Eine Veranstaltung der Landeshauptstadt Klagenfurt und des ORF Landesstudios Kärnten in Zusammenarbeit mit 3sat und freundlicher Unterstützung der Telekom Austria.

Der Standard, Wien

1. Juli 2001

Ein rasender Chronist der eigenen Gefühle


1. Juli 2001

Klagenfurter Tage der Berliner Literatur


29.Juni 2001

Große Text-Bandbreite am ersten Tag von Klagenfurt

Antje Ravic Strubel hinterlies stärksten Eindruck

Klagenfurt - Beim ersten Tag der 25. "Tage der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt kamen ziemlich unterschiedliche Texte zum Vortrag. Während Österreichs einziger Teilnehmer Ludwig Laher (45) eine komplizierte, mit Zitaten gespickte Geschichte las, waren Humoresken (Heiner Link, 40, D), Texte von hoher literarischer Qualität (Antje Ravic Strubel, 26, D), comicartige (Norbert Müller, 37, D), sterile (Ute-Christine Krupp, 38, D) und skurrile Geschichten (Brigitte Schär, 42, CH) geboten.
Lahers Beitrag "Fluchtwelten" entzog sich den Juroren durch eine abgehobene Textstruktur, in der "viel Wortsand, aber auch Goldkörner" zu finden waren (Thomas Widmer, CH). Allgemein wurde empfunden, dass die "Globalisierungs- Vernaderung" (Denis Scheck, D) selbst eine "Globalisierung der Sprache" (Birgit Vanderbeke,D) betreibt. In Heiner Links Geschichte um eine abenteuerliche Autofahrt mit einer Beifahrerin ohne Höschen erzeugte zwar stellenweise Gelächter, allerdings vermisste man die "Reife" (Scheck).

Antje Ravic Strubel überzeugte mit einer mehrschichtig angelegten Geschichte aus dem Arbeits- und Liebesalltag einer jungen Frau in der DDR, in den versprengte Versatzstücke aus einem Märchen eingewoben sind. Jurysrecher Robert Schindel (A) gratulierte der Autorin, auch die anderen Jurymitglieder zeigten sich von dem Text der jungen Deutschen sehr angetan.

Norbert Müller beschrieb in Comicsequenzen die Nöte eines vom Verlag unter Druck gesetzten Autors, der knapp vor seiner Vermählung steht. Eine Szene am Pissoir einer Gaststätte, in der Bräutigam und Schwiegervater in spe kommunizieren, ließ Juror Scheck erst in die Geschichte einsteigen. Kafkaeske Assoziationen erweckten allerdings unterschiedliche Gefühle.

Ute-Christine Krupp ließ als einzige Lebensäußerung ihrer Heldin - einer Chemikerin - nur ihren Hang zum essen von "Mäusespeck" zu. Alles, was in der Geschichte sonst noch lebe, seien die Bakterienkulturen, meinte Vanderbeke. Darüber hinaus sei der Text für seine exakte Konstruktion zu ungenau.

Brigitte Schär erzeugte Spannung mit einer surrealen Übereinander-Schichtung von Erzählebenen, in die der Leser aktiv und passiv hineingezogen wird. Die Parabel über das Schreiben wurde zwar kontroversiell aufgenommen, darüber, dass der Text spannend sei und deshalb funktioniere herrschte aber weitgehende Einigkeit. (APA)



27. Juni 2001

"Fit & Fun 2001"

Die Erfolgsstaffel des ORF: 25 Jahre Bachmann-Wettbewerb

Cornelia Niedermeier

Klagenfurt - 25 Jahre Bachmann-Wettbewerb lassen sich beispielsweise in Zahlen resü- mieren: 529 Autoren (wobei die erste Zahl bereits den ersten Fehler enthält, denn manche von ihnen traten mehrfach an, was von der Ziffer abzuziehen wäre - nun denn . . .) stellten sich mit einer Lesung von vorgeschriebenen 30 Minuten Länge aus vorgeschrieben unveröffentlichtem Material dem Publikum und der Jury des nunmehr "renommiertesten deutschsprachigen Literaturwettbewerbs".

