Das Märchen von der selbstgewählten
Entführung
Abends wurde die Braut, die für
den Meerprinzen bestimmt worden war, mit großem Prunk in das
Häuschen am Meer geführt. Der Hofstaat nahm mit vielen
Tränen Abschied von ihr. Eine kluge Frau aber tröstete
die Leute und versicherte, wenn das Fräulein nur vernünftig
sei, nicht spreche und sich nicht umdrehe, so werde sie am Morgen
frisch und gesund wieder herauskommen. Sie müsse zur Wand gekehrt
liegen und dürfe nur sehen, was sie in dem Spiegel der guten
Stube erblicken könne. Das arme Mädchen betete und weinte,
und als gegen Mitternacht die Tür aufging, erschrak es sehr.
Es ist das Jahr 1978. Drei Tage, bevor Lutz
Schobert zu Katja sagt: "Jetzt sei doch mal vernünftig!"
Eine Woche, bevor Perkoff auf einer Bettkante in Luanda den Satz
hört: "Ihr Ärmsten, man sieht euch immer gleich alles
an!" Sieben Jahre, nachdem die ersten Export LKWs W 50 das
Automobilwerk Ludwigsfelde in Richtung Sowjetunion verlassen haben.
Jahre, in denen jeder weiß, daß er der ersten Generation
in einem neuen Land angehört und für alles verantwortlich
ist. Für die Zukunft, die formbar sein muß wie ein Rohling.
Für die Klarheit im Antlitz, die Wahrheit im Herzen und die
blutroten Fahnen der Biographien. Für jeden Einzelnen und die
Meister von Morgen. Katja hat zum ersten Mal Hans Perkoff gesehen.
Es ist Frühling, es hat geregnet, und der Waldboden spritzt
an Katjas Schuhen hoch. Der Waldboden am Pechpfuhl besteht zum großen
Teil aus Zigarettenkippen und abgebrannten Streichölzern. Kommt
der Wind von der Straße, treibt es die Kippen und die Streichhölzer
in den Pfuhl, wo sie sich im Laufe des Jahres mit der Entengrütze
vermischen. Bei so einem Wetter bleibt das Wäldchen leer. Katja
läuft drei große Runden um den Pfuhl. Sie trägt
neue Sportschuhe, die genauso aussehen wie die alten. Der Kleber,
der die Gummisohlen mit dem Segeltuch verbindet, ist über die
Ränder in den Stoff gelaufen und sperrt den Fuß in eine
steife Masse. Katja ist Bezirksjugendmeisterin im Crosslauf. An
den Crossläufen nimmt sie teil wegen des guten Gefühls.
Sie fühlt sich stark und mehrfach vorhanden, was leise Warnungen
ihrer Mutter auslöst, da es Jungs anzieht. Meistens stehen
zwei oder drei an der Strecke, und wenn Katja vorbeikommt, zerknüllen
sie vor Aufregung das Absperrband. Hinterher streiten sie um das
Vorrecht, Katja nach Hause zu fahren. Aber Katja steigt jedesmal
auf ihr Rad. Auf der Seite der Straße steht seit der zweiten
Runde ein Mann. Bei dem Wetter. Er sieht ihr zu, als sei Hochsommer.
Der Wind kommt so stark, daß sich die oberen Äste der
Kiefern biegen, aber der Mann hat die Jacke offen. Der rechte Schoß
flattert gegen den Baumstamm. Das Mädchen war voller Angst,
als es, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, in dem großen
Spiegel einen schöngewachsenen Jüngling sah, aus dessen
Kleidern das Wasser zu Boden rann. Er schüttelte sich, als
ob er friere, und sagte: "Huhu." Dann trat er ans Bett
und betrachtete die Schlafende, bevor er sich eilig entkleidete
und niederlegte und einschlief. Da aber wurde die Neugier des Fräuleins
immer größer. Er sieht aus wie ein Ausflügler, der
nicht weiß, daß keinen Kilometer vom Pechpfuhl entfernt
wieder die Autobahn kreuzt und das Gras nur in der Druckschrift
wächst, die die Kettenfahrzeuge spiegelbildlich in den Waldboden
gestanzt haben.Er ist nicht einer der Jungs mit ihren hölzernen
Schultern und den ständig schwitzenden Gesichtern. Er sieht
ihr ohne Aufregung zu. Einmal schnippt er Asche in eine Dose in
seiner Hand. Katja rennt schneller. Er soll nicht denken, sie liefe
für ihn. Sie mag es nicht, beim Laufen aufgehalten oder angesprochen
zu werden. Als das Fräulein ihn eine Weile fest schlafen hörte,
vergaß sie die Worte der klugen Frau und wandte sich vorsichtig
und leise um, ihn zu betrachten. Aber da packte er rasch des Mädchens
rechte Hand, hieb sie ab und warf sie unters Bett. Dann legte er
sich wieder nieder und schlief weiter. "Pfoten weg", sagt
Katja zu jedem, der es versucht. Sie glaubt, die wesentlichen Dinge
begriffen zu haben. Dazu gehört, Enttäuschungen nicht
zu fürchten, sondern zu erwarten, ohne sie deshalb als natürlich
anzusehen, und Männern keine Liebesgeständnisse zu machen.
