Perkoff macht eine Geste zum Tauchsieder, dann fällt ihm ein, daß der Tauchsieder auf der anderen Seite des Zimmers steht. "Ja bitte", sagt sie ohne Betonung. Aber sie trägt keinen BH. Er starrt ihre ziemlich weit heruntergeknöpfte Bluse an und läßt die Hand, ohne die Geste nach der anderen Seite noch einmal zu wiederholen, sinken. Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos ziehen seitlich über die Wand und entblößen kurz einen Leberfleck auf halber Höhe zwischen ihren Brüsten. Sie lehnt immer noch an der Tür. Als sie seinen Blick sieht, fährt sie mit dem Daumen abwärts zwischen ihren Brüsten hindurch, bis ihre Hand am untersten Knopf hängen bleibt und ihn mit Daumen und Zeigefinger aufschnippt. Natürlich weiß Hans Perkoff, worum es geht. Zum natürlichen Verhalten der Menschen gehört nicht nur ihre Triebhaftigkeit, sondern auch eine ursprüngliche, angeborene Schläue, die Katja zu ihm getrieben haben könnte. Er hat sich schon oft in Leipzig und Dresden um die innerdeutschen Beziehungen seiner Firma gekümmert und die Abende mit Frauen verbracht, die er auf ein paar Drinks einlud, um sich dann zurückhaltend aber amüsiert erfundene Geheimnisse entlocken zu lassen.Unter Katjas offener Bluse sieht er die weiche, halbrunde Andeutung einer Brust. Was auch immer die Gründe sein mögen, aus denen sie nach diesem harmlosen, erschreckend spröden Kuß am Nachmittag zu ihm gekommen ist: für eine Tasse Kaffee hat sie zu wenig an.Er räuspert sich. "Fürchte, der Kaffee ist leider gerade ausgegangen." Statt zu antworten, stößt sich Katja von der Tür ab. Ihr Geruch überlagert jetzt den unangenehmen Geruch im Zimmer. Es ist kein Parfüm. Er ist sicher, daß er ihre Haare riecht, ihre Haut, das Glänzen zwischen ihren Brüsten, durch nichts verfälscht. Als sie dicht vor ihm steht, sieht sie ihn an. Aber nicht mit diesem Blick von unten, der schon oft an ihm ausprobiert worden ist, der ihn hat hecheln machen sollen, was jedesmal nicht funktioniert hat. Katja sieht ihn so an, daß es unmöglich ist, ihren Blick nicht zu erwidern. Sie nimmt seine Hand. Sie berührt mit der Zunge seine Handknöchel, leckt die Kuppe seines Zeigefingers und läßt den Zeigefinger dann über ihren Hals gleiten, bis er ihr Schlüsselbein berührt. Als er sie umarmen will, schiebt sie ihn weg. Sie kniet sich vor ihn. Sie öffnet seine Hose und zieht ihn aus. Sie macht das präzise und betont sachverständig. Als er so dasteht, auf Socken, halb nackt, und sein Ständer ihr entgegenragt, kichert sie plötzlich. Sie steht auf, tippt auf seine Spitze und sagt: "Ihr Ärmsten. Man sieht euch immer gleich alles an." Das ist das erste, was sie sagt, seit sie sein Zimmer betreten hat. Er packt sie um die Hüfte und stößt sie aufs Bett. Sie ist dünner, als er erwartet hat, und fällt sofort hin. Er droht ihr mit dem Finger, aber während er mit einer Hand noch in seinem Hemd festhängt, stützt sie schon wieder ihren Kopf auf und sieht ihn interessiert an. Wie eine Wachsfigur. Wie einen Fall aus der Psychiatrie, wie einen, der nicht weiß, wie die Natur im Menschen beschaffen ist. Dabei kichert sie immer noch. Der Sturz hat das Kichern noch verstärkt. "Was ist