Den 529 : 2, also 264,5 Lesestunden entsprachen deren weitere 264,5, während welcher die Jurymitglieder laut oder leise, fundiert oder temperamentvoll, wohlwollend oder herablassend, in jedem Fall aber der eigenen Macht bewusst den ermatteten und nunmehr stummen Autoren (Letzteres eine Klausel, auf welcher Marcel Reich-Ranicki, schon damals Chefexekutor der Literatur, bestanden hatte: keine lästige Autoren-Widerrede, bitte sehr!) ihr so genanntes Spontanurteil verkündeten.

Insgesamt 115 Autoren wurden für die Erduldung des de natura demütigenden Rituals mit Bargeld entlohnt: Als so genannte Sieger des Wettbewerbs teilten sie sich Blumensträuße, Urkunden und 8,308 Millionen Schilling an Preisgeldern und Stipendien, die während der vergangenen 24 Wettbewerbe ausgeschüttet wurden. Was mit den restlichen 414 angetretenen Wettbewerbsteilnehmern seit 1977 geschah, wird in Zahlen leider nicht öffentlich geführt.

Für wie viele die teilweise hoch verletzende Kritik der Instanzen zu Schreibstörungen führte, die möglicherweise eine Schriftstellerexistenz vor der Zeit beendeten, darüber schweigt die Statistik. (Gab es übrigens je ein Buch mit der Ehrenbanderole "Bachmann-Verlierer des Jahres"? Immerhin zählte Rainald Goetz trotz spektakulären Messerschnitts 1983 ebenso zu den Ungekürten wie Jörg Fauser oder unlängst Thomas Kapielski und Thomas Jonigk.) Interessanter wären die Umsätze, die die ausverkauften Viersternehotels in Klagenfurt durch den Wettbewerb erwirtschafteten, reist doch alljährlich eine Hundertschaft an Medien- und Verlagsangestellten zum Wörter-Meer, um die tourismus-freundlich an den Beginn der Ferien platzierten Literaturtage als Auftakt der Sommerwochen zu nutzen. Oder die Abendeinnahmen von Maria Loreto, dem teuren Fischlokal am Seeufer.


"Sonntagsbraten 2001"

Gemeinsam mit den Presseunterlagen erhält der Durchschnittsjournalist als Gratispräsent jedenfalls eine hübsche, lindwurm- und blüten-gezierte rote Mappe, anständig gefüllt mit Freizeitgestaltungstipps in der "Rose am Wörthersee": Dem "Sonntagsbraten 2001" ist darin heuer ein ebenso informativer Folder gewidmet wie dem "Schlosswandern", dem "Radwandern", dem "Altstadtwandern" oder anderem "Fit & Fun 2001".

Auch medientechnisch betrachtet ist der Wettbewerb der einzige ernsthafte Klagenfurter Konkurrent des Landeshauptmanns: Seit 1989 überträgt 3Sat die Veranstaltung in voller Länge, ganz wie Wimbledon, die Olympischen Spiele oder die Fußballweltmeisterschaft. Dreieinhalb Tage lang Literatur pur. Mit Großaufnahmen auf die Gesichter der Verurteilten während des Niedersausens des Scharfrichterbeils.

Was Wunder, dass Kulturpurist Jörg Haider ihm im vergangenen Jahr (der Name Bachmann war ihm, aus Protest gegen die schwarz-blaue Regierung, von deren Erben eben entzogen worden - seither titelt man umfassend "Tage der deutschsprachigen Literatur") bescheinigte, "steril und langweilig" geworden zu sein, und ihm das Preisgeld des Landes Kärnten entzog.

Anders als Jörg Haider nämlich verjüngt sich der Wettbewerb jährlich. Nicht nur die Autoren, auch die Jurymitglieder präsentieren sich zunehmend faltenfrei.

Heute, Mittwoch, pünktlich zum Ende der zweiten Runde von "Taxi Orange", starten Kärnten, der ORF, dessen Kärntner Landesstudiochef Ernst Willner mit Humbert Fink die Erfolgsserie 1977 begründete, und die deutschsprachige Literaturwelt ihre 25. Bachmann-Staffel.

Lang vor "Big Brother" entdeckte die Literatur das Erfolgsprinzip Eliminationsspiel. Neu abgeguckt aber sind die hübschen Trailer, in denen sich die Autoren präsentieren. Per Video. Privat.


