Der Standard, Wien
1. Juli 2001
Ein
rasender Chronist der eigenen Gefühle
1. Juli 2001
Klagenfurter
Tage der Berliner Literatur
29.Juni 2001
Große Text-Bandbreite am ersten Tag von Klagenfurt
Antje Ravic Strubel hinterlies stärksten Eindruck
Klagenfurt - Beim ersten Tag der 25. "Tage
der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt kamen ziemlich
unterschiedliche Texte zum Vortrag. Während Österreichs
einziger Teilnehmer Ludwig Laher (45) eine komplizierte, mit Zitaten
gespickte Geschichte las, waren Humoresken (Heiner Link, 40, D),
Texte von hoher literarischer Qualität (Antje Ravic Strubel,
26, D), comicartige (Norbert Müller, 37, D), sterile (Ute-Christine
Krupp, 38, D) und skurrile Geschichten (Brigitte Schär, 42,
CH) geboten.
Lahers Beitrag "Fluchtwelten" entzog sich den Juroren
durch eine abgehobene Textstruktur, in der "viel Wortsand,
aber auch Goldkörner" zu finden waren (Thomas Widmer,
CH). Allgemein wurde empfunden, dass die "Globalisierungs-
Vernaderung" (Denis Scheck, D) selbst eine "Globalisierung
der Sprache" (Birgit Vanderbeke,D) betreibt. In Heiner Links
Geschichte um eine abenteuerliche Autofahrt mit einer Beifahrerin
ohne Höschen erzeugte zwar stellenweise Gelächter, allerdings
vermisste man die "Reife" (Scheck).
Antje Ravic Strubel überzeugte mit einer
mehrschichtig angelegten Geschichte aus dem Arbeits- und Liebesalltag
einer jungen Frau in der DDR, in den versprengte Versatzstücke
aus einem Märchen eingewoben sind. Jurysrecher Robert Schindel
(A) gratulierte der Autorin, auch die anderen Jurymitglieder zeigten
sich von dem Text der jungen Deutschen sehr angetan.
Norbert Müller beschrieb in Comicsequenzen
die Nöte eines vom Verlag unter Druck gesetzten Autors, der
knapp vor seiner Vermählung steht. Eine Szene am Pissoir einer
Gaststätte, in der Bräutigam und Schwiegervater in spe
kommunizieren, ließ Juror Scheck erst in die Geschichte einsteigen.
Kafkaeske Assoziationen erweckten allerdings unterschiedliche Gefühle.
Ute-Christine Krupp ließ als einzige
Lebensäußerung ihrer Heldin - einer Chemikerin - nur
ihren Hang zum essen von "Mäusespeck" zu. Alles,
was in der Geschichte sonst noch lebe, seien die Bakterienkulturen,
meinte Vanderbeke. Darüber hinaus sei der Text für seine
exakte Konstruktion zu ungenau.
Brigitte Schär erzeugte Spannung mit
einer surrealen Übereinander-Schichtung von Erzählebenen,
in die der Leser aktiv und passiv hineingezogen wird. Die Parabel
über das Schreiben wurde zwar kontroversiell aufgenommen, darüber,
dass der Text spannend sei und deshalb funktioniere herrschte aber
weitgehende Einigkeit. (APA)
27. Juni 2001
"Fit & Fun 2001"
Die Erfolgsstaffel
des ORF: 25 Jahre Bachmann-Wettbewerb
Cornelia Niedermeier
Klagenfurt - 25 Jahre Bachmann-Wettbewerb lassen sich beispielsweise
in Zahlen resü- mieren: 529 Autoren (wobei die erste Zahl bereits
den ersten Fehler enthält, denn manche von ihnen traten mehrfach
an, was von der Ziffer abzuziehen wäre - nun denn . . .) stellten
sich mit einer Lesung von vorgeschriebenen 30 Minuten Länge
aus vorgeschrieben unveröffentlichtem Material dem Publikum
und der Jury des nunmehr "renommiertesten deutschsprachigen
Literaturwettbewerbs".