Jedenfalls nicht, ohne ihnen vorher zu sagen, daß der Sex
als Geschenk zu verstehen sei. Die folgenden Reaktionen sind ihr
im Gegensatz zu anderen nicht peinlich. Während ihre Kolleginnen
sich in der Mittagspause vorrechnen, wann ein Mann ihnen zum letzten
Mal Blumen geschenkt hat, und entweder ihren Charakter oder die
Farbe ihres Lippenkonturstifts dafür verantwortlich machen,
ahnt Katja den wahren Grund. Ihre Kolleginnen gehören zu den
Frauen, denen es unerträglich ist, wenn andere etwas in ihren
Augen Peinliches tun. So unerträglich, daß sie es vorziehen,
sich selbst an deren Stelle zu blamieren. Sie rutschen dann auf
ihrem Stuhl herum. Sie sehen weg. Sie entfernen imaginäre Fussel.
Sollte so eine Frau von ihrem männlichen Gegenüber erwarten,
daß er während eines gemeinsamen Essens auf das rechtzeitige
Nachfüllen ihres Glases achtet, er es jedoch ignoriert, versuchte
sie mit aller Kraft zu verhindern, daß es ihm verspätet
auffallen und dann peinlich sein könnte, indem sie das leere
Glas unauffällig mit der Hand verdeckte. Zuerst waren die drei
Mädchen, die man für den Meerprinzen ausgewählt hatte,
tief bekümmert, aber wenn sie sich nicht fügten, so hätte
es sie und das ganze Land ins Unglück gestürzt. Also gingen
sie nacheinander hinunter zu dem Häuschen am Meer mit den besten
Vorsätzen, sich an den Rat der klugen Frau zu halten und sich
auf keinen Fall umzudrehen, um nachzusehen, was vor sich ginge.
Katja weiß, worauf das hinausläuft. Frauen kommen zu
spät zu Verabredungen und entschuldigen es damit, daß
ein Schnürsenkel gerissen sei. Der Grund ist jedoch nie der
Schnürsenkel. Immer ist es ein Mann, der klingelt und sich
dann auf zwei oder drei Tassen Kaffee einladen läßt.
Später tut er die zaghaften Andeutungen über die nun schon
zweimal geleerten Tassen generös als weibliche Taktik ab. Zurückhaltung
überzeugt ihn im Gegenteil davon, daß er gerade heute
dringend gebraucht wird, und so weicht er nicht von der Stelle.
Dann fängt sie an abzuwaschen, mit dem Ergebnis, daß
er sie von hinten an die Brust faßt. Und weil ihr das für
ihn unsagbar peinlich ist, sieht sie schließlich die einzige
Lösung des Problems darin, sich von ihm ausziehen zu lassen,
und kommt zwanzig Minuten zu spät. Der Prinz schüttelte
sich, als er das Mädchen sah, sagte Huhu, und als sie sich
umdrehte, packte er rasch ihre rechte Hand, hieb sie ab und warf
sie unters Bett. Katja rennt noch schneller. Als sie mit schmerzender
Lunge und Seitenstechen das selbstgesteckte Ziel oben an der Straße
erreicht, ist der Mann weg.
Zu Schobert hat sie wenige Wochen zuvor gesagt:
"Ich lebe nicht mehr gern so." Sie hat flach, die Hand
am Mund,in den Maschinenlärm von Halle 11 gesprochen. Unter
ihren Nägeln Ränder von öliger Bohrmilch. Lutz Schobert
hat die Schultern gezuckt und darauf geachtet, daß der heiße
Drehspan ihm nicht den Blaumann versengt.Aber die Haltung ihrer
Hand zwingt ihn, den Satz wieder und wieder zu hören. Beim
Rasieren, im Singen des Metalls unter dem Meißel und auf dem
Moped nach Schichtschluß: Ich lebe nicht mehr gern so. Unter
den Arbeitern gibt es ein ungeschriebenes Gesetz. Wer sich auf krumme
Dinger einläßt, muß dafür bezahlen. Der Spätschicht
den Schnaps aus dem Spind klauen, ist so ein krummes Ding. Zu oft
die Norm übererfüllen oder die Klobrillen bepinkeln. Die
Frau eines Freundes schwängern. Lutz Schobert denkt manchmal
daran, Cowboystiefel zu tragen. Er denkt daran, auf einer Harley
über die Route 66 zu fahren, und schraubt deshalb eines Abends
an der Simson, mit der er immer ins Werk kommt, den Auspuff ab.