26. Juni 2001

"Wettlesen" vor dem Start

"Bachmann-Preis" zum 75. Geburtstag der Autorin ab Mittwoch

Klagenfurt - Mit der Auslosung der Reihenfolge der Lesungen werden am Mittwoch um 20.30 Uhr im ORF-Theater in Klagenfurt die "25. Tage der deutschsprachigen Literatur" eröffnet. Zum 25. Mal wird der "Ingeborg Bachmann Preis", wie die Auszeichnung nach der Freigabe der Bezeichnung durch die Familie Bachmanns nach wie vor heißt, vergeben - in jenem Jahr, in dem die Schriftstellerin 75 Jahre geworden wäre. Die Eröffnungsrede wird die deutsche Autorin Katja Lange-Müller mit der "Klagenfurter Rede zur Literatur" halten.
Neues Preisgeld

16 AutorInnen - ein Österreicher, 13 Deutsche und zwei SchweizerInnen - werden sich bei der bedeutendsten Literaturveranstaltung im deutschsprachigen Raum der prominent besetzten Fachjury mit Robert Schindel an der Spitze stellen, um eine der gegenüber dem Vorjahr höher dotierten Auszeichnungen zu erlangen. Der von der Landeshauptstadt Klagenfurt gestiftete Hauptpreis wurde auf 300.000 Schilling (21.802 Euro) angehoben. Ebenso wurden der Preis der Jury auf 200.000 Schilling (gestiftet von Jet2Web), der von 30 Verlagen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gestiftete Ernst-Willner-Preis auf 120.000 Schilling und der 3sat-Preis auf 100.000 Schilling erhöht.

Zum Wettbewerb im ORF-Theater des Klagenfurter Landesstudios tritt als einziger Österreicher Ludwig Laher an. Aus Deutschland nehmen Katrin Askan, Artur Becker, Jenny Erpenbeck, Robert Fischer, Annegret Held, Ute-Christine Krupp, Tanja Langer, Michael Lentz, Heiner Link, Rainer Merkel, Norbert Müller, Antje Ravic Strubel und Ulrich Schlotmann teil, aus der Schweiz Brigitte Schär und Philipp Tingler.

Kleine Veränderungen gegenüber dem Vorjahr bei der Jury: Nach einigen Jahren Pause kommt diesmal die Literaturdozentin Konstanze Fliedl wieder nach Klagenfurt. Frischen Wind sollen die beiden neu gewonnenen Juroren Birgit Vanderbeke und Thomas Widmer in die Diskussion bringen. So wie im letzten Jahr gehören der österreichische Autor Robert Schindel ("Gebürtig"), der Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, Denis Scheck, der deutsche Schriftsteller Burkhard Spinnen und die Züricher Universitätsprofessorin Elisabeth Bronfen der Jury an. Moderieren wird Ernst A. Grandits.

In 3sat werden die am Donnerstag um 9.00 Uhr beginnenden Lesungen und Diskussionen sowie die Siegerehrung am Sonntag um 11.00 Uhr direkt übertragen. Im Nachtprogramm gibt es Zusammenfassungen.


23./24. Juni 2001

Der Tod der Poetessa

Leben und Werk Ingeborg Bachmanns, die am Montag 75 geworden wäre, sind Gegenstand zahlreicher Neuerscheinungen.

