Zé do Rock (D) Jurydiskussion
Abenteuerlich in jeder Hinsicht war das, was von Zé do Rock, dem ersten Autor dieses zweiten Tages beim Klagenfurter Wettlesen geboten wurde: „Gott is Brasilianer, Jesus anscheinend auch“ nennt sich sein Text, über den sich die Jury nicht einig werden konnte: Ist das überhaupt Literatur?
Waghalsige Rechtschreibung
Der Text beschreibt die Reise des Ich-Erzählers, eines Exil-Brasilianers, durch Brasilien. Während der Fahrt von Nord nach Süd lernt der Leser auf dieser Sprachreise nicht nur Land und Leute, sondern auch die waghalsige Rechtschreibung des Autors kennen. In "gebrochenem" Deutsch geschrieben und mit Temperament vorgetragen, sorgte der Text immer wieder für Lacher aus dem Publikum.
Keller gratulierte Spinnen für die "Fetzigkeit"
„Ich muss zuerst unserem Vorsitzenden gratulieren, was das Heben des Fetzigkeitsfaktors des ORF anbelangt“, holte Hildegard Elisabeth Keller in Richtung Burkhard Spinnen aus. Mit dem Text begebe man sich an die Ränder der Sprache und des Literaturbegriffs. „Ganz schön ist: wir alles sind Busfahrer in der Geschichte“. Der Text, eine Sammlung von Schwänken und Kalauern, sei jenen ähnlich, die in Kutschen oder im Bus erzählt würden, um sich die Zeit zu vertreiben. "Ich fühlte mich an Hape Kerkeling als Moralist erinnert." In seinem „bösartigen Brachial-Humor“ stelle sich der Text „sprachlich dümmer“ als er ist, so Keller, die darin auch Anklänge an Esperanto-Dialekte, das Jiddische („wirkt immer sympatisch“) und die Sprache der Gastarbeiter fand.
Winkels: Das erschöpft sich nach einer halben Stunde
Ein „Text wie eine Partitur“ meinte Hubert Winkels, der mehr „vorgetragen denn vorgelesen“ worden sei. „Man muss es hören und sehen“. In seiner phonetischen Bearbeitung der deutschen Sprache ein „synkretistisches Gebilde“ wie die Kirchen Brasiliens selbst, die im Text aufgezählt würden, dabei aber auch nicht viel mehr als eine Aneinanderreihung von Schwänken. „Nach einer halben Stunde hat sich das Potential des Textes erschöpft“, das trägt nicht über längere Strecken“, so Winkels, der “ungeordnete Vielfalt und einen relativ einfachen Humor“ darin sah. Klassische Klischees würden aufgereiht und wie in mittelmäßigen Komödien „aufgespießt“. Das sei von „mäßigem Rang“, auch wenn der zentrale Fluchtpunkt der Geschichte der Bachmann-Preis sei. „Wir sind das geheime Zentrum eines zentrumslosen Textes“.
Strigl: "Schlangi" hält die Angst in Schach
Daniela Strigl meinte, die Rätsel des Textes in der Sprache ausgemacht zu haben. Es sei Deutsch erkennbar, Brasilianisch, und ein merkwürdiger, nicht zuordenbarer Dialekt. Auch die Rechtschreibung entfalte ihre optische Wirkung und sei „sehr individuell“ gelöst. Auch beim selber Lesen werde man in die Sprache hineingezogen: „Man hat das Gefühl, da sitzt jemand, wahrscheinlich bei einem alkoholischen Getränk, und erzählt eine Geschichte“. Die Kindersprache halte sie für "sehr geglückt", auch „dass im Text eine Boa Schlangi genannt wird, hält diese angenehm auf Distanz“. „Mein Lieblingssatz: Eigentlich kein guter Japaner“.
Texte an den Rändern der Standardsprache hätten es hier immer schwer, schaltete sich Keller erneut in die Diskussion ein. Sie erinnerte die an Pedro Lenz, der vor ein paar Jahren in Klagenfurt gelesen hatte und mit seinem Dialekttext auf „blankes Unverständnis“ gestoßen war.
Feßmann: Wunderbares anarchisches Durcheinander
Meike Feßmann erkannte ein „anarchistisches Durcheinander“. „Das ist der Text auf den ich mich am meisten gefreut habe“. Denn beim Selbst-Laut-Lesen habe sie „Halsschmerzen“ bekommen. Dieser Text lebe von der Performance, „ist nicht wirklich Text“, sondern „brauche einen innere Stimme“. „Hier gibt es ein vollständiges Durcheinander, ohne Regeln sei es unmöglich, sich dem inneren Fluss zu überlassen. „Ein Text, der für mich als Literatur nicht funktioniere, als Performance aber wunderbar“.
Jury Steiner fühlte sich verstanden
"Als 'Schweizi' fühle ich mich diesem Text extrem verbunden“, so Juri Steiner, der damit für Vergnügen im Publikum sorgte. Das Deutsche sei für ihn als Schweizer etwas derart hochstilisiertes, dass er sich in seinem "Minderwertigkeitskomplex" den Millionen Brasilianer ähnlich und innerlich verwandt fühle. Immerhin wäre der Dadaismus auch in Zürich erfunden worden - womit Steiner einer Bogen hin zu Hugo Ball schlug, der sich durch die Worte Meike Feßmanns gekränkt fühlen müsste, so Steiner. Im Gegensatz zu Pedro Lenz werde hier extrem viel aufgemacht, ein „universelles Esperanto“, das dem Umstand Ausdruck gebe, dass es keine Ordnung mehr in der Welt gibt. Der Text schöpfe seine Kraft aus eben diesem Chaos, dem er sich als Schweizer trotz allen Klischees von Ordnung und Sauberkeit verwandt fühle. Steiner zog Parallelen zu der Filmfigur "The Big Lebowsky", der auch mit einem Cocktail in der Hand durchs Leben steuert.
Jandl entschuldigte sich für Humorlosigkeit
Paul Jandl sah den Text kritischer. Er warnte vor dem Hochinterpretieren des Textes, dieser sei kein Kabinett- wohl aber ein "Kabarettstück". "Dieses Stück Humor funktioniert wie eine Art Wurst, wo man an verschiedenen Stellen abschneiden kann". Eine Expedition ins Reich des Kuriosen. "Ein Kuriosum nach dem anderen wird vorbeigetrieben, der Autor muss nur die Flinte anlegen und trifft das Tier dann." Man habe weder über den Reisenden noch über Brasilien etwas erfahren. Das sei ad infinitum fortzuschreiben. "Ich wüsste nicht, was das liertarisch besondere des Textes ist. Man verzeihe mir meine Humorlosigkeit".
Spinnen: Literarisches Temperament ist erlaubt
Burkhard Spinnen, der den Autor eingeladen hatte, ließ den Einwadn gelten, betonte gleichzeitig aber auch, dass es eine Sache des literarischen Temperamentes sei, ob einem der Text nun gefalle oder nicht. Beim Aussuchen habe er sich auf die Seite des Autors geschlagen. Es gebe in der Literatur immer wieder Versuche, den Abgrund zwischen Literatursprache und Mündlichkeit zu schließen. Er habe sich die hier notwenige "innere Stimme" gebaut und den Text laut seinen Söhnen vorgelesen. Zé do Rock habe eine seltene Kunstsprache entwickelt. Das wolle er würdigen.