"Ich hab die Kleine frisiert", sagt er und bringt es bergab
auf siebzig. Als er an diesem Abend nach Hause kommt, sieht er sich
im Schatten, den die Sonne auf das Pflaster wirft. Er steigt ab,
um das Moped unter den niedrigen Balkon zu schieben. Es wird gerade
erst Frühling, und der Schatten macht ihn riesig. Aber durch
die Verzerrung scheint es, als reichte ihm das Moped nur bis an
die Knie. Das ist ihm zuvor nie aufgefallen. Die Lenkergabel liegt
so tief, daß er sich vorgebeugt in einer Demutshaltung bewegen
muß. Er wird rot. Der Schatten verrät, wie die anderen
ihn sehen.Dabei ist er sicher, daß er das Leben direkt angeht.
Frontal, wie er gern sagt. Ohne sich oder irgend jemandem etwas
vorzumachen. Nur aus diesem Grund braucht er so lange, bevor er
mit einer Frau allein ist. Er will nicht so tun, als ob es nicht
um Sex geht, und er fürchtet, die Frauen könnten daran
zerspringen wie Preßglas. Als der Prinz in der darauffolgenden
Nacht das zweite Mädchen sah, schüttelte er sich, sagte
Huhu, und als sie sich umdrehte, packte er rasch ihre rechte Hand,
hieb sie ab und warf sie unters Bett. Kurz darauf nimmt Lutz Schobert
Katja ohne Helm auf dem Rücksitz mit. Er fährt mit ihr
in das Wäldchen am Pechpfuhl, durch den aufgewühlten Sand
der Waldwege, wo er die Beine spreizen muß, um das Gleichgewicht
zu halten. HoKaHe, hat er dabei immerzu im Kopf. HoKaHe, wie es
die Junkies unter den Cheyenne der Großstadt bei einem halluzinierten
Angriff rufen. Dort, wo der Pfuhl an das Übungsgelände
grenzt, bockt er das Moped auf und setzt sich neben Katja auf einen
Baumstumpf. "Also gut", sagt er. "Aber wieso mußt
du ausgerechnet mich da mit reinziehen?" An ihrem Geburtstag
hat Schobert hinter einem riesigen Strauß Rosen versteckt
vor der Tür gestanden. Er überbrachte nur die Glückwünsche
der Brigade, aber die Rosen hatten jedes natürliche Verhalten
vereitelt."Man könnte einen Tunnel graben", sagt
Katja. "Es gibt doch Geschichten, wo die Leute durch eine Kellerwand
im Hinterhaus von irgendeinem Treptower Altbau durch sind. Man könnte
mit einem Schlauchboot über die Ostsee", sagt Katja in
die Stille. Das Schilf steht aufrecht am Ufer wie viele Male ein
und derselbe Soldat. Lutz Schobert sieht ein kleines, völlig
überladenes Boot weit draußen auf den Wellen, die zehnmal
höher als die Wellen des Pechpfuhls sind. Er sieht, wie das
Boot kentert, wie es steuerlos unter die Schaumkämme gleitet
und von ihnen nach oben geschleudert wird. Er sieht auch, wie es
schließlich in den Lichtkegel eines Hubschraubers gerät.
Der Lichtkegel läßt das Schlauchboot in den Wellen nicht
mehr los, als verspräche das Licht einen Eingang. Er sieht
die Schläge des Wassers und ein Boot aus luftgefüllten
Kammern unter einer Hülle aus PVC.Ein gelber, richtungsloser
Fleck. "Alles Märchen", sagt Schobert. "Jetzt
sei doch mal vernünftig."
