Sabine Hassinger Jurydiskussion
Der experimentelle, aus vielen Stimmen bestehende Text ließ die Jury weit über die 3sat-Sendezeit hinaus darüber diskutieren, ob Literatur in der Art Hassingers angesichts des ökonomischen Drucks und des immer notwendiger werdenden „Zeitmanagments“ überhaupt noch "zeitgemäß" sei.
Der Text, dem nicht umsonst eine Art Gebrauchsanleitung oder Besetzungsliste vorangestellt ist, spaltete die Jury mehr oder weniger wieder einmal in ein österreichisch-experimentell-affirmatives und ein pragmatisch-kritisches, „deutsches“ Lager. Weil niemand so Recht mit seiner Besprechung beginnen wollte, „opferte“ sich schließlich Hubert Winkels: „Ich wollte nicht anfangen, gebe meinem Problem aber kurz Raum, weil ich heute schon oft der erste war“.
Winkels vom Text "genervt"
Ihn habe der Umgang mit Personalpronomen im Text „genervt“ (sic!), so Winkels . Weil im Text nicht so recht klar werde, wer da eigentlich worüber spricht, sah sich der Juror denn auch genötigt, dessen Inhalt nachzuerzählen – zumindest so, wie er sich ihm erschlossen hatte. Man gerate nach und nach in ein dichtes familiäres Geflecht, dieses „Memory-Spiel“ sei allerdings „viel zu aufwendig“ - jeder Zugang zum Text, dem man sich in keiner Sekunde "einfach hingeben" könne, werde unnötig „verrätselt“. Eine doch sehr negative Einschätzung, für die es sogar schüchternen Applaus aus einer der Zuschauerreihen gab.
Keller: "Text wie eine Partitur"
Hildegard Elisabeth Keller meinte, die Autorin gebe durch ihr Videoporträt eine Fährte vor: Das Wissen, es mit einer Musiktherapeutin zu tun zu haben helfe, der Textgestaltung zu folgen: "Das ist Musik, eine Sprech-Partitur". Trotzdem musste Keller für sich feststellen: „Ich bin in diesem Strom von Wörtern orientierungslos geblieben“. Sie fühlte sich zwar an Kurt Schwitters „Anna Blume“ und die Künstler von Gugging erinnert, trotzdem bleibe der Text, für den sie eine „Lesehilfe“ einforderte, „schwer zugänglich“ und „Psychiatrie“.
Hier fühlte sich Daniela Strigl bemüßigt, etwas zur Ehrenrettung des Text beizutragen, indem sie feststellte: „Es wird hier doch einiges komplizierter gemacht, als notwendig“. Dem aus der Werbung bekannten Reflex, keine komplizierten Texte zu mögen, dürfe die Literaturkritik eben nicht nachgehen. Texte von solcher „Schönheit und Genauigkeit“ wie den Hassingers würde sie nämlich gern öfter zu lesen bekommen.Der Text sei, im Musilschen Sinne, am Besten mit den Worten „Genauigkeit und Seele“ charakterisierbar.
Strigl: Stereoklang von Glück und Unglück
Ihre Deutung des Textes, auf die Strigl jedoch keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhob: Eine Helferin, die selbst hilfsbedürftig sei, trauere um ihren toten Vater. Es gelte, seine Knochen zu sammeln, wobei auch die Mutter schwer krank sei. Die „sehr feine Textur des Textes“ lobend, meinte Strigl, dass der Text vorzeige, dass auch im Unglück Glück zu erleben sei. „Eine Partitur, die sich auch still erschließen kann. Die Gleichzeitigkeit von wichtig und unwichtig im Stereoklang, als Totenbuch und Krankengeschichte. Und ein Text über Glück und Würde und Respekt – solche Texte geben mir ein erhebendes Gefühl und sagen mir, warum ich mich mit Literatur beschäftige“.
