Lisa Kränzler Jurydiskussion
Nach der Mittagspause wollte sich zuerst gar keiner der Juroren als erster an den Text heranwagen, was Clarissa Stadler kurz laut darüber nachdenken ließ, ob sie nicht Hubert Winkels “ernennen“ solle – schließlich habe er die Autorin nach Klagenfurt eingeladen.
Spinnen: Kindheit ist Ort, an den man nicht zurückkehren kann
Endlich erklärte sich Burkhard Spinnen damit einverstanden, die Diskussion in eine Richtung zu eröffnen, und zwar mit einem Zitat: „Die Kindheit ist eine Heimat, in die keiner von uns zurückkehren kann“. Ausnahme: die Literatur, die „exemplarische Kindheiten“ beschrieben könne. Ewiges Problem sei dabei, dass man das „kindliche Bewusstsein“ eben nicht mehr zur Verfügung habe. Bei Kränzlers Text habe man es mit dem „hoch instrumentalisierten Versuch“ zu tun, eben dies zu erreichen. Es gehe um die erwachende Sexualität, die Zuneigung zum Andersartigen, was mit „großer Souveränität“ vorgeführt werde. „Die Sätze haben die Aura des Perfekten“, wobei er, Spinnen, diese Kindheit aber nur „wie durch eine dicke Panzerglasscheibe“ betrachten könne.
Feßmann: Wie Doku-Soap auf RTL
Meike Feßmann erklärte: „Eine Böse-Mädchen-Geschichte über Missbrauch – und zwar 1. als Früh-Sexualisierung, 2. als Missbrauch der Besser-Situierten mit der Sozial-Unterlegenen und 3. der Medienbilder, der sich Frauen unterwerfen müssen“. Wobei die „Unheimlichkeit“ dieses Textes die einer „Doku-Soap auf RTL“ sei. „Literarisch gut gemacht, aber unheimlich in dem Sinne, als der Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten und damit aber auch kokettiert wird“.
Caduff: Probleme mit der Girlie-Thematik
„Gespalten“ in puncto Sprache und Thematik zeigte sich auch Corina Caduff: Während die Sprache „ganz ganz interessant und gut“ sowie mit „interessanten Setzungen“ und „großer Schärfe“ durchgearbeitet“ sei, habe sie mit der Girlie-Thematik so ihre Schwierigkeiten. „Mäßig interessant“ und „langatmig“ sei das, wenn auch mit Konzept. Vielleicht auch deshalb, weil das Thema schon so hochgradig besetzt und es schwierig sei, hier neue Setzungen zu machen. Großes Aber, so Caduff: Sie sei wahnsinnig gespannt auf das weitere Schreiben der Autorin und sehr an deren Entwicklung interessiert.
Keller: Sadistischer Unterton
„Äußerst packend und abgründig“ fand es Hildegard Elisabeth Keller, Der Text habe eine „Qualität, die einen nicht warm werden lässt“. Immer die Zügel in der Hand, sei das kindliche Bewusstsein der Erzählerin schon stark durch die Erwachsenenperspektive eingefärbt, man meine manchmal sogar einen „sadistischen Unterton“ zu erkennen – was Keller dann aber sofort wieder relativierte und lieber mit dem Charakter einer „übelllaunigen Katze“ verglichen sehen wollte.
Strigl: Reizvoll aber nicht ganz geglückt
Daniela Strigl meinte schließlich, von einigen Schilderungen in der Geschichte, wie etwa der erotischen Verzückung, sehr angetan gewesen zu sein, wenn die Sprache auch nicht an allen Stellen überzeugend gestaltet worden sei. Was ihr gefalle, sei, dass die Namen der Figuren und die des Ortes völlig offen gelassen werden: „Dadurch werden die Karten gleich auf den Tisch gelegt, es ist eine Dutzendgeschichte“. „Reizvoll, aber nicht ganz geglückt“, lautet ihr Befund.
Winkels: Elegant und souverän gemacht
Nicht ganz einverstanden mit dem Urteil der Kollegen war Hubert Winkels: Ihm sei es genau umgekehrt gegangen, sonst Kopfmensch, habe diese Geschichte seine Emotionen stark berührt, er habe sich da „angefasst“ gefühlt, wo normalerweise sein Verstand „vorneweg“ marschiere. Zu Burkhard Spinnens Kritik meinte Winkels, dass es eben genau ein solches „Zwitterbewusstsein“ zwischen Kindlichkeit und Erwachsenen-Perspektive brauche. „Elegant und souverän gemacht“ sei das, „Ich war beim Lesen kurz haltlos und wie in den Stuhl geworfen - eine Verwandlungsgeschichte“.
Den Einwurf Meike Feßmanns, hier werde doch jeder in ein Sexualobjekt verwandelt, ließ er nicht mehr gelten. „Die Sexualität ist doch das Feld, in dem das Symbolische zirkuliert“.
Jandl: Kein spröder Text
Und auch Paul Jandl schien mit dieser Kindheitsgeschichte im Gegensatz zu den bereits gehörten zufrieden: Hier werde Kindheit endlich in Literatur transformiert: „Um wie viel höher das Reflexionsniveau hier ist! Ein sehr intensiver und durchkonstruierter Text, dabei aber nicht spröde – hier wird der Leser wieder seinen eigenen Kindheitserfahrungen ausgesetzt“.
Damit schien auch schon alles gesagt, denn Clarissa Stadler konnten keinen der Juroren zu einer weiteren Wortmeldung bewegen. Allein Hubert Winkels ergänzte noch: „Naja, alles ist nicht gesagt, aber ich denke die Haltung ist Klar geworden."