"Sie haben ja jede Menge Natur hier",
sagt Perkoff als Begrüßung zu Katja. Das ist im Werk
und obwohl sie nicht damit gerechnet hat, ihn wiederzusehen. Perkoff
trägt diesmal einen hellen Anzug und einen Schlips, der ihm
nicht steht. Er gehört zu einer vierköpfigen Delegation
aus Dortmund, mit der bewiesen ist, daß das kapitalistische
Ausland die heimische Produktion keineswegs ignoriert, sondern die
internationalen Wirtschaftsbeziehungen entgegen feindlicher Propaganda
glänzend florieren. Für die Delegation endet die Führung
durch den sozialistischen Produktionsbetrieb mit holländischer
Butter, belgischem Käse und einheimischem Export-Sekt. Katja
fixiert Perkoffs Schlips, während der Brigadeleiter von Maschine
zu Maschine geht, und stellt sich vor, wie der Sekt unter dem Schlipsknoten
die Kehle hinunterrinnt. Im Arm des Brigadeleiteres klemmt ein mit
Metallstaub und Öl überzogenes Buch. Vor jeder Maschine
bleibt er einen Augenblick stehen und klappt das Buch auf, um die
technischen Daten exakt wiederzugeben. Er sieht nicht hinein. Statt
dessen nestelt er an den Taschenaufsätzen seines Blaumanns.
Hinter ihm steht der Parteisekretär und sagt kein Wort. "Hier
werden Stanzwerkzeuge, Biegewerkzeuge und Umformwerkzeuge gefertigt",
sagt der Brigadeleiter, "Jedes Werkzeug ist genau auf einen
Blechstreifen, wie Sie ihn hier sehen, zugeschnitten. Der wird durch
das Werkzeug geführt, damit er umgeformt werden kann. Alles
in mechanischer Feinstarbeit. Da ist kein Mitarbeiter unserer Brigade,
der nicht an der Standbohrmaschine, an der Dreh- und an der Fräsmaschine
ausgebildet ist -." Die Delegation lächelt höflich
und bemüht sich, nicht in eine der Bohrmilchpfützen auf
dem Boden zu treten. "Der mit dem Schlips", flüstert
Katja, ohne Schobert dabei anzusehen. "Hat mich neulich angeglotzt
beim Laufen." Schaper studiert einen Schuhabdruck mit italienischem
Markennamen. "Haben Sie noch Fragen?", sagt der Brigadeleiter.
Der Schuhabdruck gehört zu Perkoff. "Fatzke", flüstert
Schobert zurück, während er den Schuhabdruck austritt
wie eine Kippe. Hans Perkoff sagt nichts. Er sieht Katja an. "Das
ist Kollegin Siems", sagt der Brigadeleiter. "Sie werden
sie in unserer Straße der Besten finden." Perkoff sieht
Katja anders an als am Pechpfuhl. Am Pechpfuhl hat er sie nicht
ohne die Umgebung gesehen. Jetzt sieht er in ihr Gesicht. "Warum
tragen Sie immer noch dieses Ding?" sagt er dann mit Blick
auf ihre Haarkappe. "Das ist eine Vorschrift, um die Sicherheit
des Arbeiters an der Maschine zu gewährleisten", sagt
der Brigadeleiter. "Und? Fühlen Sie sich damit sicher?"
fragt Perkoff. Er beugt sich leicht vor, da Katjas Stirn und die
Augen für jemanden, der größer ist als sie, vom
Schirm der Haarkappe verdeckt sind. "So als -" Er zögert.
"Arbeiter?" Katja greift unwillkürlich nach der Kappe,
sagt aber nichts. Sie nimmt die Kappe auch nicht ab. Sie rückt
nur ein bißchen am Schirm herum und schiebt ein Haar zurück,
daß sich gelöst hat und auf die Stirn heraushängt.
Sie sieht geradeaus. Sie hat den Eindruck, als sei durch ihr Schweigen
jede Bewegung erstarrt. Schobert, Perkoff, der Brigadeleiter, der
reglos das blaue Buch in der Hand hält, die sich öffnende
Tür von Halle 11 und das Vibrieren der riesigen Tore der Endmontagehalle.
Der Lärm der Fräsmaschinen und Bohrer tritt dahinter zurück.
Es scheint die Bewegung der Hubarme zu verlangsamen, es senkt sich
auf die Hebebühne und die Fahrerhäuser an den noch unfertigen,
nackten Skeletten der Karosserien. Die Fahrerhäuser verharren
vornübergeklappt wie Menschen, die für eine Viertelstunde
den Kopf auf die Tischplatte legen. Mit klopfendem Herzen wartete
nun das dritte Mädchen in der Hütte, bis der Meerprinz
kam. Als der Schlag zwölf hereintrat, triefend naß, schüttelte
er sich und beugte sich ungewöhnlich lange über das Bett,
um die Schlafende zu betrachten. Sie rührte sich jedoch nicht.