Den 529 : 2, also
264,5 Lesestunden entsprachen deren weitere 264,5, während
welcher die Jurymitglieder laut oder leise, fundiert oder temperamentvoll,
wohlwollend oder herablassend, in jedem Fall aber der eigenen Macht
bewusst den ermatteten und nunmehr stummen Autoren (Letzteres eine
Klausel, auf welcher Marcel Reich-Ranicki, schon damals Chefexekutor
der Literatur, bestanden hatte: keine lästige Autoren-Widerrede,
bitte sehr!) ihr so genanntes Spontanurteil verkündeten.
Insgesamt 115 Autoren
wurden für die Erduldung des de natura demütigenden Rituals
mit Bargeld entlohnt: Als so genannte Sieger des Wettbewerbs teilten
sie sich Blumensträuße, Urkunden und 8,308 Millionen
Schilling an Preisgeldern und Stipendien, die während der vergangenen
24 Wettbewerbe ausgeschüttet wurden. Was mit den restlichen
414 angetretenen Wettbewerbsteilnehmern seit 1977 geschah, wird
in Zahlen leider nicht öffentlich geführt.
Für wie viele
die teilweise hoch verletzende Kritik der Instanzen zu Schreibstörungen
führte, die möglicherweise eine Schriftstellerexistenz
vor der Zeit beendeten, darüber schweigt die Statistik. (Gab
es übrigens je ein Buch mit der Ehrenbanderole "Bachmann-Verlierer
des Jahres"? Immerhin zählte Rainald Goetz trotz spektakulären
Messerschnitts 1983 ebenso zu den Ungekürten wie Jörg
Fauser oder unlängst Thomas Kapielski und Thomas Jonigk.) Interessanter
wären die Umsätze, die die ausverkauften Viersternehotels
in Klagenfurt durch den Wettbewerb erwirtschafteten, reist doch
alljährlich eine Hundertschaft an Medien- und Verlagsangestellten
zum Wörter-Meer, um die tourismus-freundlich an den Beginn
der Ferien platzierten Literaturtage als Auftakt der Sommerwochen
zu nutzen. Oder die Abendeinnahmen von Maria Loreto, dem teuren
Fischlokal am Seeufer.
"Sonntagsbraten 2001"
Gemeinsam mit den
Presseunterlagen erhält der Durchschnittsjournalist als Gratispräsent
jedenfalls eine hübsche, lindwurm- und blüten-gezierte
rote Mappe, anständig gefüllt mit Freizeitgestaltungstipps
in der "Rose am Wörthersee": Dem "Sonntagsbraten
2001" ist darin heuer ein ebenso informativer Folder gewidmet
wie dem "Schlosswandern", dem "Radwandern",
dem "Altstadtwandern" oder anderem "Fit & Fun
2001".
Auch medientechnisch
betrachtet ist der Wettbewerb der einzige ernsthafte Klagenfurter
Konkurrent des Landeshauptmanns: Seit 1989 überträgt 3Sat
die Veranstaltung in voller Länge, ganz wie Wimbledon, die
Olympischen Spiele oder die Fußballweltmeisterschaft. Dreieinhalb
Tage lang Literatur pur. Mit Großaufnahmen auf die Gesichter
der Verurteilten während des Niedersausens des Scharfrichterbeils.
Was Wunder, dass
Kulturpurist Jörg Haider ihm im vergangenen Jahr (der Name
Bachmann war ihm, aus Protest gegen die schwarz-blaue Regierung,
von deren Erben eben entzogen worden - seither titelt man umfassend
"Tage der deutschsprachigen Literatur") bescheinigte,
"steril und langweilig" geworden zu sein, und ihm das
Preisgeld des Landes Kärnten entzog.
Anders als Jörg
Haider nämlich verjüngt sich der Wettbewerb jährlich.
Nicht nur die Autoren, auch die Jurymitglieder präsentieren
sich zunehmend faltenfrei.
