Linus Reichlin (D) Jurydiskussion
Linus Reichlin, der in Berlin lebt, wurde vorgeschlagen von Meike Feßmann. Sein Text "Weltgegend" erzählt vom Krieg. Sein Text warf gleich zu Beginn große Kontroversen in der Jury auf.
Ein Arzt im Krieg
Das Dorf Quatliam. Wie auf alle ausländischen Ärzte ist auch auf den Arzt "Martens" ein Kopfgeld von 15.000 Euro ausgesetzt. Durch Zufall überlebt er einen Bombenanschlag, wird dann aber aus einem Irrtum heraus zum Mörder: er erschießt eine Frau, die er mit einem Terroristen verwechselt hat. Oder war doch alles nur Einbildung, die liegen gebliebene Sandale im Sand ein Trugbild? Immerhin liegt der Selbstbetrug doch in der Familie.
Winkels: "Fernsehfilm mit geringem Budget"
Obwohl er zuerst noch den Mut des Autors lobte, sich mit dem Einsatz der deutschen Soldaten in Afghanistan thematisch zu beschäftigen, konnte Hubert Winkels doch nicht so recht mit dem Text anfreunden: "Routiniert" und in einer "guten Sprache" verfasst, wirke der Text doch wie eine "Fernsehfilm mit zu geringem Budget". Ausgangspunkt der Geschichte sei die der klassischen griechischen Tragödie, in der der Held schuldlos Schuld auf sich lade.
Sulzer: "Text legt Konflikt einer Schuld dar"
Anderer Meinung war Alain Claude Sulzer, der die Probleme Winkels nicht sah. Das Setting sei zwar vollkommen klar, aber der Text bleibe auch bei der Sache und lege den Konflikt, die Geburt der Schuld und eines Traumas dar - wobei er, Sulzer, bei diesem Romananfang weiterlesen würde.
Jandl: "Abenteuerromantik mit Moral"
"Ich bin in der glücklichen Lage mit Hubert Winkels in eine Richtung zu gehen", begann Paul Jandl seine Kritik: Die Kolportage werde hier als ästhetisches Mittel eingesetzt, um "richtige Männer" am Werk zu zeigen. "Wen der Name Martens nicht an Stiefel erinnert…". Über die Abenteuerromantik des Textes werde eine Moral gelegt, über die nicht zu streiten sei - allerdings wären dessen ästhetische Mittel "schlicht", das sei nicht das Neue, das man hier in Klagenfurt fordern wolle.
Feßmann: "Starke Figuren, starke Dialoge"
Meike Feßmann setzte zur Verteidigung an: Der Text sei ausgezeichnet erzählt, weise starke Figuren und starke Dialoge auf. Das Thema werde ohne Pathos behandelt, zugleich zeige er den Konflikt der Friedensmissionen auf - dass das Leben der deutschen Soldaten zwar bedroht sei, diese von sich aus aber nicht schießen dürften. Die von den Kollegen kritisierte, allgegenwärtige "Sandale" zeige das gleichzeitige Bestehen des Schrecklichen und Alltäglichen nebeneinander.
Strigl stolpert über das "allzu Glatte"
"Ja äh…" begann Daniela Strigl, der die Einwände gegen den Text bereits auf der Zunge lagen. Der Vorwurf, dass hier "kolportagehaft" erzählt werde, sei ihr zu streng. Spannend, plausibel und konzentriert gemacht sei der Text, dem man gerne folge, allerdings sei sie dann und wann über das "allzu Glatte" im Text gestolpert. Zu fragen sei: Was ist neu an diesem Text, nach einem Vergleich mit Ernest Hemingways Roman "In einem anderen Land" kam sie zu dem Schluss: Hier "schwebe" im Gegensatz zum Vorgänger nichts zwischen den Zeilen, es gebe keinen ästhetischen Fortschritt. "Ein Text ohne erzählerisches Risiko", schloss Strigl.
Keller: "Figur muss glaubwürdiger sein"
Die Rekonstruktion der Schuld sei ein "taffes Thema", begann Hildegard E. Keller. Der Protagonist baue eine "Schutzwall" gegen diese Schuld auf und reiße sie wieder nieder. Die Fiktion erlaube es dem Leser, eine Erfahrung zu machen, wie er es sonst nie könnte. Allerding müsse die Figur glaubwürdiger sein, so Keller. Dass einer in solchen Momenten an lateinische Vokabeln und den hippokratischen Eid denke, komme ihr unwahrscheinlich vor.
Feßmann: "Bundesbürger-Krempel im Krieg"
"Aber er bringt doch seinen Bundesbürger-Krempel mit in den Krieg" widersprach Meike Feßmann.
Allein, auch Burkhard Spinnen wollte dem Text seine Sache nicht so recht über den Weg trauen. Gemacht sei hier alles mit großer Souveränität, dass der Text jedoch "keine Leerstellen" habe, halte einem die Sache auch "vom Hals". Jeder Satz, jede Überlegung, jedes Motiv gehe mit der Entwicklung der Figur auf einer Ebene einher, sei dem "nachgebaut" - das mache "Weltgegend" aber auch geheimnislos.
"Sie werden doch nicht anfangen, einem Autor seine Souveränität vorzuwerfen", setzt Meike Feßmann noch einmal zur Ehrenrettung an. Hier entstehe "Raum und Geschichte", der Autor können die Distanz zu seiner Figur beliebig regulieren - das habe man bisher noch nicht so gehört.
Barbara Johanna Frank