Er ging mehrmals an das Bett, betrachtete das Mädchen vom Fußende
aus und seufzte. Endlich springt in der Ferne ein LKW-Motor an.
Und der Parteisekretär, der die ganze Zeit nichts gesagt hat,
sagt leise von hinten: "Achten Sie nicht auf das Wohl Ihrer
Arbeiter?" Katja fängt an zu grinsen. "Wir arbeiten
nicht mit solchen Maschinen", sagt Perkoff zu Katja. Schobert
ist rot geworden. "Sie werden Frau Siems in unserer Straße
der Besten finden", sagt der Brigadeleiter noch einmal. "Sieh
dir mal an, wie kompakt diese Dinger sind", schwärmt jemand
aus der Delegation. "Ich sag dir, russische Modelle sind belastbar
bis zum get-no!" Das ist das zweite Mal.
Beim dritten Mal küßt er sie. Auf
dem Platz hinter der Halle, wo Unkraut und Weißdornbüsche
die Schrottabfälle überwuchern. Katja hat keine Zeit mehr
gehabt, sich die Hände zu waschen, und macht Fäuste, als
er ihre Hände auf seine Brust zieht. Sie schlägt die Augen
auf. Zu ihm und zum Fenster des Parteisekretärs im zweiten
Stock. Die Weißdornbüsche zeigen ihre nackten Dornen.
Es ist noch lange nicht Frühling. Katja zieht ihre Hände
unter seinen hervor und sagt: "Danke, Mister." Bevor sie
sich umdreht, um wieder an die Werkbank zurückzugehen, weil
die Pause längst vorbei ist, sagt sie noch: "Und? - Was
jetzt?" Denn wenn noch niemand die Welt aus den Angeln gehoben
hat, denkt sie, dann vor allem deshalb, weil sich noch nie jemand
wirklich darum bemüht hat. Machbar ist eines ihrer Lieblingswörter.
Sie setzt es in Situationen ein, die andere schon abgeschrieben
haben. Schobert vor seinem aufgebockten Moped am Pfuhl hat sie geantwortet:
"Nix Märchen. - Alles machbar!"Aber Schobert hat
Perkoff lächeln sehen. Er hat den Nachdruck gesehen, mit dem
er sich das Haar zurückwarf. Und er hat Katja gesehen. Er geht
zurück an die Maschine, lockert den Hebel des Schraubstocks
und zieht einen erkalteten Span aus den Backen. Er zieht den Span
zwischen seinen Fingern glatt. Aber er läßt sich nicht
glattziehen, sondern springt in die alte Form zurück. Das Metall
ist längst starr geworden. Es läuft in einer Spirale spitz
zu.
"Jetzt sei doch mal vernünftig!"
Es ist das Jahr 1978. Es ist immer noch Frühling, und Schobert
glaubt nicht an Märchen. An Märchen zu glauben kommt ihm
vor, als versuchte man, jemand durch eine Glasscheibe zu küssen.
Nach der Schicht geht er nicht nach Hause. Er geht auch nicht zu
Katja oder zu sonst irgend jemandem. Er geht einfach nirgendwohin.
Schließlich gelangt er an den Pechpfuhl. Regenwasser hängt
aufgeschäumt im Schilf, und wenn man in den Pfuhl hineinsieht,
schaut nichts zurück. Dort hält sich nur die Entengrütze,
die in der Mitte ausfranst. "Schnauze", hat Schobert gesagt,
als im Umkleideraum jemand begonnen hat, über Katja herzuziehen.
"Wer sie verpfeift, kriegt´s mit mir zu tun." Aber
jetzt, mit den Füßen im Schilf, kann er es nicht verhindern
zu denken: sie ist eine Hure, eine Schlampe, ein Flittchen. Gerissen,
gewieft, eine Hexe, oder nicht.
Am Abend kommt sie zu Perkoff.Er wohnt im
Luanda. Es gibt in Ludwigsfelde kein Hotel, und seit die Angolaner
im Werk sind, heißt das Arbeiterwohnheim Luanda, selbst für
die Vietnamesen im dritten Stock. Er wohnt im zweiten mit Blick
auf die Hauptstraße, neben ihm Karosserieschlosser, die nachts
zuviel Bier trinken. Katja hat nicht geklopft, und Perkoff nimmt
überrascht die Beine vom Bett, auf dem er über sie nachgedacht
hat. Sie trägt kein Make-up, keinen Lippenstift, keinen Schmuck.
Wie erwartet, treibt sie ihre ungebremste Natürlichkeit her,
ein Sinn für das Elementare, der abstumpft, je feiner und geistiger
die Menschen fühlen. Aber unter Verboten werden sie natürlich.