Heute, Mittwoch,
pünktlich zum Ende der zweiten Runde von "Taxi Orange",
starten Kärnten, der ORF, dessen Kärntner Landesstudiochef
Ernst Willner mit Humbert Fink die Erfolgsserie 1977 begründete,
und die deutschsprachige Literaturwelt ihre 25. Bachmann-Staffel.
Lang vor "Big
Brother" entdeckte die Literatur das Erfolgsprinzip Eliminationsspiel.
Neu abgeguckt aber sind die hübschen Trailer, in denen sich
die Autoren präsentieren. Per Video. Privat.
26. Juni 2001
"Wettlesen"
vor dem Start
"Bachmann-Preis" zum 75. Geburtstag der Autorin ab Mittwoch
Klagenfurt - Mit
der Auslosung der Reihenfolge der Lesungen werden am Mittwoch um
20.30 Uhr im ORF-Theater in Klagenfurt die "25. Tage der deutschsprachigen
Literatur" eröffnet. Zum 25. Mal wird der "Ingeborg
Bachmann Preis", wie die Auszeichnung nach der Freigabe der
Bezeichnung durch die Familie Bachmanns nach wie vor heißt,
vergeben - in jenem Jahr, in dem die Schriftstellerin 75 Jahre geworden
wäre. Die Eröffnungsrede wird die deutsche Autorin Katja
Lange-Müller mit der "Klagenfurter Rede zur Literatur"
halten.
Neues Preisgeld
16 AutorInnen -
ein Österreicher, 13 Deutsche und zwei SchweizerInnen - werden
sich bei der bedeutendsten Literaturveranstaltung im deutschsprachigen
Raum der prominent besetzten Fachjury mit Robert Schindel an der
Spitze stellen, um eine der gegenüber dem Vorjahr höher
dotierten Auszeichnungen zu erlangen. Der von der Landeshauptstadt
Klagenfurt gestiftete Hauptpreis wurde auf 300.000 Schilling (21.802
Euro) angehoben. Ebenso wurden der Preis der Jury auf 200.000 Schilling
(gestiftet von Jet2Web), der von 30 Verlagen aus Deutschland, Österreich
und der Schweiz gestiftete Ernst-Willner-Preis auf 120.000 Schilling
und der 3sat-Preis auf 100.000 Schilling erhöht.
Zum Wettbewerb
im ORF-Theater des Klagenfurter Landesstudios tritt als einziger
Österreicher Ludwig Laher an. Aus Deutschland nehmen Katrin
Askan, Artur Becker, Jenny Erpenbeck, Robert Fischer, Annegret Held,
Ute-Christine Krupp, Tanja Langer, Michael Lentz, Heiner Link, Rainer
Merkel, Norbert Müller, Antje Ravic Strubel und Ulrich Schlotmann
teil, aus der Schweiz Brigitte Schär und Philipp Tingler.
Kleine Veränderungen
gegenüber dem Vorjahr bei der Jury: Nach einigen Jahren Pause
kommt diesmal die Literaturdozentin Konstanze Fliedl wieder nach
Klagenfurt. Frischen Wind sollen die beiden neu gewonnenen Juroren
Birgit Vanderbeke und Thomas Widmer in die Diskussion bringen. So
wie im letzten Jahr gehören der österreichische Autor
Robert Schindel ("Gebürtig"), der Literaturredakteur
beim Deutschlandfunk, Denis Scheck, der deutsche Schriftsteller
Burkhard Spinnen und die Züricher Universitätsprofessorin
Elisabeth Bronfen der Jury an. Moderieren wird Ernst A. Grandits.
In 3sat werden die am Donnerstag um 9.00 Uhr
beginnenden Lesungen und Diskussionen sowie die Siegerehrung am
Sonntag um 11.00 Uhr direkt übertragen. Im Nachtprogramm gibt
es Zusammenfassungen.
