Nachruf Marcel Reich-Ranicki

Im September des vergangenen Jahres ist Marcel Reich-Ranicki gestorben. An dieser Stelle möchten wir daran erinnern, dass er vor 37 Jahren zusammen mit Ernst Willner und Humbert Fink den Ingeborg Bachmann Preis konzipierte und erstmals durchführte.

Marcel Reich-Ranicki: ArchivMarcel Reich-Ranicki: Archiv

Er hat dem Bachmannpreis seinen Stempel aufgedrückt

Marcel Reich-Ranicki brachte dabei seine Erfahrungen mit den Treffen der Gruppe 47 ein; und es ist sicher nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die Tage der deutschsprachigen Literatur deren Erbe übernommen haben. Aber Reich-Ranicki drückte der Veranstaltung auch seinen ganz persönlichen Stempel auf. Zehn Jahre lang gab er den Ton an. So nachdrücklich, dass bis heute für viele Menschen die Veranstaltung identisch ist mit seinen kritischen Maßstäben und insbesondere seinem kritischen Duktus.

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"Zum Beruf des Kritikers gehört Mut, vor allem Mut zum Irrtum. Wer keinen Mut hat, soll Buchhalter oder Steuerberater werden.

(Marcel Reich-Ranicki)

Dieses Erbe ist für seine Nachfolger in der Jury nicht immer leicht zu tragen. Manche Verletzungen sind nie verheilt, wovon im letzten Jahr die Rede Michael Köhlmeiers Zeugnis gab. Da möchte man gerne kritisieren,
ganz ohne zu verwunden. Andererseits fordert man von der Jury immer wieder, sie solle der Veranstaltung das Feuer anstecken, das Reich-Ranicki zu entzünden wusste.

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"Gleichtun kann man es ihm freilich nicht"

Wie dem gerecht werden? Ich weiß es nicht. Auf der einen Seite: Analyse, Hingabe, Respekt, Demut. Und auf der anderen Seite: Engagement, Überzeugung, Spontaneität, Leidenschaft. Das alles gehört dazu, wenn es um Literatur geht, aber eine harmonische Synthese dürfte unmöglich sein. Marcel Reich-Ranicki hat diese Widersprüche nicht gelöst, er hat sie gelebt. Er hat sie vor allem ausgelebt, öffentlich, und gerade das hat seine Arbeit für die Geltung und die Wirkung der Literatur so erfolgreich gemacht. Gleichtun kann man es ihm freilich nicht. Wie alle großen Vorbilder darf man ihn unter keinen Umständen kopieren. Man muss schon seine eigenen Wege finden.

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Für Marcel Reich-Ranicki einen Ehrenplatz freihalten

Ich wünsche mir, dass in Erinnerung an Marcel Reich-Ranicki ab jetzt ein Ehrenplatz beim Bachmannpreis freigehalten wird. Von diesem Platz könnte Respekt gefordert werden, wenn das Besserwissen ausbricht, Leidenschaft, wenn Analyse regiert, und Sachlichkeit, wenn Abneigungen Überhand nehmen. Und schließlich könnte von diesem Platz daran erinnert werden, dass zu jeder Kritik ein gewisses Maß an Demut vor dem Urteil der anderen gehört.

(Burkhard Spinnen, 2014)

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