Verbote zwingen sie, sich zur Wehr zu setzen, und diese Gegenwehr
verlangt einen natürlichen Instinkt. Er dagegen ist längst
erstickt an einer großen Müdigkeit. Dafür wohnen
sie hier in Zimmern mit schief gefugten Betonplatten und einem leichten
Geruch nach Klo.Katja schiebt die Tür mit der Ferse zu. Aus
irgendeinem Grund versucht er herauszufinden, wie spät es ist.
Er hat vorhin kein Licht gemacht, und das Zimmer sieht jetzt fast
gemütlich aus, mit kleinen Schatten neben dem Bett, über
dem Waschbecken in der Ecke und mit ihrer Figur im Halbdunkel an
der Tür. Katja verschränkt die Hände vor ihrem Schoß
und legt die gestreckten Zeigefinger aneinander. Ihre Zeigefinger
zielen auf die Spitzen ihrer Mokassins."Setzen Sie sich doch.
Vielleicht 'n Kaffee? Mehr ist hier um diese Zeit wohl nicht drin."
Perkoff macht eine Geste zum Tauchsieder, dann fällt ihm ein,
daß der Tauchsieder auf der anderen Seite des Zimmers steht.
"Ja bitte", sagt sie ohne Betonung. Aber sie trägt
keinen BH. Er starrt ihre ziemlich weit heruntergeknöpfte Bluse
an und läßt die Hand, ohne die Geste nach der anderen
Seite noch einmal zu wiederholen, sinken. Die Scheinwerfer eines
vorbeifahrenden Autos ziehen seitlich über die Wand und entblößen
kurz einen Leberfleck auf halber Höhe zwischen ihren Brüsten.
Sie lehnt immer noch an der Tür. Als sie seinen Blick sieht,
fährt sie mit dem Daumen abwärts zwischen ihren Brüsten
hindurch, bis ihre Hand am untersten Knopf hängen bleibt und
ihn mit Daumen und Zeigefinger aufschnippt. Natürlich weiß
Hans Perkoff, worum es geht. Zum natürlichen Verhalten der
Menschen gehört nicht nur ihre Triebhaftigkeit, sondern auch
eine ursprüngliche, angeborene Schläue, die Katja zu ihm
getrieben haben könnte. Er hat sich schon oft in Leipzig und
Dresden um die innerdeutschen Beziehungen seiner Firma gekümmert
und die Abende mit Frauen verbracht, die er auf ein paar Drinks
einlud, um sich dann zurückhaltend aber amüsiert erfundene
Geheimnisse entlocken zu lassen.Unter Katjas offener Bluse sieht
er die weiche, halbrunde Andeutung einer Brust. Was auch immer die
Gründe sein mögen, aus denen sie nach diesem harmlosen,
erschreckend spröden Kuß am Nachmittag zu ihm gekommen
ist: für eine Tasse Kaffee hat sie zu wenig an.Er räuspert
sich. "Fürchte, der Kaffee ist leider gerade ausgegangen."
Statt zu antworten, stößt sich Katja von der Tür
ab. Ihr Geruch überlagert jetzt den unangenehmen Geruch im
Zimmer. Es ist kein Parfüm. Er ist sicher, daß er ihre
Haare riecht, ihre Haut, das Glänzen zwischen ihren Brüsten,
durch nichts verfälscht. Als sie dicht vor ihm steht, sieht
sie ihn an. Aber nicht mit diesem Blick von unten, der schon oft
an ihm ausprobiert worden ist, der ihn hat hecheln machen sollen,
was jedesmal nicht funktioniert hat. Katja sieht ihn so an, daß
es unmöglich ist, ihren Blick nicht zu erwidern. Sie nimmt
seine Hand. Sie berührt mit der Zunge seine Handknöchel,
leckt die Kuppe seines Zeigefingers und läßt den Zeigefinger
dann über ihren Hals gleiten, bis er ihr Schlüsselbein
berührt. Als er sie umarmen will, schiebt sie ihn weg. Sie
kniet sich vor ihn. Sie öffnet seine Hose und zieht ihn aus.
Sie macht das präzise und betont sachverständig. Als er
so dasteht, auf Socken, halb nackt, und sein Ständer ihr entgegenragt,
kichert sie plötzlich. Sie steht auf, tippt auf seine Spitze
und sagt: "Ihr Ärmsten. Man sieht euch immer gleich alles
an." Das ist das erste, was sie sagt, seit sie sein Zimmer
betreten hat. Er packt sie um die Hüfte und stößt
sie aufs Bett. Sie ist dünner, als er erwartet hat, und fällt
sofort hin. Er droht ihr mit dem Finger, aber während er mit
einer Hand noch in seinem Hemd festhängt, stützt sie schon
wieder ihren Kopf auf und sieht ihn interessiert an. Wie eine Wachsfigur.
