Matthias Nawrat Jurydiskussion
Postapokalyptische Familie
Nawrats Text erzählt von einer Familie in einer Art postapokalyptischen Zeit, die Rohstoffe aus Kühlschränken und Mikrowellen „kocht“, um ihren Traum vom eigenen Bauernhof in Neuseeland zu erfüllen - wobei bei diesem Unternehmen auch Kinderarme verloren gehen können.
Spinnen wollte mehr
„Ist das ein abgeschlossener Text?“, fragte Burkhard Spinnen als erstes, wobei er aus seiner Enttäuschung nach der bejahenden Antwort des Autors keinen Hehl machte.
Vorher aber war Daniela Strigl an der Reihe, die diesem „süß-schmerzhaften Text“ und eine „merkwürdige Familie“ die ihrem „Kleinunternehmertum der speziellen Art“ nachgeht und dabei sogar die Gliedmaßen der eigenen Kinder zu opfern bereit ist, einiges abgewinnen konnte. Nach Neuseeland komme diese Familie natürlich nie, das sei kein realistischer Text – immerhin setze der Vater seinen Sohn gefährlichen Arbeiten aus und werde nicht zu Rechenschaft gezogen - sondern die „Parodie eines Familienidylle“, die ihr „sehr gut gefallen“ habe.
Jandl: technisch harte Welt
„Postapokalyptisch und Re-utopisch“ las den Text Paul Jandl: Die Familie lebt in einer Welt voller „Anlass-Versprödung“. Alles in dieser Welt sei „technisch und hart“ und müsse unter extremen Körpereinsatz „geborgen werden“, um das Überleben der Familie zu sichern. Mit seiner „zarten Sprache“ sei das ein „origineller“ und „hübscher Text“, der einem ans Herz gehen könne – aber eben ganz und gar keine „Parodie“ oder „Idylle“, auch keine „Kapitalismus-Kritik“, wie das später noch festgestellt werden sollte.
Spinnen: Favela-Familie aus dem Schwarzwald
„Ich gehe mit allem d'accord“, begann Burkhard Spinnen, „umso größer sei seine Enttäuschung“, dass es sich um einen abgeschlossenen Text handle. Die „kaputte Welt“ die hier geschildert werde, verwandle sich am Ende zur erlösenden „Pubertätsgeschichte“, womit sich Spinnen ganz und gar nicht einverstanden erklärte. Diese Favela-Familie aus dem Schwarzwald hole die Reste aus dem Wohlstandmüll heraus, allein die Szene in der der Abfall ausgekocht werde, sei ein „grandioser Auftakt“ dazu, wie eine „Post-Boom-Existenz“ aussehen könne . Der Text lege sich eine sehr hohe Latte, wobei der Sprung dann völlig daneben gehe. „Ein wunderbarer Text, aber nur als 1. Kapitel, bitte weitermachen!“
Winkels: Viele verschiedene Filme in einem Text
Hubert Winkels sah sich außer Stande, die unterschiedlichen Problemfelder, die der Text aufmacht, untereinander abzugrenzen, und sah hier „viele Filme“: Unternehmertum, Familiengeschichte, Naturmetaphern neben einer Puberträtsgeschichte – wenn der Text auch „sprachlich sehr konzentriert“ geschrieben sei, seien hier zu viele „parabel-nahe“, disparate Elemente nebeneinander angelegt.
Text-Verständnis: Es gab Nachhilfe von Keller
„Ich helfe ihnen gerne auf die Sprünge“, begann Hildegard Elisabeth Keller und erntete für diese Wortmeldung den Applaus des Publikums: Klagenfurt sei doch die Gelegenheit über solch exemplarische Texte zu sprechen. Hier habe man es von Anfang an mit dem „unheimlichen WIR“ einer Familie zu tun, das erzählende ICH sei so etwas wie die Firmensprecherin der Familie. Diese Kinderperspektive werde fast bis zum Ende in einer technizistischen Sprache durchgehalten. „Wenn wir eine Kindheit haben, die ökonomisiert ist, dann hier“. Der familiäre Konsens bestehe nur scheinbar und sei biografisch erzwungen, die Kindheit „unverfügbar“ – das sei doch aus der Literatur bekannt, etwa im „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész.
Die interessanteste Figur hier sei die des Vaters, der eben nicht nur die Maschinen ausschlachte, sondern auch seine Kinder ausnütze. "Diese Geschichte ist für mich exemplarisch dafür, wie ein Autor Figuren erschaffen kann, eine ganze Familie, die lebt, atmet und sich weiterentwickelt" wobei auch die Frage nach der "Liebe" hier nicht vergessen werden dürfe.
Caduff nahm Google bei der Deutung zu Hilfe
Corina Caduff fand es insgesamt etwas schwierig, angemessen auf den Text einzugehen. Sie habe "viel gegoogelt" um herauszufinden, was da an technischen und chemischen Prozessen im Text passiere, in der Hoffnung, diesem damit auf die Schliche zu kommen. Eine "gewisse Orientierungslosigkeit" habe sie bei der Lektüre nicht verlassen, sie schlingere mit dem Text hin und her. Die Sprache sei "geschliffen", was ich" aber schwierig fand, war die Schlaufe am Schluss, da hatte ich eine andere Erwartung".
Feßmann: Eine moderne Hänsel- und Gretel-Geschichte
Meike Feßmann brachte ihren Respekt vor dem Eigensinn der Geschichte zum Ausdruck, bei der es sich ihrer Ansicht nach um eine moderne Variante von "Hänsel und Gretel" handelt. Der Text sei "überhaupt noch kontextualisiert", sprich verortet, "nie im Leben" aber sei das, wie von Daniela Strigl behauptet, eine Parodie. "Für mich ist das eine realistische Geschichte", die sie an die aktuelle Situation des Schwarzwaldes mit seinen leeren Fabriken erinnert habe, wobei sie der "naive Ton" am Anfang beim Lesen sehr gestört habe - ein Eindruck, der durch den Vortrag des Autors, der ja ein "Bär" von einem Mann sei, verschwunden sei.
Da widersprach Daniela Strigl noch einmal: "Der Autor setzt seinen Sohn gefährlichen Arbeiten aus und wird nicht zur Rechenschaft gezogen, wie soll das bitte ein realistischer Text sein?"