Ingeborg Bachmann, die in diesen Tagen fünfundsiebzig geworden wäre, ist seit bald dreißig Jahren tot. Ihr Bild in der Öffentlichkeit ist so schillernd und widersprüchlich wie zu ihren Lebzeiten. Ihr Bild? Kann mehr damit gemeint sein als ein Konglomerat aus Besitzansprüchen, Erinnerungskonstrukten und Projektionen? Tote können sich, wie Cees Nooteboom in einer Besprechung der neuen Bruce-Chatwin-Biografie von Nicholas Shakespeare geschrieben hat, bekanntlich nicht mehr gegen die merkwürdig intimen Beziehungen wehren, die Biografen, Interpreten oder so genannte Zeitzeugen mit ihrem Leben eingehen. "Tote sind von den Spiegeln abhängig, die ihr Bild zurückwerfen, und mit Spiegeln meine ich hier die Zeugnisse von Zeitgenossen." Spiegel können blind sein, sie können schmeicheln, lügen, verzerren, verkleinern und vergrößern, je nach Beleuchtung werfen sie Konturen und Farben eigenartig verschwommen und unscharf zurück. Vor allem aber spiegeln sie das Bild des Betrachters.
Als Projektionsfläche für derartige Spiegelungen ist Ingeborg Bachmann offenbar lohnender als andere Schriftstellerinnen. Eine Flut an biografischen "Zeugnissen" und literarischen Reminiszenzen spricht dafür. Sie war von allem Anfang an eine öffentliche Person, war, was man schon damals einen Star nannte, und war in dieser Rolle stärker präsent als jede andere deutschsprachige Autorin vor ihr. Sie fiel auf und, wenn man dem Zeugnis der Freunde trauen darf, hat sie dieses Auffallen, eine Zeitlang zumindest, nicht nur genossen, sondern auch ganz geschickt in Szene gesetzt. Die Fotos, die von ihr im Umlauf sind, zeigen auch dies. Keine ihrer deutschsprachigen Zeitgenossinnen hat es zu ähnlicher Berühmtheit gebracht. Es war wohl auch die für den männlichen Blick ungewohnte Kombination aus Sinnlichkeit und Intellekt, die sie und ihre Texte interessant machte und die Ingeborg Bachmanns Karriere als "erste Medienautorin in Deutschland" (U. Draesner) begünstigt hat. Die Images, die sich mit ihrem Namen fast schon automatisch verbinden, sind medial vermittelt, und sie bedienen ganz bestimmte Erwartungen. So ist ihr Bild heute mehr denn je aus einem Puzzle isolierter Klischees zusammengefügt, die seit Jahrzehnten im Umlauf sind - die auch alle stimmen mögen, die aber Person und Werk in mediengerechte Einzelteile zerlegen, wobei der Anteil an Gerüchten, Klatsch und Anekdoten in den "Zeugnissen" jeweils auch ein Gradmesser für die beanspruchte Authentizität der Erinnerung und für die Teilhabe an ihrer seinerzeitigen Prominenz ist. Ihre Person faszinierte Mit- und Nachwelt mindestens so stark wie ihr Werk. Und wer keine Ahnung von ihrem Werk hat, weiß zumindest etwas über ihre Spleens und Affären zu erzählen.

Eines der Kennzeichen dieser Faszination, schreibt ihr langjähriger Lektor Reinhard Baumgart, sei die Widersprüchlichkeit, aus der die "Ikone" Ingeborg Bachmann zusammengesetzt sei, und sein Geburtstagspräsent (gemeinsam mit Thomas Tebbe), der Sammelband 'Einsam sind alle Brücken', in dem ein gutes Dutzend deutschsprachiger Autoren und Autorinnen zu Ingeborg Bachmann Stellung nehmen, ist der beste Beleg für diese Behauptung. Da lobt einer die Lyrikerin auf Kosten der Erzählerin, ein anderer lässt kaum ein gutes Haar an ihren Gedichten, der nächste sieht ihre größte Leistung in der Theorie, wieder andere thematisieren in einer Mischung aus Faszination und Befremden ausschließlich ihre Rolle im Literaturbetrieb, und Franzobel, Bachmannpreis-Gewinner, gibt widerwillig und reichlich despektierlich zu Protokoll, dass ihm Person und Werk gleichermaßen fremd seien. Für ihn ist sie eine "Art Vorreiterin des Girlie-Wunders". Im schönen Wechsel werden ihr Oberflächlichkeit und Tiefe, Konventionalität und ästhetische Radikalität attestiert. Zwischen den Älteren und den Jüngeren in diesem Buch, zwischen den Zeitgenossen Peter Hamm, Joachim Kaiser, Peter Demetz, Reinhard Baumgart, die mit ihren Erinnerungen das öffentliche Bild "der Bachmann" entscheidend prägen, und der Generation derer, für die sie schon Schullektüre war, Thomas Kling, Jan Koneffke, Norbert Niemann, Ulrike Draesner oder Marcel Beyer, gibt es keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Erfahrung, weder der Texte noch der Person.

Ingeborg Bachmann hatte mehr als ein Jahrzehnt lang, bis Anfang der Sechzigerjahre, an der Stilisierung als "Poetessa" entscheidenden Anteil. Nach der zwiespältigen Aufnahme des Erzählbandes Das dreißigste Jahr (1961), nach schweren privaten und gesundheitlichen Krisen hat sie die literarische Öffentlichkeit zunehmend gemieden. Zehn Jahre lang, bis zum Erscheinen von Malina (1971) hat sie, von einigen Gedichten und kürzeren Prosatexten abgesehen, nichts publiziert. Sie hat ihr Recht auf Privatheit eingefordert und hat sich dem Betrieb bewusst entzogen. Doch in dem Maße, in dem sie bestrebt war, in der zweiten Hälfte ihres Schriftstellerlebens sich selbst zu gehören, in dem Maß wuchs auch das Bedürfnis der Öffentlichkeit, die solcherart entstandene Leerstelle zu füllen.

