Peter Wawerzinek (D)

Peter Wawerzineks "Rabenliebe" eröffnete den dritten und letzten Lesetag der TDDL 2010. Vorgeschlagen wurde der in der DDR aufgewachsene Autor von Meike Feßmann. Der Autor widmete seine Lesung der erkrankten Hannelore Kain.

Autorenporträt
Kamera: Steffen Sebastian Musik: Lukas Rauchstein
Lesung
Diskussion

Erinnerungen an ein DDR-Waisenhaus

"Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten als mir lieb ist" befindet, Eichendorff zitierend, der Ich-Erzähler in "Rabenliebe". Das "Winterkind" nähert sich schreibend seinem ersten erinnerten, "mit Schneefall versehenen Tag" an, und der kindlichen Verlassenheit als Waise im DDR-Kinderheim. Durchsetzt ist der Text mit Zeitungsschnipseln und Notizen elterlicher Gewalt.

Hildegard Keller (Bild: Johannes Puch)Hildegard Keller (Bild: Johannes Puch)

Keller: "Voller Glut und Herzschlag"

"Unerhört gewonnen" habe der Text durch das Vorlesen, begann Hildegard Elisabeth Keller, "obwohl er das an sich "gar nicht mehr nötig" habe. Keller: "Keineswegs arm an Zwischentönen", sei Wawerzineks Prosa voller "Glut und Herzschlag", eine "Partitur" zu nennen - allein die "phonetische Exkursion am Schluss leuchte ihr nicht ganz ein. 

Dieser Teil könnte aber auch als Suche nach Worten und nach Sprache in einer "eiskalten  Kindheitswelt" verstanden werden, fügte die Jurorin, ihre Kritik wieder relativierend, hinzu.

Winkels: "Krude harte Form macht Text intensiv"

"Hier wird die Abwesenheit von Vater und Mutter erinnert" erklärte Juror Hubert Winkels, was im Text als sprachlicher Prozess vorgeführt werden: "Seine krude, harte Form macht den Text intensiv", meinte Winkels, das Problem dabei wären dessen heterogene Mittel."

Eichendorffscher Wohlklang und Rhythmus vermische sich immer wieder mit "Klartext", weshalb Winkels die Frage an den Text herantrug: "Darf man diese vielen heterogenen Momente so miteinander verbinden?"

Fleischanderl sieht Kitschverdacht

Karin Fleischanderl stellte den Text da, wo gestern gegen Josef Kleindienst der "Pornographie-Verdacht" ausgesprochen worden war, Wawerzineks Text unter "Kitschverdacht". Der Text ginge seinen  Bildern ("Schnee, Krähe, Felder") zwar nicht "völlig auf den Leim", schramme aber hart am Kitsch vorbei. 

"Zu Gute halten" müsse man dem Text, dass er den seit Jahren boomenden Erzählungen traumatischer Kindheiten zwar nicht Neues hinzufüge, die Elemente aber "gehörig durcheinander wirble". Weiterer Kritikpunkt: Die Brutalität des vorgefallenen werde hier "ästhetisch aufgehoben"

Sulzer: "Man merkt dem Text Reife an"

Alain Claude Sulzer begrüßte den Umstand, den Text eines älteren Autors vor sich zu haben, dem man seine Reife, seinen Erfahrungshintergrund" anmerke. "Sehr nah" sei ihm dieser Text gegangen, wobei ihn die von Fleischanderl monierten Brüche im Text gar nicht gestört hätten. Hier arbeite sich die Literatur in eine schreckliche Kindheit zurück, und das "sehr wohltuend", so Sulzer.  

Paul Jandl (Bild: Johannes Puch)Paul Jandl (Bild: Johannes Puch)

Jandl: "Kindheitsidentität sehr gelungen"

"Der Text beginnt mit dem Winternacht-Zitat Eichendorffs, sich daraus zu befreien ist sein Ziel", meinte Paul Jandl. Zwar komme der Text zuerst schwer in Fluss, illustriere dann aber sehr gut, dass sich eine Biographie zu erarbeiten auch Sprachwerdung bedeute. Jandl erinnerte in diesem Zusammenhang an den Autor Hans Josef Ortheil. Die dichte Beschreibung der Kindheitsidentität sei  Wawerzinek "sehr gelungen".

Peter Wawerzinek (Bild: Johannes Puch)Peter Wawerzinek (Bild: Johannes Puch)

Feßmann: "Eine kleine Herzenbühne"

Meike Feßmann meinte gegen die "kleinlichen Einwände" ihrer Kollegen vorgehen zu müssen und schaltete sich erklärend in die Diskussion ein, erklärte Leitmotivik ("Schnee, Nebel, Krähen, Türen") und die "fatale Liebe" eines Kindes zu seiner "Rabenmutter", "das in die Gesellschaft aufgenommen werden will."

Das Kind in dem Text Wawerzineks werde "niemals vorgeführt" oder bloßgestell, so Feßmann: "Der Erzähler ist völlig ehrlich mit dem Leser, er gibt dem Kind Fantasie" - das alles sei "sprachlich reich und vielschichtig", wobei verschiedenste Textsorten in den Text integriert würden, so dass die Jurorin  befand: "Eine kleine Herzenbühne".

"Werde vielleicht einmal lustige Bücher schreiben"

Nach langem Hin und Her in der Jurydiskussion schaltete sich schließlich auch der Autor in die Diskussion ein und erklärte in Bezug auf sein Schreiben: "Wenn ich mal was sagen darf: Es war nicht einfach, das zu schreiben, mich der eigenen Biographie zu nähern und ich habe Jahrzehnte dafür gebraucht - aber irgendwann muss man auch zu einem Schluss kommen. Irgendwann werde ich vielleicht auch mal lustige Bücher schreiben".  

Burkhard Spinnen (Bild: Johannes Puch)Burkhard Spinnen (Bild: Johannes Puch)

Spinnen zog seinen Beitrag zurück

Nach langer Diskussion über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, sich der eigenen Biographie zu nähern und viel Hin und Her über die von Wawerzinek in den Text eingebauten Zeitungsmeldungen misshandelter Kinder, zog Burkhard Spinnen, der bis dahin nicht zu Wort gekommen war, seinen Redebeitrag schließlich in der "Hoffnung" zurück, sich als Schreibender irgendwann auch der "Selbstverständlichkeit des Ästhetischen" anzunähern. 

Barbara Johanna Frank

TDDl 2010TDDl 2010