23./24. Juni 2001
Der Tod der Poetessa
Leben und Werk Ingeborg Bachmanns, die am Montag 75 geworden wäre,
sind Gegenstand zahlreicher Neuerscheinungen.
Ingeborg Bachmann, die in diesen Tagen fünfundsiebzig
geworden wäre, ist seit bald dreißig Jahren tot. Ihr
Bild in der Öffentlichkeit ist so schillernd und widersprüchlich
wie zu ihren Lebzeiten. Ihr Bild? Kann mehr damit gemeint sein als
ein Konglomerat aus Besitzansprüchen, Erinnerungskonstrukten
und Projektionen? Tote können sich, wie Cees Nooteboom in einer
Besprechung der neuen Bruce-Chatwin-Biografie von Nicholas Shakespeare
geschrieben hat, bekanntlich nicht mehr gegen die merkwürdig
intimen Beziehungen wehren, die Biografen, Interpreten oder so genannte
Zeitzeugen mit ihrem Leben eingehen. "Tote sind von den Spiegeln
abhängig, die ihr Bild zurückwerfen, und mit Spiegeln
meine ich hier die Zeugnisse von Zeitgenossen." Spiegel können
blind sein, sie können schmeicheln, lügen, verzerren,
verkleinern und vergrößern, je nach Beleuchtung werfen
sie Konturen und Farben eigenartig verschwommen und unscharf zurück.
Vor allem aber spiegeln sie das Bild des Betrachters.
Als Projektionsfläche für derartige Spiegelungen ist Ingeborg
Bachmann offenbar lohnender als andere Schriftstellerinnen. Eine
Flut an biografischen "Zeugnissen" und literarischen Reminiszenzen
spricht dafür. Sie war von allem Anfang an eine öffentliche
Person, war, was man schon damals einen Star nannte, und war in
dieser Rolle stärker präsent als jede andere deutschsprachige
Autorin vor ihr. Sie fiel auf und, wenn man dem Zeugnis der Freunde
trauen darf, hat sie dieses Auffallen, eine Zeitlang zumindest,
nicht nur genossen, sondern auch ganz geschickt in Szene gesetzt.
Die Fotos, die von ihr im Umlauf sind, zeigen auch dies. Keine ihrer
deutschsprachigen Zeitgenossinnen hat es zu ähnlicher Berühmtheit
gebracht. Es war wohl auch die für den männlichen Blick
ungewohnte Kombination aus Sinnlichkeit und Intellekt, die sie und
ihre Texte interessant machte und die Ingeborg Bachmanns Karriere
als "erste Medienautorin in Deutschland" (U. Draesner)
begünstigt hat. Die Images, die sich mit ihrem Namen fast schon
automatisch verbinden, sind medial vermittelt, und sie bedienen
ganz bestimmte Erwartungen. So ist ihr Bild heute mehr denn je aus
einem Puzzle isolierter Klischees zusammengefügt, die seit
Jahrzehnten im Umlauf sind - die auch alle stimmen mögen, die
aber Person und Werk in mediengerechte Einzelteile zerlegen, wobei
der Anteil an Gerüchten, Klatsch und Anekdoten in den "Zeugnissen"
jeweils auch ein Gradmesser für die beanspruchte Authentizität
der Erinnerung und für die Teilhabe an ihrer seinerzeitigen
Prominenz ist. Ihre Person faszinierte Mit- und Nachwelt mindestens
so stark wie ihr Werk. Und wer keine Ahnung von ihrem Werk hat,
weiß zumindest etwas über ihre Spleens und Affären
zu erzählen.