Feßmann: "Experimentelle Schaumschlägerei"
„Viel simpler, als es hier konstruiert wird“, sah die Sache dann aber Meike Feßmann. Die familiäre Konstruktion sei zwar unangenehm, komme dabei aber doch oft vor und sei „denkbar schlicht“. „Das ist die Tochter eines abwesenden Vaters, mit dem sie sich jetzt beschäftigen will, während die Mutter ihre Krankheit zelebriert. Die zentrale Frage sei doch: „Ist die gewählte Form dem Thema angemessen?“ Für sie gehe die Geschichte mit ihrem „zerrupften Ton“, dem ständigen Gerede der Mutter, nicht auf. Wobei viele Formulierungen über das rein chaotische hinausgingen und „Kalauerartig“ würden. „Wenn Wirrnis die Form sein soll, passt das nicht“, so Feßmann. Die gewählte Form – „experimentelle Schaumschlägerei“ - bringe keinerlei "ästhetischen Mehrwert".
Keine Zeit für solche Texte?
Corina Caduff brachte auch hier die Diskussion so richtig ins Rollen, als sei die Frage in den Raum warf, ob Texte wie der Hassingers angesichts der heutigen Lebensumstände überhaupt noch „zeitgemäß“ wären. Es sei zwar „wichtig“ solch einen Text in Klagenfurt zu haben, weil er eine „extreme Herausforderung“ und eine „Text zum Durcharbeiten“ sei – doch er versperre sich auf allen denkbaren Ebenen einer Deutung. Sie fühle „zwei, nein mehrere Seelen“ in ihrer Brust: einerseits die Verpflichtung, sich als Literaturwissenschaftlerin da durch zu arbeiten, andererseits habe sie schlicht „keine Lust“ dazu. „Greift der Text das aktuelle Zeitmanagement an, gelingt ihm das, oder fällt er ihm zum Opfer? - ich habe nicht genügend Zeit, mich mit dem auseinanderzusetzen“.
Jandl forderte "Artenschutz" für das literarische Experiment
Da warf Paul Jandl beschwichtigend ein: „Die Lust am Text wird unterschiedlich groß sein – ja – trotzdem ist das ein sehr schöner und poetischer Text, an dem auch nicht alles verstanden werden muss“. Er lese ihn als „in sich verwunschenen Text“, als „Verschiebung von Identitäten“. Auf dieses „ästhetische Spiel“, diesen „Rorschach-Test“ könne man sich einlassen oder nicht – dass man es nicht mit einem realistischen Text zu tun habe, könne man sich zumindest einigen, so Jandl in Richtung Hubert Winkels, der moniert hatte, dass es keinen „österreichischen Avantgarde-Index“ gebe, der einen Text per se zum poetischen Text mache. Jandl: „Ich bin dafür das literarische Experiment unter Artenschutz zu stellen – auch wenn es scheitern kann“.
Strigl: Dem Charakter gemäß schreiben
Daniela Strigl ergriff noch einmal das Wort, um Hassingers Text gegen den Vorwurf des „Kalauer-artigen“ zu verteidigen: Von Elfriede Jelinek kenne man das, man müsse ihm diese Sprachspiele zubilligen, und dass er „gut gemacht“ sei. Schließlich gebe es auch so etwas wie eine 'Charaktergemäßheit' des Schreibens: jemand könne gar nicht anders schreiben, das müsse man gelten lassen. Die Sprache hier sei Genuss und existenziell notwendig.
Spinnen: Texte nicht auf Konsumiertbarkeit prüfen
Burkhard Spinnen erklärte zwar,“ er wolle nicht so schreiben“, bitte aber als Autor darum, Texte nicht auf ihre Konsumierbarkeit hin zu betrachten. . „Hier ist die Schwierigkeit die, dass man einer Figur zusehen muss, wie sie noch um ihre Einstellung ringt, die Haltung will erarbeitet werden, was eine große Herausforderung sei. Auch er sah, wie Strigl, die „Notwendigkeit des Temperamentes“ im Schreiben, und meinte schließlich ironisch in Richtung der von Strigl genannten Elfriede Jelinek: „Schwieriger Mensch - gut, dass die das mit den Texten hinbekommt“ … das aber zu einem Zeitpunkt, als man das Fernsehpublikum längst aus der Diskussion ausgeklinkt hatte.