Dies umso mehr, als die Autorin zwar stets die persönliche Erfahrung als den "Ausgangspunkt" ihres Schreibens bezeichnet hat, es aber, abgesehen von einigen Interviews, nahezu keine autobiografischen Äußerungen von ihr gibt. So war für Leser wie für Interpreten der Reiz immer schon groß, autobiografische Elemente in ihrem Werk zu identifizieren, ihre Verwandlung und Bearbeitung in einem literarischen Kontext zu verfolgen und zu analysieren, etwas, das, nebenbei gesagt, zum selbstverständlichen Handwerk der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft gehört, weil wir dadurch auch etwas über die Machart und die Poetik von Texten lernen. Im Falle Ingeborg Bachmanns bestand die Schwierigkeit jedoch darin, dass eine Überprüfung der Texte am biografischen Material fast unmöglich war, weil die Erben der Autorin, ihre beiden jüngeren Geschwister, den Nachlass vor der Übergabe an die Österreichische Nationalbibliothek (1979) "geteilt" haben. Der Forschung zugänglich gemacht wurden im Wesentlichen die Werkmanuskripte, darunter das umfangreiche Material zum Todesartenprojekt, das 1995 veröffentlicht wurde. Der gesamte Briefwechsel, persönliche Aufzeichnungen und weitere, nicht näher bekannte Bestände wurden separiert und werden von den Erben unter Verschluss gehalten. Einigen wenigen (offenbar auch dem Verfasser der neuesten Bachmann-Biografie, Joachim Hoell) wurde Einblick in Teile des gesperrten Materials gewährt, wodurch nach und nach auch einige familiengeschichtliche Details Eingang in die Forschung gefunden haben. (Im Großen und Ganzen geht die populär gehaltene Darstellung Hoells über Bekanntes, das ausgiebig kompiliert wird, nicht hinaus. Irritierend sind einige sachlich falsche Angaben zum historischen Hintergrund und die Tendenz, strittige Fragen der Forschung durch mündliche Mitteilungen der Schwester entscheiden zu lassen.)

Das Recht der Erben, über den Nachlass zu verfügen, bleibt unbestritten, die Frage ist nur, ob durch die Handhabung im konkreten Fall auch die bestmögliche Präsentation des Werkes der Autorin gewährleistet wird. Dies ist das einzige Argument, das zählt. Die Veröffentlichung des Bandes Unveröffentlichte Gedichte durch die Erben im Herbst des vergangenen Jahres hat diese Frage aktualisiert. Verlag und Herausgeber haben das Buch als "literarische Sensation", als "Ingeborg Bachmanns aufwühlendes poetisches Vermächtnis" angepriesen. Er bringe ihre "persönlichsten Gedichte", die "bis heute unter Verschluss" gewesen seien. Warum sie unter Verschluss gehalten und warum sie ausgerechnet jetzt veröffentlicht wurden, erfuhr man allerdings nicht. Vor wenigen Jahren noch hatten die Erben den Bachmann-Biografen Hans Höller ein halbes Dutzend Letzte unveröffentlichte Gedichte in einer aufwendig kommentierten Ausgabe bei Suhrkamp herausbringen und damit in der literarischen Öffentlichkeit den Eindruck erzeugen lassen, das lyrische Werk liege mit diesem Nachtrag komplett vor. Nun dürfen wir staunend zur Kenntnis nehmen, dass es hundert weitere unveröffentlichte Gedichte gibt. Ob es die endgültig "letzten" sind oder ob wir demnächst mit einer Ausgabe "allerletzter" Gedichte rechnen dürfen, erfahren wir wieder nicht. Warum wurden nicht auch sie Höller zur Edition anvertraut, zumal die von ihm herausgegebenen Gedichte so eindeutig in den Umkreis des neuen Bandes gehören, dass einige davon nun ebenfalls mitaufgenommen wurden?