Eines der Kennzeichen dieser Faszination,
schreibt ihr langjähriger Lektor Reinhard Baumgart, sei die
Widersprüchlichkeit, aus der die "Ikone" Ingeborg
Bachmann zusammengesetzt sei, und sein Geburtstagspräsent (gemeinsam
mit Thomas Tebbe), der Sammelband 'Einsam sind alle Brücken',
in dem ein gutes Dutzend deutschsprachiger Autoren und Autorinnen
zu Ingeborg Bachmann Stellung nehmen, ist der beste Beleg für
diese Behauptung. Da lobt einer die Lyrikerin auf Kosten der Erzählerin,
ein anderer lässt kaum ein gutes Haar an ihren Gedichten, der
nächste sieht ihre größte Leistung in der Theorie,
wieder andere thematisieren in einer Mischung aus Faszination und
Befremden ausschließlich ihre Rolle im Literaturbetrieb, und
Franzobel, Bachmannpreis-Gewinner, gibt widerwillig und reichlich
despektierlich zu Protokoll, dass ihm Person und Werk gleichermaßen
fremd seien. Für ihn ist sie eine "Art Vorreiterin des
Girlie-Wunders". Im schönen Wechsel werden ihr Oberflächlichkeit
und Tiefe, Konventionalität und ästhetische Radikalität
attestiert. Zwischen den Älteren und den Jüngeren in diesem
Buch, zwischen den Zeitgenossen Peter Hamm, Joachim Kaiser, Peter
Demetz, Reinhard Baumgart, die mit ihren Erinnerungen das öffentliche
Bild "der Bachmann" entscheidend prägen, und der
Generation derer, für die sie schon Schullektüre war,
Thomas Kling, Jan Koneffke, Norbert Niemann, Ulrike Draesner oder
Marcel Beyer, gibt es keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame
Erfahrung, weder der Texte noch der Person.
Ingeborg Bachmann hatte mehr als ein Jahrzehnt
lang, bis Anfang der Sechzigerjahre, an der Stilisierung als "Poetessa"
entscheidenden Anteil. Nach der zwiespältigen Aufnahme des
Erzählbandes Das dreißigste Jahr (1961), nach schweren
privaten und gesundheitlichen Krisen hat sie die literarische Öffentlichkeit
zunehmend gemieden. Zehn Jahre lang, bis zum Erscheinen von Malina
(1971) hat sie, von einigen Gedichten und kürzeren Prosatexten
abgesehen, nichts publiziert. Sie hat ihr Recht auf Privatheit eingefordert
und hat sich dem Betrieb bewusst entzogen. Doch in dem Maße,
in dem sie bestrebt war, in der zweiten Hälfte ihres Schriftstellerlebens
sich selbst zu gehören, in dem Maß wuchs auch das Bedürfnis
der Öffentlichkeit, die solcherart entstandene Leerstelle zu
füllen.
Dies umso mehr, als die Autorin zwar stets
die persönliche Erfahrung als den "Ausgangspunkt"
ihres Schreibens bezeichnet hat, es aber, abgesehen von einigen
Interviews, nahezu keine autobiografischen Äußerungen
von ihr gibt. So war für Leser wie für Interpreten der
Reiz immer schon groß, autobiografische Elemente in ihrem
Werk zu identifizieren, ihre Verwandlung und Bearbeitung in einem
literarischen Kontext zu verfolgen und zu analysieren, etwas, das,
nebenbei gesagt, zum selbstverständlichen Handwerk der Literaturkritik
und der Literaturwissenschaft gehört, weil wir dadurch auch
etwas über die Machart und die Poetik von Texten lernen. Im
Falle Ingeborg Bachmanns bestand die Schwierigkeit jedoch darin,
dass eine Überprüfung der Texte am biografischen Material
fast unmöglich war, weil die Erben der Autorin, ihre beiden
jüngeren Geschwister, den Nachlass vor der Übergabe an
die Österreichische Nationalbibliothek (1979) "geteilt"
haben. Der Forschung zugänglich gemacht wurden im Wesentlichen
die Werkmanuskripte, darunter das umfangreiche Material zum Todesartenprojekt,
das 1995 veröffentlicht wurde. Der gesamte Briefwechsel, persönliche
Aufzeichnungen und weitere, nicht näher bekannte Bestände
wurden separiert und werden von den Erben unter Verschluss gehalten.
