Joachim Meyerhoff (D) Jurydiskussion
Eine Buchhandlung am Münchner Marienplatz. Ein Sohn aus gutbürgerlichem Hause auf der Suche nach einem Abenteuer. Ein Kaufhausdetektiv. Ein Fotoband über das Sterben einer Hyäne und die Helden des „Zweiten Jahrzehnts“ von 1946 bis 1955, wie Truman Capote, Audrey Hepburn oder Carson McCullers.
Ein Stoff, aus dem Kritikerträume gewoben sind? Ja, wenn es nach der Klagenfurter Jury geht. „Sehr amüsant und schwungvoll“ sagte Meike Feßmann. Das sei eine Klagenfurter „Profitext“, der - eloquent vorgetragen - eine „Coming of Age-Geschichte“ erzähle.
Feßmann: Ästhetisierung des Schreckens
Ein Student spiele darin anhand verschiedener Vorbilder verschiedene Lebenshaltungen durch. Das alles sei „schön gemacht und schwungvoll“, was ihr nicht ganz gefalle sei im Vergleich mit dem ersten Text erklärbar: die Peinlichkeit und der Ekel werde bei Larissa Boehning auf reduzierte Weise erzählt, hier empfinde man diese beiden Zustände gar nicht mehr, sondern müsse nur noch über sie lachen. Es finde eine „Ästhetisierung des Schreckens“ statt, was raffiniert sei – diese Haltung, den „gedehnten Blick“ könne sich der Autor aber auch bei Genazino abgeschaut haben. Der Text rekurriere also auf Vorhandenes und habe damit etwas „Abgetragenes“ an sich und berühre nicht wirklich.
Winkels: Vom Tempo-Lesen wie in einem Film mitgerissen
Hubert Winkels dankte dem Autor für die „rasant vorgetragene“ „rasante“ Geschichte. Dem Up-Tempo-Lesen des Autors entsprechend, werde man wie in einem Film mitgerissen. Das sei „unterhaltsam und gut“, das Bücherklauen münde ein in eine „Souveränitätsbehauptungsgeschichte“ mit „klassischer Humorstruktur“. Die Hyäne fresse sich selbst – eine Motiv das sein Kontrafaktur mit dem Bild Marlene Dietrichs auf dem Titelblatt finde und in den Körper des Helden überführt werde, wenn dieser während der Flucht das Buch an sich klammere. „Ganz großartig, subtil und rasend komisch“, so Winkels. Der Detektiv sei der Dämon des Protagonisten und zerstöre ihn mit dem Satz: „Du Depp…“, indem er seine Prätention kaputt mache. Einziges Problem sei das Ende: der Cicero-Satz sei „reine Erbauung“ , eine Sentenz die dem Leser nahelege: was erlebt wurde, sei parabelhaft zu verstehen. „Der Text will am Ende bedeutsamer sein, als er es ist". Allein die Geste des Detektivs, das Buch wie ein zürnender Gott auf den Dieb zu schleudern, mache das „moralische Wollen“ des Textes augenscheinlich.
Jandl: Großformat in knallenden Farben
Paul Jandl versuchte die Rasanz des Textes in ein anderes Medium zu übersetzen, ein „expressionistisches Großformat“ mit „knallenden Farben“ um so die Schwächen des Textes aufzuzeigen: „Flucht, Rennen, Schreien, Fluchen, Flirren in bunten Farben – und es wäre trotzdem nur ein Ladendieb“. Das Ganze habe etwas Anekdotisches, so à la: "Erzähl doch die Geschichte, wie du damals das Buch geklaut hast". Die eigentliche Substanz und Handlung lebe von der Ausschmückung, er sei deshalb skeptisch. „Das sprachliche Superlativ lässt bis zum Ende nicht nach“, das sei alles „riesengroß“, der Tatbestand dagegen eher „simpel“.