Wie einen Fall aus der Psychiatrie, wie einen, der nicht weiß,
wie die Natur im Menschen beschaffen ist. Dabei kichert sie immer
noch. Der Sturz hat das Kichern noch verstärkt. "Was ist
denn? Brauchst mich gar nicht auszulachen! Ihr macht´s euch
leicht. Nicht, daß mir das nicht gefällt. - Sich einfach
zu nehmen, was man so will!" Er drückt sie flach auf die
Matratze, reißt ihr die Bluse herunter und schiebt mit dem
Unterarm ihre Schenkel auseinander. Zwischen den Beinen ist sie
naß, und das ist für Perkoff ein Argument für die
Natur. Aber als er sich von ihr wegdreht, um die Bluse loszuwerden,
sieht er plötzlich ihre Augen. Er sieht sie losgelöst
von ihrem Körper, als wären sie direkt neben seinen Augen
hinter der Stirn und doppelten seinen Blick. Das ist für Perkoff
zuviel. Er steht auf. Er geht durch sein Zimmer und läßt
sich dabei Zeit.Er denkt an die Dinge, die ihm gehören, und
an die, die ihm nicht gehören. Der Tauchsieder, der Frotteébademantel,
die Handgelenktasche halb geöffnet auf dem Tisch. Die eingerollte
Bluse in der Hand gehört ihm nicht. Aber ihr Geruch hängt
schon überall. Wahrscheinlich riechen auch die beiden ledernen,
jämmerlich verkümmerten Pflanzen auf dem Fensterbrett
schon nach ihr. Er entschließt sich, die Bluse sehr vorsichtig
und mit glattgestrichenen Ärmeln über den einzigen Stuhl
zu hängen. Dann wartet er einen Moment. Am liebsten würde
er, ohne sich umzudrehen, aus dem Zimmer und mit den Angolanern
einen trinken gehen. Sie sitzt auf dem Bettrand, die Hände
vor sich auf den Knien. Sie ist klein, wie sie da sitzt, und er
zieht unsicher eine Schulter hoch. "Na, komm her", sagt
sie. Als Perkoff vor ihr steht, in derselben Haltung wie kurz zuvor,
nur diesmal ohne die Socken, umarmt sie seine Hüfte. Sie legt
ihre Wange an seine Leiste. Vor Jahren, so wurde berichtet, war
der Prinz der Meerfrau geopfert worden. Denn als der König
mit seiner Flotte siegreich aus dem Krieg zurückgekehrt war,
brach ein heftiger Sturm aus, und die gesamte Flotte drohte, vom
Meer verschlungen zu werden. In seiner Not hatte der König
gelobt, der Meerfrau das erste männliche Wesen zu überlassen,
das ihm bei der Landung entgegentrat. Als nun die Schiffe unversehrt
in den Hafen gelangt waren, kam der fünfjährige Prinz,
vom Kanonendonner angelockt, zum Landungssteg gelaufen und war der
erste, der sich vor Freude weinend in die Arme seines Vaters warf.
Noch nie hat Hans Perkoff gevögelt wie in dieser Nacht. Fröstelnd.
Das Frösteln hört später auf. Nur die Sehnsucht wird
größer, je mehr er sich Katja nähert. Das Licht
hat er nicht eingeschaltet, und so ist ihr Körper ein wandernder
Schatten vor dem Nachthimmel im gardinenlosen Fenster. In den Scheinwerfern
vorbeifahrender Autos hebt sich ihr Körper in seinen Armen
empor, verrutscht und sinkt mit der Dunkelheit langsam in einen
Raum zurück, in dem sie ihm zu entgleiten droht, in dem er
nicht mehr weiß, wen er im Arm hält, sie oder eine Person,
die ihn vor langer Zeit auf ähnliche Weise im Arm gehalten
hat oder vielleicht sogar sich selbst. Die Sehnsucht bleibt. Auch,
als er später versucht, unten beim Pförtner eine Flasche
Sekt zu bekommen. Was ihm erst gelingt, als er aus fünf Westmark
zehn gemacht hat.Beim Aufwachen findet er einen Zettel neben sich
auf dem Laken: Danke, Mister. Sie haben mir großen Spaß
gemacht. - Darf ich Sie wiedersehen?