Einigen wenigen (offenbar auch dem Verfasser der neuesten Bachmann-Biografie,
Joachim Hoell) wurde Einblick in Teile des gesperrten Materials
gewährt, wodurch nach und nach auch einige familiengeschichtliche
Details Eingang in die Forschung gefunden haben. (Im Großen
und Ganzen geht die populär gehaltene Darstellung Hoells über
Bekanntes, das ausgiebig kompiliert wird, nicht hinaus. Irritierend
sind einige sachlich falsche Angaben zum historischen Hintergrund
und die Tendenz, strittige Fragen der Forschung durch mündliche
Mitteilungen der Schwester entscheiden zu lassen.)
Das Recht der Erben, über den Nachlass
zu verfügen, bleibt unbestritten, die Frage ist nur, ob durch
die Handhabung im konkreten Fall auch die bestmögliche Präsentation
des Werkes der Autorin gewährleistet wird. Dies ist das einzige
Argument, das zählt. Die Veröffentlichung des Bandes Unveröffentlichte
Gedichte durch die Erben im Herbst des vergangenen Jahres hat diese
Frage aktualisiert. Verlag und Herausgeber haben das Buch als "literarische
Sensation", als "Ingeborg Bachmanns aufwühlendes
poetisches Vermächtnis" angepriesen. Er bringe ihre "persönlichsten
Gedichte", die "bis heute unter Verschluss" gewesen
seien. Warum sie unter Verschluss gehalten und warum sie ausgerechnet
jetzt veröffentlicht wurden, erfuhr man allerdings nicht. Vor
wenigen Jahren noch hatten die Erben den Bachmann-Biografen Hans
Höller ein halbes Dutzend Letzte unveröffentlichte Gedichte
in einer aufwendig kommentierten Ausgabe bei Suhrkamp herausbringen
und damit in der literarischen Öffentlichkeit den Eindruck
erzeugen lassen, das lyrische Werk liege mit diesem Nachtrag komplett
vor. Nun dürfen wir staunend zur Kenntnis nehmen, dass es hundert
weitere unveröffentlichte Gedichte gibt. Ob es die endgültig
"letzten" sind oder ob wir demnächst mit einer Ausgabe
"allerletzter" Gedichte rechnen dürfen, erfahren
wir wieder nicht. Warum wurden nicht auch sie Höller zur Edition
anvertraut, zumal die von ihm herausgegebenen Gedichte so eindeutig
in den Umkreis des neuen Bandes gehören, dass einige davon
nun ebenfalls mitaufgenommen wurden?
Offenbar ist kein einziger der mehr als hundert
Texte dieses Bandes von Ingeborg Bachmann in eine Form gebracht
worden, die ihr genügte, kein einziger ist von ihr autorisiert
oder zur Veröffentlichung bestimmt worden. Dies wiegt schwer
bei einer Autorin, die überaus strenge Ansprüche an die
Publikationswürdigkeit ihrer Arbeiten gestellt hat. Ob, wie
die Herausgeber meinen, der bloße Umstand, dass sie sie nicht
vernichtet hat, schon eine Veröffentlichung - vor allem in
der gewählten Form - rechtfertigt, sei dahingestellt. Vielleicht
hat auch nur ihr Unfalltod sie daran gehindert, dies zu tun. Das
bislang zurückgehaltene Konvolut, das nun als ihr "Vermächtnis"
vermarktet wird, ist eine Sammlung von unverkennbar persönlichen,
ja privatesten, tagebuchartigen Notaten und Entwürfen. Inhaltlich
überwiegen Wut-, Rache- und Schmerzensschreie, Verzweiflungsausbrüche,
Selbstmordfantasien. Es geht um Liebe und Verrat, Sexualität
und Treulosigkeit, Schreibwunsch und Sprachverlust, Krankheit, Sucht
und Tod.
