Larissa Boehning (D) Jurydiskussion

Die in Deutschland geborene Kulturwissenschaftlerin, Philosophin und Kunsthistorikerin Larissa Boehning wurde von Meike Feßmann nach Klagenfurt eingeladen. Sie las einen Auszug aus dem Roman "Zucker".

In „Zucker“ geht es bayerisch-deftig zu und das durchaus nicht nur auf kulinarische Weise: ein Wertpapierhändler versucht sich als Erbschleicher bei einer schwerkranken Frau und kann deshalb kaum erwarten, bis sie den „Koch“-Löffel abgibt. Bis es soweit ist, kocht sie ihn aber mit bayerischen Spezialitäten ein macht ihm mit gekochter Zunge, Milzschnittensuppe, Kalbshirn und Buttercremetorte das Leben so richtig "schwer".

Larissa Boehning Lesung (Bild: Johannes Puch)Larissa Boehning Lesung (Bild: Johannes Puch)

Hubert Winkels eröffnete die erste Debatte des Tages: Der Text sei „präzise“ und fessle den Leser, indem er ihn in Unwissenheit über den weiteren Verlauf dieses „Zweikampfes“ lasse. Das sei eine ins Groteske gesteigerte Satire, die auf die Folter des Mannes hinauslaufe. „Was mir gut gefällt ist dieser existenzielle Kampf, er nutzt ihren Liebes- und Mutter-Wahn aus“. Alles in allem sei das dann aber doch ein „Well-Made-Play“ und recht überschaubar, „Man weiß was man hat“, so Winkels. Das sei gut gemacht, wenn er auch ein ambivalentes Urteil über den Text fällen müsse.

Daniela Strigl (Bild: Johannes Puch)Daniela Strigl (Bild: Johannes Puch)

Strigl: Recht gelungenes Erbschleicher-Kammerspiel

„Ein Erbschleicher-Kammerspiel“ und recht gelungen, begann Daniela Strigl. Die Rollenverteilung, wer hier wen ausnutze oder quäle, sei nicht klar. Der Mann befinde sich in einer Art „verkehrtem Schlaraffenland“ und müsse sich durch das ihm Vorgesetzte regelrecht "durchfressen". „Man beginnt Mitleid mit ihm zu haben“, so Strigl. Auch psychologische Kriegsführung reiche bei dieser Frau nicht aus, der Text „drücke regelrecht auf den Magen“. Einzuwenden habe sie aber etwas gegen die zu plakative, "offensiv-ödipale Inszenierung" von „Mutter und Sohn“ – ein Eindruck, der jedoch durch die feine Motiv-Komposition gemildert werde, so Strigl.

Feßmann: Unheimlicher aber sinnlicher Text

Meike Feßmann, die den Text eingeladen hatte, kam auf die Einwände Hubert Winkels zurück: Der Text sei ganz und gar nicht „Well-Made“ sondern „doppelbödig“, „verstörend“ und „spiele mit den Gefühlen des Lesers“. Man wisse beim Lesen nicht, was hier stattfinde: Ein unheimlicher, aber sinnlicher Text, der alles aus einer Körperlichkeit heraus mache. „Liebe geht hier durch den Magen“, der dargestellte Frauentypus werde durch kleinste Motive charakterisiert – wie etwa dem Umstand, dass die Frau beim Servieren ihre Hand unter die Buttercremetorte halte, damit diese nicht das Tischtuch beschmutze. „Ein extrem doppelbödiger Text“, so Feßmann. „Wer hier wen manipuliert ist nicht eindeutig“. Der Text sei in jedem Moment sinnlich, dabei aber nicht barock sondern auf eine sehr reduzierte Art und Weise geschrieben.

Hildegard Elisabeth Keller (Bild: Johannes Puch)Hildegard Elisabeth Keller (Bild: Johannes Puch)

Keller: Nicht reizlose Konstellation mit Asymmetrien

„Eine gastronomische Krebstherapie“ sei das, "Lebensverlängerung durch Kochen" begann Hildegard Elisabeth Keller. Eine „nicht reizlose Konstellation“ mit enormen Asymmetrien. Warum sie der Text trotzdem nicht „mehr anspringe“, habe zwei Gründe: dessen "betulicher Ton" hebe das "Schräge, das Unheimliche" zu wenig hervor, so Keller. Und, die Motivation der beiden Protagonisten sei zu offensichtlich: einerseits Geldgier, andererseits das Mutter-Sohn-Spiel mit gastronomischen Mitteln, ein konsistenter Kern sei dagegen nicht erkennbar.

Jandl: Kleinfamilie des Grauens

Paul Jandl sah eine „Ideologiekritik der Familie“ in dem Text verwirklicht. „Eine Kleinfamilie des Grauens“, in der „ziemlich viel durchdekliniert“ werde: von Ödipus bis Erbschleicherei. Die Ambivalenz des Textes sei Stärke und Schwäche zugleich. Literarisch aufgeladen, werde hier zu viel erklärt und deshalb verliere der Text an Geheimnis. Das sei zwar „enorm klug“, atmosphärisch wäre jedoch „mehr möglich gewesen“. „Das könnte noch deftiger werden“, der Mann könnte mehr „in seinem eigenen Saft schmoren“.

Paul Jandl (Bild: Johannes Puch)Paul Jandl (Bild: Johannes Puch)

Steiner: Arsen und Spitzenhäubchen

Der „Neue“ in der Jury, Juri Steiner, meinte: „Für mich ist das eine Mischung aus „Arsen und Spitzenhäubchen“, weil die alte Dame zu allem fähig sei, und dem „Narrenschiff“. „Der Versicherungsvertreter ist ein Narr und durchschaubar, sie ist die Hexe und eine Voodookünstlerin“. Hier tue sich ein Abgrund auf, bei dem er beim Lesen beginne, selbst paranoid zu werden. Beim nächsten Besuch müsse er nach dieser Lektüre bei seiner eigenen Mutter höllisch aufpassen.

Spinnen fühlte sich wie Wackeldacker auf der Hutablage

„Schön und erregend hier zu sein“, sagte dann Burkhard Spinnen: wenn er den unterschiedlichen Ansichten seiner Kollegen zuhöre, gehe es ihm wie einen „Wackeldackel auf der Hutablage“: er können allem zustimmen. Der Text habe Elemente in sich (wie die Angst, sich beim Sex mit Knochenkrebs anzustecken), die einen tief im Inneren des Menschseins berührten. Andererseits müsse er Sprache und Duktus mit Sorge betrachten. Es werde zu viel erklärt, die „pädagogische Ader“ des Textes lasse wenig Spielraum bei der Deutung, „dahinter wabert Kapitalismuskritik“, so Spinnen.