Keller: Elegante Kritik ignoriert
Hildegard Elisabeth Keller ignorierte die elegant verpackte Kritik ihres Kollegen und „freute sich über das Lob“. Das sei ein ganz starker Text, der kein Plädoyer brauche. Warum sie ihn eingeladen habe, habe folgende Gründe: Hier gehe es mit dem Buch, das LIFE heiße, um das Buch des Lebens selbst. Die großen Ikonen des 20. Jahrhunderts sprängen den Protagonisten an, die Wucht der Bilder packe ihn und rufe etwas hervor, was in ihm schlummere. Zum kritisierten Ende mit der Cicero-Sentenz sagte Keller : das sei für den Protagonisten natürlich Totalquatsch, er wolle „rein in den großen Strom, wolle sich besudeln, Geschichte und Leben erfahren“. Diese Botschaft sei auf einem Metaniveau zu lesen, der Protagonist „träume Capote entgegen“.
Strigl: Ein Schelmenstück aus eigenem Erlebnis?
Strigl pflichtete bei: Das Ende sei nicht Erbauung, sondern werde hier gegen die eigene Erfahrung gesetzt. Der Diebstahl sei nicht nur mit Scham, sondern auch mit einem Glücksgefühl verbunden, so dass sich der Spruch am Ende als obsolet herausstelle. „Ein Schelmenstück“, womöglich aus eigenem Erlebnis?, mutmaßte Strigl, die sicj an einen „Comic“ erinnert fühlte. "Grell, lustig", und "prägnant geschildert“ sei das, wobei sich der Erzähler mit sich selbst „ident mache“, ganz außer Atem komme und dabei auch „einige leere Kilometer zurücklege“. Bedenken hegte Strigl ebenfalls gegen das Anekdotische des Textes, dem auf dem vorhandenen begrenzten Raum nichts entgegen gesetzt werden könne. „Die Komik lebt vom Charme der Niederlage“, es sei lustig, wenn der Protagonist scheitere. Der Text weise dabei „sehr gelungene Stellen“ auf, weil diese nicht nur auf die Pointe zugeschrieben wurden, habe aber zugleich auch einige „nicht so elegante Stellen“, wenn er etwas zwei- bis drei Mal sage.
Steiner: "Hyäne im Lammpelz"
Juri Steiner meinte: "Ich habe den Text ganz schwarz gelesen, nicht ironisch". Das sei eine „performative Lektüre“ mit Steigerungen. Vom Schwarzfahren in der Straßenbahn gehe es weiter zum Bücherklau. „Die Hyäne erwacht, und mit ihr der "autodestruktive Instinkt des Protagonisten“. Dessen Libido breche auf und vollziehe sich als „großer Sexualakt“ bei der Verfolgungsjagd in der Münchner Innenstadt - etwas, das später auch Daniela Strigl einleuchten sollte. Das Buch werde ja nicht umsonst „unter der Gürtellinie versteckt“, so Strigl. Und Steiner weiter: Die Figur sei eine „Hyäne im Lammpelz“, ihr hafte etwas Autobiographisches an. Hier werde mit dem gestohlenen Buch etwas „Totes beseelt“, das Erlebnis zerfalle und werde in der Life-Performance des Autors aufs Neue zum Leben erweckt. „Das ist ein Irrer, nicht schuldfähig“, so Steiner.
Spinnen: Kapitel aus einer untergegangenen Epoche
Burkhard Spinnen sah sich erneut in die glückliche Situation versetzt, wichtige Aspekte und Ambivalenzen des Textes bereits durch seine Kollegen genannt zu wissen. „Respekt und Neid und so…“ hege er auch, was den gelungenen Vortag des Autors anbelange. Der Protagonist setze sich hier ganz im Kleistschen Sinne der Peinlichkeit, der Schande aus. Gleichzeitig müsse er sich fragen: „Glauben sie, dass heutzutage die Leute noch Bücher klauen?“ Alles, was sich in Büchern finden lasse, vor allem Fotos, wären anderswo (im Internet) ebenfalls und leichter zu finden. Die hier betriebene „Auratisierung der Bücher“ sei ohne kulturhistorischen Kontext gar nicht zu verstehen, deshalb sei das nicht nur ein „Kabinettstückchen“, sondern trage einen „Schuss Kultur- und Menschheitsgeschichte“ in sich. Spinnen zeigte sich sehr angerührt über den Bücherklau: für ihn ein Kapitel aus einer untergegangenen Epoche.