Viele der Blätter wirken, als wären
sie unter großem innerem Druck beschrieben und dann ohne einen
weiteren Blick zur Seite gelegt worden. Ein Großteil der Gedichte
stellt die Sprechende als Opfer vor, als Erniedrigte, Missbrauchte
und Gedemütigte, als eine, die "verkauft und verraten"
wurde, die "Alles verloren" hat, die fürchtet, dass
"dieser Irrsinn, dieses Gefängnis / für die Ewigkeit
währt". Der Grundton schwankt zwischen schwärzester
Verzweiflung, Rachelust, Zerstörungswut und Selbstmitleid.
Die Antwort auf die Frage "wie geht es" ist ein sarkastisches
"danke gut / gutt gutt gutt in einer Lache Blut". Vieles
ist auf den ersten Blick entschlüsselbar als Dokument einer
lebensbedrohenden existenziellen Krise und hat erkennbar nicht nur
autobiografischen, sondern selbsttherapeutischen Charakter. Im Aussprechen,
im Aufschreiben soll das Schlimmere gebannt werden, sollen Sprache
und Realität wiedergewonnen werden. Von Sanatoriumsaufenthalten
und Therapien ist die Rede, von der "obersten Terrasse",
von der "ich springen" wollte. "Der Tod ist dreißig
Tabletten bitter [...] einen Fenstersturz lang". Immer wieder
wird die "Gnade Morphium" beschworen. Doch Rettung kommt
von anderswo. "In einer Nacht der Liebe nach einer langen Nacht/
habe ich wieder sprechen gelernt [...] / ich bin nicht mehr tot."
Doch nicht die Wonnen der Zweisamkeit und das Hochamt der Liebe,
eine "bürgerliche Infamie" wird sie einmal genannt,
ermöglichen die Wiedergeburt, sondern die variantenreiche Konzelebration
der Sexualität.
Es sind die persönlichsten und schonungslosesten
Texte, die wir von Ingeborg Bachmann bisher kennen. Deshalb ist
auch zu fragen: Was tun die Herausgeber, und was tut der Verlag,
um diesen Texten, die so fassungslos, ungeschützt und formlos
sind, eine Fassung zu geben. Gibt es zumindest den Versuch, ihren
Hintergrund, ihr Zustandekommen, ihre Bedeutung, ihre Verbindung
mit dem "Todesarten"-Projekt zu erläutern, sie auf
diese Weise in die biografischen und werkgeschichtlichen Koordinaten
einzufügen, die ihre Fassungslosigkeit und Zerstörungswut
auffangen und verständlich machen könnten? Nichts dergleichen.
Das 40-Zeilen-Vorwort teilt lediglich mit, dass die Gedichte zwischen
1962 und 1964, einige auch später, geschrieben worden seien
und dass sie die "Trauer um die verlorengegangene Poesie und
die Leiden der Kreatur" ausdrückten. Kein Wort über
die biografischen Stationen der Leidens- und Hassgeschichte, die
diese Texte nachzeichnen und bannen zugleich und angesichts deren
der Titel des Buches: "Ich weiß keine bessere Welt"
wie blanker Hohn klingt. Kein Wort über das Scheitern der Beziehung
zu Max Frisch, über die Demütigung, die Ingeborg Bachmann
empfand, als sie sich in seinem Roman "Mein Name sei Gantenbein"
ausgestellt sah, kein Wort über ihre körperlichen und
psychischen Zusammenbrüche, die der Trennung folgten. Kein
Wort über ihre Klinikaufenthalte und ihre Versuche, sich wieder
zu fangen, kein Wort zu der in den Gedichten sichtbar werdenden
Topographie von Rom, Zürich, Berlin über Prag bis zur
Ägypten-Reise 1964, die sie als Wiedergeburt und als Rettung
gefeiert hat, als Moment, da ihr "das Lachen zurück gekommen
ist". Kein Wort über die mehrfach als literarische Identifikationsfigur
und als Mottospenderin herbeizitierte italienische Renaissancedichterin
Gaspara Stampa, in deren Gedichten und in deren Schicksal als einer
verlassenen Geliebten Ingeborg Bachmann offenbar ihre eigene Situation
und ihren Zustand präfiguriert und ausgesprochen fand.