denn? Brauchst mich gar nicht auszulachen! Ihr macht´s euch leicht. Nicht, daß mir das nicht gefällt. - Sich einfach zu nehmen, was man so will!" Er drückt sie flach auf die Matratze, reißt ihr die Bluse herunter und schiebt mit dem Unterarm ihre Schenkel auseinander. Zwischen den Beinen ist sie naß, und das ist für Perkoff ein Argument für die Natur. Aber als er sich von ihr wegdreht, um die Bluse loszuwerden, sieht er plötzlich ihre Augen. Er sieht sie losgelöst von ihrem Körper, als wären sie direkt neben seinen Augen hinter der Stirn und doppelten seinen Blick. Das ist für Perkoff zuviel. Er steht auf. Er geht durch sein Zimmer und läßt sich dabei Zeit.Er denkt an die Dinge, die ihm gehören, und an die, die ihm nicht gehören. Der Tauchsieder, der Frotteébademantel, die Handgelenktasche halb geöffnet auf dem Tisch. Die eingerollte Bluse in der Hand gehört ihm nicht. Aber ihr Geruch hängt schon überall. Wahrscheinlich riechen auch die beiden ledernen, jämmerlich verkümmerten Pflanzen auf dem Fensterbrett schon nach ihr. Er entschließt sich, die Bluse sehr vorsichtig und mit glattgestrichenen Ärmeln über den einzigen Stuhl zu hängen. Dann wartet er einen Moment. Am liebsten würde er, ohne sich umzudrehen, aus dem Zimmer und mit den Angolanern einen trinken gehen. Sie sitzt auf dem Bettrand, die Hände vor sich auf den Knien. Sie ist klein, wie sie da sitzt, und er zieht unsicher eine Schulter hoch. "Na, komm her", sagt sie. Als Perkoff vor ihr steht, in derselben Haltung wie kurz zuvor, nur diesmal ohne die Socken, umarmt sie seine Hüfte. Sie legt ihre Wange an seine Leiste. Vor Jahren, so wurde berichtet, war der Prinz der Meerfrau geopfert worden. Denn als der König mit seiner Flotte siegreich aus dem Krieg zurückgekehrt war, brach ein heftiger Sturm aus, und die gesamte Flotte drohte, vom Meer verschlungen zu werden. In seiner Not hatte der König gelobt, der Meerfrau das erste männliche Wesen zu überlassen, das ihm bei der Landung entgegentrat. Als nun die Schiffe unversehrt in den Hafen gelangt waren, kam der fünfjährige Prinz, vom Kanonendonner angelockt, zum Landungssteg gelaufen und war der erste, der sich vor Freude weinend in die Arme seines Vaters warf. Noch nie hat Hans Perkoff gevögelt wie in dieser Nacht. Fröstelnd. Das Frösteln hört später auf. Nur die Sehnsucht wird größer, je mehr er sich Katja nähert. Das Licht hat er nicht eingeschaltet, und so ist ihr Körper ein wandernder Schatten vor dem Nachthimmel im gardinenlosen Fenster. In den Scheinwerfern vorbeifahrender Autos hebt sich ihr Körper in seinen Armen empor, verrutscht und sinkt mit der Dunkelheit langsam in einen Raum zurück, in dem sie ihm zu entgleiten droht, in dem er nicht mehr weiß, wen er im Arm hält, sie oder eine Person, die ihn vor langer Zeit auf ähnliche Weise im Arm gehalten hat oder vielleicht sogar sich selbst. Die Sehnsucht bleibt. Auch, als er später versucht, unten beim Pförtner eine Flasche Sekt zu bekommen. Was ihm erst gelingt, als er aus fünf Westmark zehn gemacht hat.Beim Aufwachen findet er einen Zettel neben sich auf dem Laken: Danke, Mister. Sie haben mir großen Spaß gemacht. - Darf ich Sie wiedersehen?

