Andreas Stichmann Jurydiskussion

Vorgeschlagen von Meike Feßmann, ging der Lesenachmittag des ersten Tages mit Andreas Stichmanns Lesung weiter. Seine Geschichte „Der Einsteiger“ erzählt aus der Ich-Perspektive vom Einbruch des obdachlosen „Rupert“ in die Wohnung einer Familie. Ein erster Favorit?

Andreas Stichmann (Foto: Johannes Puch)Andreas Stichmann (Foto: Johannes Puch)

Jury erstmals von einem Text recht angetan

Die Jury zeigte sich zum ersten Mal an diesem Tag recht angetan von einem Text – bis auf Burkhard Spinnen, der die Euphorie am Ende etwas zu dämpfen verstand. Der Einbruch "Ruperts" dient nicht nur der Geldbeschaffung. Es ist auch der Versuch, sich wieder in die Realität des Normalen einzufühlen, „einzusteigen“ in die Welt des Bürgerlichen: „Mein Name ist Rupert, und ich komme zuerst als Freund“. Aber da ist ja auch noch Ana, seine vom Trinken und dem Leben auf der Straße kranke Freundin.

Winkels: Unklar, ob da einer lebt oder sich alles ausdenkt

„Eine schöne Geschichte“, meinte Hubert Winkels und hatte da - anders als angekündigt, noch ganz und gar nicht „ausgeredet“, wie er es anfangs Moderatorin Clarissa Stadler angedroht hatte. „Der Text lässt einen im Unklaren darüber, ob ein Depravierter das alles erlebt oder sich alles nur ausdenkt“." Der Einsteiger" enthalte Thriller-Elemente, die den Einbruch in die Idylle durchaus bedrohlich erscheinen lassen würden. Zwar habe er zuerst den Eindruck gehabt, alles laufe darauf hinaus, „das lauert einen Moment“, doch dann nehme der Protagonist eine „observierende Haltung“ ein und werde ganz zum unter der Couch liegenden Beobachter – gleichzeitig ein Spiegelbild seiner sozialen Situation. Diese „Apotheose der bürgerlichen Kleinfamilie“ beginne im Laufe der Erzählung „immer mehr zu leuchten“.

„Grammatikalisch äußerst präzise“, lasse einen die Geschichte durch ihre „nahtlosen Übergänge“ völlig darüber im unklaren, ob der Erzähler träumt oder sich an Vergangenes erinnert: "Technisch sehr gut und spannend gemacht", so Winkels.

Jandl: "Niemand ist tot oder pervers"

„Das ist Occupy im Kleinen“, befand Paul Jandl. „Ein Einschleichdieb des bürgerlichen Glücks“. In seinen „ikonischen Formen“ sei das ein „ganz schöner und stimmiger Text“, was Sätze wie: „Alles ist ruhig. Niemand ist tot oder pervers“ belegen würden. Insgesamt werde hier alles „sehr stichhaltig erzählt“, wobei Jandl nicht so weit wie Kollegin Meike Feßmann gehen wollte, in Stichmanns Text eine „Feier der Normalität“ zu sehen.

Feßmann: "Heile Welt, von außen beobachtet"

Bevor Feßmann an die Reihe kam, schaltete sich Daniela Strigl in die Diskussion ein und betonte die filmischen Elemente im Text, der aber auch etwas „Hans Christian Andersen-artiges" habe insofern, als da einer eine heile Welt von außen beobachte. „Eigentlich“ sei das gewählte Thema nicht „sehr originell“, der Autor mache aber durch das Spiel zwischen Traum und Realität „etwas Eigenes“ daraus mache. „Er will sich verwirklichen, träumt sich hinein in eine Familie, die keine Wirklichkeitsprobleme hat“. Insofern sei der Text raffinierter als dessen anfängliche Schlichtheit vermuten lasse: der brennende Knöchel sei das einzig reale daran, alles andere am Text „zerfließe“.

Feßmann: "Das habe ich noch nie vorher so gelesen"

„Ein großes Faszinosum“, meinte dann endlich Meike Feßmann: Denn die Verlockungen des Familiären hätte sie so noch nie irgendwo gelesen. Der Text lasse die Realität als etwas Wünschenswertes, Erstrebenswertes erscheinen. „Obwohl wir wissen – etwas Schreckliches passiert immer in Familien“. Der Rahmen sei dabei „völlig realistisch“, wobei -als reale Komponenten - auch die in der heutigen Zeit „völlig überlasteten jungen Frauen“ vorkämen, die sich am Wochenende exzessiv betrinken, um eben dieser Überlastung zu entfliehen. „Eine Feier der Normalität“ sei das, ein Hineinträumen ins Bürgerliche, bei dem das angedeutete Suspense-Element bewusst „zurückgelassen“ werde.

Eine Generationenfrage? "Familie ist für uns einfach nichts"

Corinna Caduff führte das Thema nach der lapidar-allgemeinen Feststellung: „Familie ist für uns einfach nichts“, auf die Generationenfrage zurück: den Jüngeren erscheine die heile Familie, das Spießige, anders als ihrer eigenen Generation, schon wieder erstrebenswert.
Strigl widersprach: "Der phantasiert doch haarscharf an der Idylle vorbei" - deshalb sei der Text eben als derart "geglückt" zu bezeichnen: „Das Gegenstück zu Michael Hanekes Film Funny Games“.

Spinnen: Keine zeitgenössische Besonderheit wird mir nicht klar

Nach einem Diskurs über die Arbeitsüberlastung junger Frauen nahm Burkhard Spinnen der allgemeinen Euphorie etwas den Wind aus den Segeln: Hier habe man es doch mit einem klassischen Vampir-Text zu tun: einer versuche in die Identität eines anderen zu schlüpfen, eigne sich etwas an, das ihm nicht gehöre, wobei das schon eine bedrohliche Perspektive annehme. Vor allem deshalb, weil der Protagonist eine Browning in der Tasche trage. Diese Art der Identitäts-Erschleichung habe er schon oft irgendwo gelesen, die zeitgenössische Besonderheit des Textes sei ihm, anders als den Kollegen, nicht so ganz klar geworden.