All dies und mehr wäre zum Verständnis
dieser Texte nützlich, vielleicht auch nötig, weil viele
als Gedichte nicht tragen, weil sie nicht die Substanz haben, für
sich zu stehen. Da sie fragmentarisch, brüchig und unfertig
sind, gelingt es ihnen nur selten, einen ästhetischen Bedeutungs-
und Beziehungsraum aufzubauen, der über das angedeutete Biografische
hinausweist. Andererseits haben die Herausgeber dem allgegenwärtigen
Biografischen keinerlei erklärenden Rahmen gegeben. Sie lassen
alles offen. Der Kommentar der Ausgabe beschränkt sich auf
formale Angaben zu den Druckvorlagen, er gibt auf Fragen, die die
Lektüre dieser Texte aufwirft, keine Antworten. So provoziert
diese Ausgabe letztlich eine spekulative Reduktion der Gedichtentwürfe
auf ihre privaten Anlässe. Genau dagegen aber hat Ingeborg
Bachmann sich zeitlebens gewehrt: als Privatperson mit ihren Texten
verrechnet zu werden. Sie geht zwar in ihrem Werk oft vom Persönlichen
aus, doch nur, um literarisch davon abzusehen. Das Ich im vulgär-biografischen,
oder wenn man so will, im "privaten" Sinne wird im Prozess
ihres Schreibens gewissermaßen weggearbeitet und verwandelt.
Es erscheint in den Texten als "Rolle" oder, wie sie zuweilen
sagt, als "geistige Figur", die gedeckt und beglaubigt
ist durch die Person Ingeborg Bachmann, die jedoch nicht mit ihr
ident ist. An den meisten Texten dieses Nachlassbandes aber ist
dieser ästhetische Transformationsprozess, ist diese "geistige
Figur" nicht erkennbar. Sie sind vielmehr, und dies zuweilen
in peinlicher, ja peinigender Weise, allzu deutlich erkennbar als
persönliche, als private Notate. Damit aber entbehren sie gerade
dessen, was sie in den Augen der Autorin zu "Gedichten"
gemacht hätte.
Es ist schon eine eigenartige Situation. Jahrzehntelang
haben die Erben der Dichterin streng darüber gewacht, dass
das, was sie am Nachlass ihrer Schwester als "privat"
definierten, den Augen der Öffentlichkeit entzogen blieb, dass
sie die Kontrolle über die historische Rekonstruktion der Biographie
ihrer Schwester behielten. Mit der Edition dieser Gedichte befördern
die Erben nun aber genau das, was sie mit ihrer Nachlasspolitik
stets so erbittert zu verhindern suchten: Voyeurismus und biographische
Spekulation. Dabei bin ich andererseits davon überzeugt, dass
eine vom übrigen Werk nicht völlig separierte und isolierte
Edition dieser Texte, das exakte Gegenteil bewirken könnte:
Verständnis und Bewunderung für ein Schreiben, das dem
Schmerz und den Verzweiflungen abgetrotzt wurde, dem trüben
Bodensatz der Existenz, dem Lebens-und Liebesschlamm, den diese
Texte ungefiltert und ungeschönt enthalten. Dazu gehörte
aber nicht nur ein ausführlicher und freimütiger Kommentar,
sondern auch der Mut zu konsequenten herausgeberischen Entscheidungen.
Es wäre dies, nicht zuletzt, auch eine Möglichkeit, die
Last der Verantwortung für ein bedeutendes Erbe zu teilen.
Die "ganze", die nicht mehr fragmentierte Ingeborg Bachmann
als Einheit aus Textfigur und Person wird, wie Reinhard Baumgart
zu Recht schreibt, erst in einer "umfassenden Ansicht ihres
Lebens und Schreibens", zu haben sein.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 6. 2001)
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