Offenbar ist kein einziger der mehr als hundert Texte dieses Bandes von Ingeborg Bachmann in eine Form gebracht worden, die ihr genügte, kein einziger ist von ihr autorisiert oder zur Veröffentlichung bestimmt worden. Dies wiegt schwer bei einer Autorin, die überaus strenge Ansprüche an die Publikationswürdigkeit ihrer Arbeiten gestellt hat. Ob, wie die Herausgeber meinen, der bloße Umstand, dass sie sie nicht vernichtet hat, schon eine Veröffentlichung - vor allem in der gewählten Form - rechtfertigt, sei dahingestellt. Vielleicht hat auch nur ihr Unfalltod sie daran gehindert, dies zu tun. Das bislang zurückgehaltene Konvolut, das nun als ihr "Vermächtnis" vermarktet wird, ist eine Sammlung von unverkennbar persönlichen, ja privatesten, tagebuchartigen Notaten und Entwürfen. Inhaltlich überwiegen Wut-, Rache- und Schmerzensschreie, Verzweiflungsausbrüche, Selbstmordfantasien. Es geht um Liebe und Verrat, Sexualität und Treulosigkeit, Schreibwunsch und Sprachverlust, Krankheit, Sucht und Tod.

Viele der Blätter wirken, als wären sie unter großem innerem Druck beschrieben und dann ohne einen weiteren Blick zur Seite gelegt worden. Ein Großteil der Gedichte stellt die Sprechende als Opfer vor, als Erniedrigte, Missbrauchte und Gedemütigte, als eine, die "verkauft und verraten" wurde, die "Alles verloren" hat, die fürchtet, dass "dieser Irrsinn, dieses Gefängnis / für die Ewigkeit währt". Der Grundton schwankt zwischen schwärzester Verzweiflung, Rachelust, Zerstörungswut und Selbstmitleid. Die Antwort auf die Frage "wie geht es" ist ein sarkastisches "danke gut / gutt gutt gutt in einer Lache Blut". Vieles ist auf den ersten Blick entschlüsselbar als Dokument einer lebensbedrohenden existenziellen Krise und hat erkennbar nicht nur autobiografischen, sondern selbsttherapeutischen Charakter. Im Aussprechen, im Aufschreiben soll das Schlimmere gebannt werden, sollen Sprache und Realität wiedergewonnen werden. Von Sanatoriumsaufenthalten und Therapien ist die Rede, von der "obersten Terrasse", von der "ich springen" wollte. "Der Tod ist dreißig Tabletten bitter [...] einen Fenstersturz lang". Immer wieder wird die "Gnade Morphium" beschworen. Doch Rettung kommt von anderswo. "In einer Nacht der Liebe nach einer langen Nacht/ habe ich wieder sprechen gelernt [...] / ich bin nicht mehr tot." Doch nicht die Wonnen der Zweisamkeit und das Hochamt der Liebe, eine "bürgerliche Infamie" wird sie einmal genannt, ermöglichen die Wiedergeburt, sondern die variantenreiche Konzelebration der Sexualität.

Es sind die persönlichsten und schonungslosesten Texte, die wir von Ingeborg Bachmann bisher kennen. Deshalb ist auch zu fragen: Was tun die Herausgeber, und was tut der Verlag, um diesen Texten, die so fassungslos, ungeschützt und formlos sind, eine Fassung zu geben. Gibt es zumindest den Versuch, ihren Hintergrund, ihr Zustandekommen, ihre Bedeutung, ihre Verbindung mit dem "Todesarten"-Projekt zu erläutern, sie auf diese Weise in die biografischen und werkgeschichtlichen Koordinaten einzufügen, die ihre Fassungslosigkeit und Zerstörungswut auffangen und verständlich machen könnten? Nichts dergleichen. Das 40-Zeilen-Vorwort teilt lediglich mit, dass die Gedichte zwischen 1962 und 1964, einige auch später, geschrieben worden seien und dass sie die "Trauer um die verlorengegangene Poesie und die Leiden der Kreatur" ausdrückten. Kein Wort über die biografischen Stationen der Leidens- und Hassgeschichte, die diese Texte nachzeichnen und bannen zugleich und angesichts deren der Titel des Buches: "Ich weiß keine bessere Welt" wie blanker Hohn klingt. Kein Wort über das Scheitern der Beziehung zu Max Frisch, über die Demütigung, die Ingeborg Bachmann empfand, als sie sich in seinem Roman "Mein Name sei Gantenbein" ausgestellt sah, kein Wort über ihre körperlichen und psychischen Zusammenbrüche, die der Trennung folgten. Kein Wort über ihre Klinikaufenthalte und ihre Versuche, sich wieder zu fangen, kein Wort zu der in den Gedichten sichtbar werdenden Topographie von Rom, Zürich, Berlin über Prag bis zur Ägypten-Reise 1964, die sie als Wiedergeburt und als Rettung gefeiert hat, als Moment, da ihr "das Lachen zurück gekommen ist". Kein Wort über die mehrfach als literarische Identifikationsfigur und als Mottospenderin herbeizitierte italienische Renaissancedichterin Gaspara Stampa, in deren Gedichten und in deren Schicksal als einer verlassenen Geliebten Ingeborg Bachmann offenbar ihre eigene Situation und ihren Zustand präfiguriert und ausgesprochen fand.

