Judith Zander (D)
Mit Judith Zanders Text "Dinge, die wir heute sagten" ging es am zweiten Lesenachmittag weiter. Eingeladen wurde Zander von Hildegard Elisabeth Keller, deren Kollegen sich durch diese Wahl zuerst etwas gelangweilt zeigten, um dann doch noch einiges Lobenswerte am Text zu finden.
Zanders Romanmanuskript erzählt die Geschichte eines 16-jährigen, seinem Leben völlig apathisch gegenüber stehenden Mädchens der DDR, die durch eine Vergewaltigung schwanger wird.
Autorenporträt
Lesung
Diskussion
Sulzer über Ende der DDR "dankbar"
Eine Geschichte, die er eigentlich sehr gerne gelesen habe, begann Alain Claude Sulzer, jetzt habe die Vortragsweise aber große Langeweile bei ihm erzeugt. "Ich bin dementsprechend dankbar, dass es die DDR nicht mehr gibt - zum Einschlafen, selbst wenn man ein Kind bekommt". Ihm sei der Text "wie ein Wiegenlied für das entsetzliche Grau dieses Landes" erschienen.
Feßmann: "Große erzählerische Ruhe"
"Ganz anders" wurden Figur und Text von Meike Feßmann aufgenommen, die Zanders Prosa eine "große erzählerische Ruhe" attestierte. Die Figur des Mädchens sei als eine sehr Apathische angelegt und besitze dementsprechend fast kein Innenleben. Das gewählte "Du" würde Nähe und Distanz gleichzeitig herstellen und so die Geschichte vor sich hertreiben. Dazu besitze der Text wunderbare Bilder ("blühende Dauerwellen"), so die Jurorin voll des Lobes.
Fleischanderl: "Nirgends brennt ein Feuer"
Karin Fleischanderl nutzte ihre Redezeit, um eine allgemeines Resümee über Machart und Qualität der diesjährigen Klagenfurter Texte zu ziehen und gleichzeitig Zanders Text zu charakterisieren: Zwar könnten die diesjährigen Autoren alle "Geschichten erzählen" und hätten "gelernt wie Literatur zu machen ist", aber es brenne eben nirgends ein "Feuer": Der vorherrschende Tonfall sei der der literarischen Mittellage, "ein bisschen lauwarm".
Winkels: "Gleichförmig, elegisch, getragen"
Juror Hubert Winkels - in der Vergangenheit ein großer Kritiker des Bewerbes - meinte an Zanders Text ein allgemeines "Symptom" der Klagenfurter Texte zu erkennen: "Wenn man Apathie und Lethargie darzustellen versucht, dann darf man es eben nicht langweilig tun".
Das gewählte "Du" erzeuge leider kein Gefälle, was den Text "spannungslos" mache. Diese "gleichförmige Ebene" werde bis zum Schluss beibehalten, was den Text "gleichförmig, elegisch und getragen" mache. Owohl Winklels dem Text letztendlich auch einige "feine Miniaturen" zugestand.
Feßmann: "Langweiliger Vortrag"
"Man muss den Text gegen den gleichförmigen Vortrag auch etwas in Schutz nehmen", warf Meike Feßmann verteidigend ein. Die Figur werde eben nicht langweilig beschrieben, der Text besitze eine spannende Erzählkonstruktion und sei in sich "beweglich": "Das habe ich nicht oft so gelesen", so Feßmann.
"So hätte das nicht stattfinden können"
"So hätte das 1970 im Niederrhein nicht stattfinden können", kritisierte Burkhard Spinnen, der aber zugab, "das Wort Mutterpass nie geliebt" zu haben. Das sei aber auch kein Text über die DDR, sondern über die "merkwürdige Schicksallosigkeit" jener 99,9 Prozent der Menschen, die eben "keine Helden" wären und "völlig undramatisch" vor sich hin leben würden.
Diese "Chronik einer Ereignislosigkeit" brauche ihr Potenzial aber selbst auf. Das gewählte "Du" ("ein ästhetischer Blindenhund") adle die Figur, aber es müsse irgendwann zu einer Auseinandersetzung kommen, "sonst wars das".
Keller: "Die Geschichte einer Entfremdung"
"Ich bin an diesem schrecklichen Bild mit dem Schlüpfer hängengeblieben" erklärte Hildegard Elisabeth Keller, bei der der Text in Amerika per Post ankam, wie sie erklärte. Man habe es hier mit der Geschichte einer "Entfremdung" zu tun, bei der die Figur "langsam wieder zu sich selbst finde". Das mag "langatmig, ja kleinschrittig sein", so Keller, entspreche aber dem Erkenntnisprozess des Menschen. Der Stil, in der die Geschichte gehalten sei, sei "rekonstruktiv": Die Figur müsse erst "wieder gehen lernen - wolle aber gar nicht".
"Gelungener Text voll krudem Realismus"
Als Letzter meldetet sich Paul Jandl mit einer Spitze gegen Alain Claude Sulzer zu Wort: "ich finde es interessant, dass ein Schweizer wie Alain Claude Sulzer die DDR für langweilig hält". Er gab sich "voller Empathie" für den Text. "Ein gelungener Text voll krudem Realismus, gut gelungen" - worauf auch die Kollegen noch einmal in das Lob für die "kunstfertigen Details" des Textes einstimmten.