Katja radelt ins Werk, als der Mond noch nicht ganz aus dem Viereck zwischen den Schornsteinen verschwunden ist. Sie nimmt die Abkürzung durch die Gärten. Sie hält auf die Schornsteine zu. An der Tischtennisplatte am Ausgang der Gärten hält sie an. Sie steigt ab, lehnt das Rad an die Steinplatte und wartet darauf, daß sie wieder langsamer atmet. Es ist fünf Uhr früh. Ihr Mund schmeckt nach Perkoff. Es wird nicht Frühling.Eine halbe Stunde später trifft Schobert sie vor den Fahrradhäuschen am Werkstor. Sie schließt hier jeden Morgen ihr Fahrrad an. Katjas Schloß ist angerostet, und sie hilft dem Mechanismus mit der Handkante nach. Als sie sich über dem Fahrradsattel wieder aufrichtet, sieht er ihr Gesicht. "Wie siehst du denn aus?" "Ich brauch was zu trinken", sagt Katja. "Hast du durchgefeiert?" "Gearbeitet", sagt Katja. "DurchGEARBEITET." Und als Schobert sie ungerührt anguckt, fügt sie hinzu: "Für uns -", wobei sie den Wellblechhimmel über dem Fahrradhäuschen fixiert.

Den Tag verbringt sie an der Maschine. Sie nimmt Rohlinge aus dem Kasten, reißt am Meßschieber entlang das Maß an, spannt sie in den Schraubstock, drückt den Hauptschalter. Das Metall erhitzt sich, die Späne schießen in Wellen aus dem glühenden Material hervor zu Boden. Sie sieht weder Schobert an der Werkbank gegenüber noch den Brigadeleiter, der um zehn aufgeregt durch die Halle läuft. Als ein Span ihr den Handrücken verbrennt, bemerkt sie das erst am dumpfen Geruch ihrer Haut. Bei Schichtschluß ist der Boden ringsum metallbedeckt, weißglänzender, dünner, ungewöhnlich leichter Abfall, der später eingeschmolzen und erneut geformt werden wird.Katja geht nach Hause. Sie geht ohne die Jacke auszuziehen in ihr Zimmer, das immer noch ihr gleiches altes Kinderzimmer ist, und schließt die Zimmertür hinter sich ab. Sie setzt sich auf ihren Stuhl und zieht die Beine an. Wenn sie an ihrem Schreibtisch sitzt, sieht sie auf das Gartenhäuschen gegenüber, das da ist, solange sie denken kann, und vor dem fast jeden Morgen ein Mann, der nicht älter zu werden scheint, seine Beete gießt.Schobert, der sie den ganzen Tag beobachtet hat, versucht sich vorzustellen, was Katja jetzt sieht. In ihrem kleinen Plattenbauzimmer mit einem Bett, das sie tagsüber in den Schrank zurückklappt. Was sie sieht, in Gedanken bei Perkoff im Arbeiterwohnheim, keine zwanzig Minuten Fußweg entfernt.Nichts in Ludwigsfelde liegt mehr als zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Nichts außer dem Bahnhof. Katja umschlingt ihre Knie. Sie trägt Shorts, denkt Schobert, aus dem Frühling wird Sommer, aber ihre Kniescheiben sind kalt. Sie sieht alles auf einmal. Sie sieht die ganze Welt zu ihren Füßen, die die Füße von Perkoff sind. Es sind seine Füße, auf denen sie geht. Seine Füße, die sie auf den Stuhlrand gestemmt hat, und die Welt, die darunter liegt, ist ungewöhnlich groß. In der Nacht hat sie seine Zehen an ihren Oberschenkeln gespürt, als er sich neben ihr eingerollt hat und sie wachlag, bis das erste Licht hinter den Schornsteinen hochkam. Es ist der Moment gewesen, in dem sie ihn am deutlichsten wahrnahm. Über seine kalten, kräftigen Zehen, während er schlief. Auf der Wohnheimtapete saßen Mücken. Zum ersten Mal seit letzter Nacht, in der sie mit ängstlich vorbereiteter Rede sein Zimmer betreten und dann kein Wort dieser Rede benutzt hat, lächelt Katja wieder. Sie trommelt auf ihre Kniescheiben und streckt die Beine von sich. Sie betrachtet ihre nackten Füße, die die Füße von Perkoff sind. "Alles machbar", sagt sie dann. Im Märchen tragen solche Füße Siebenmeilenstiefel.

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