All dies und mehr wäre zum Verständnis dieser Texte nützlich, vielleicht auch nötig, weil viele als Gedichte nicht tragen, weil sie nicht die Substanz haben, für sich zu stehen. Da sie fragmentarisch, brüchig und unfertig sind, gelingt es ihnen nur selten, einen ästhetischen Bedeutungs- und Beziehungsraum aufzubauen, der über das angedeutete Biografische hinausweist. Andererseits haben die Herausgeber dem allgegenwärtigen Biografischen keinerlei erklärenden Rahmen gegeben. Sie lassen alles offen. Der Kommentar der Ausgabe beschränkt sich auf formale Angaben zu den Druckvorlagen, er gibt auf Fragen, die die Lektüre dieser Texte aufwirft, keine Antworten. So provoziert diese Ausgabe letztlich eine spekulative Reduktion der Gedichtentwürfe auf ihre privaten Anlässe. Genau dagegen aber hat Ingeborg Bachmann sich zeitlebens gewehrt: als Privatperson mit ihren Texten verrechnet zu werden. Sie geht zwar in ihrem Werk oft vom Persönlichen aus, doch nur, um literarisch davon abzusehen. Das Ich im vulgär-biografischen, oder wenn man so will, im "privaten" Sinne wird im Prozess ihres Schreibens gewissermaßen weggearbeitet und verwandelt. Es erscheint in den Texten als "Rolle" oder, wie sie zuweilen sagt, als "geistige Figur", die gedeckt und beglaubigt ist durch die Person Ingeborg Bachmann, die jedoch nicht mit ihr ident ist. An den meisten Texten dieses Nachlassbandes aber ist dieser ästhetische Transformationsprozess, ist diese "geistige Figur" nicht erkennbar. Sie sind vielmehr, und dies zuweilen in peinlicher, ja peinigender Weise, allzu deutlich erkennbar als persönliche, als private Notate. Damit aber entbehren sie gerade dessen, was sie in den Augen der Autorin zu "Gedichten" gemacht hätte.

Es ist schon eine eigenartige Situation. Jahrzehntelang haben die Erben der Dichterin streng darüber gewacht, dass das, was sie am Nachlass ihrer Schwester als "privat" definierten, den Augen der Öffentlichkeit entzogen blieb, dass sie die Kontrolle über die historische Rekonstruktion der Biographie ihrer Schwester behielten. Mit der Edition dieser Gedichte befördern die Erben nun aber genau das, was sie mit ihrer Nachlasspolitik stets so erbittert zu verhindern suchten: Voyeurismus und biographische Spekulation. Dabei bin ich andererseits davon überzeugt, dass eine vom übrigen Werk nicht völlig separierte und isolierte Edition dieser Texte, das exakte Gegenteil bewirken könnte: Verständnis und Bewunderung für ein Schreiben, das dem Schmerz und den Verzweiflungen abgetrotzt wurde, dem trüben Bodensatz der Existenz, dem Lebens-und Liebesschlamm, den diese Texte ungefiltert und ungeschönt enthalten. Dazu gehörte aber nicht nur ein ausführlicher und freimütiger Kommentar, sondern auch der Mut zu konsequenten herausgeberischen Entscheidungen. Es wäre dies, nicht zuletzt, auch eine Möglichkeit, die Last der Verantwortung für ein bedeutendes Erbe zu teilen. Die "ganze", die nicht mehr fragmentierte Ingeborg Bachmann als Einheit aus Textfigur und Person wird, wie Reinhard Baumgart zu Recht schreibt, erst in einer "umfassenden Ansicht ihres Lebens und Schreibens", zu haben sein.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 6. 2001)

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