Katja radelt ins Werk, als der Mond noch nicht
ganz aus dem Viereck zwischen den Schornsteinen verschwunden ist.
Sie nimmt die Abkürzung durch die Gärten. Sie hält
auf die Schornsteine zu. An der Tischtennisplatte am Ausgang der
Gärten hält sie an. Sie steigt ab, lehnt das Rad an die
Steinplatte und wartet darauf, daß sie wieder langsamer atmet.
Es ist fünf Uhr früh. Ihr Mund schmeckt nach Perkoff.
Es wird nicht Frühling.Eine halbe Stunde später trifft
Schobert sie vor den Fahrradhäuschen am Werkstor. Sie schließt
hier jeden Morgen ihr Fahrrad an. Katjas Schloß ist angerostet,
und sie hilft dem Mechanismus mit der Handkante nach. Als sie sich
über dem Fahrradsattel wieder aufrichtet, sieht er ihr Gesicht.
"Wie siehst du denn aus?" "Ich brauch was zu trinken",
sagt Katja. "Hast du durchgefeiert?" "Gearbeitet",
sagt Katja. "DurchGEARBEITET." Und als Schobert sie ungerührt
anguckt, fügt sie hinzu: "Für uns -", wobei
sie den Wellblechhimmel über dem Fahrradhäuschen fixiert.
Den Tag verbringt sie an der Maschine. Sie
nimmt Rohlinge aus dem Kasten, reißt am Meßschieber
entlang das Maß an, spannt sie in den Schraubstock, drückt
den Hauptschalter. Das Metall erhitzt sich, die Späne schießen
in Wellen aus dem glühenden Material hervor zu Boden. Sie sieht
weder Schobert an der Werkbank gegenüber noch den Brigadeleiter,
der um zehn aufgeregt durch die Halle läuft. Als ein Span ihr
den Handrücken verbrennt, bemerkt sie das erst am dumpfen Geruch
ihrer Haut. Bei Schichtschluß ist der Boden ringsum metallbedeckt,
weißglänzender, dünner, ungewöhnlich leichter
Abfall, der später eingeschmolzen und erneut geformt werden
wird.Katja geht nach Hause. Sie geht ohne die Jacke auszuziehen
in ihr Zimmer, das immer noch ihr gleiches altes Kinderzimmer ist,
und schließt die Zimmertür hinter sich ab. Sie setzt
sich auf ihren Stuhl und zieht die Beine an. Wenn sie an ihrem Schreibtisch
sitzt, sieht sie auf das Gartenhäuschen gegenüber, das
da ist, solange sie denken kann, und vor dem fast jeden Morgen ein
Mann, der nicht älter zu werden scheint, seine Beete gießt.Schobert,
der sie den ganzen Tag beobachtet hat, versucht sich vorzustellen,
was Katja jetzt sieht. In ihrem kleinen Plattenbauzimmer mit einem
Bett, das sie tagsüber in den Schrank zurückklappt. Was
sie sieht, in Gedanken bei Perkoff im Arbeiterwohnheim, keine zwanzig
Minuten Fußweg entfernt.Nichts in Ludwigsfelde liegt mehr
als zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Nichts außer dem
Bahnhof. Katja umschlingt ihre Knie. Sie trägt Shorts, denkt
Schobert, aus dem Frühling wird Sommer, aber ihre Kniescheiben
sind kalt. Sie sieht alles auf einmal. Sie sieht die ganze Welt
zu ihren Füßen, die die Füße von Perkoff sind.
Es sind seine Füße, auf denen sie geht. Seine Füße,
die sie auf den Stuhlrand gestemmt hat, und die Welt, die darunter
liegt, ist ungewöhnlich groß. In der Nacht hat sie seine
Zehen an ihren Oberschenkeln gespürt, als er sich neben ihr
eingerollt hat und sie wachlag, bis das erste Licht hinter den Schornsteinen
hochkam. Es ist der Moment gewesen, in dem sie ihn am deutlichsten
wahrnahm. Über seine kalten, kräftigen Zehen, während
er schlief. Auf der Wohnheimtapete saßen Mücken. Zum
ersten Mal seit letzter Nacht, in der sie mit ängstlich vorbereiteter
Rede sein Zimmer betreten und dann kein Wort dieser Rede benutzt
hat, lächelt Katja wieder. Sie trommelt auf ihre Kniescheiben
und streckt die Beine von sich. Sie betrachtet ihre nackten Füße,
die die Füße von Perkoff sind. "Alles machbar",
sagt sie dann. Im Märchen tragen solche Füße Siebenmeilenstiefel.
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