Hannah Dübgen (D) Jurydiskussion
Zuerst scheint alles normal
Ungewohnte Zugänge zum Gewohnten interessieren die Autorin Hannah Dübgen: Ein Kind kommt zur Welt. Zuerst scheint alles normal, doch dann wird für die Eltern Schreckliches offenbar: das Mädchen ist ohne Augäpfel und Lidspalte geboren. Schleichend die Erkenntnis, das nun alles anders wird. Und eine Mutter die beginnt, sich in das Leben ihrer blinden Tochter hineinzudenken.
Winkels: Kann Applaus nicht verbal fortsetzen
Hubert Winkels machte den Anfang: "Der Tag beginnt mit großem Applaus, den ich verbal nicht fortsetzen kann." Diese Rede einer Mutter an ihre blinde Tochter in „Du-Form“ sei jedoch nicht überzeugend. „Das trägt die im Text vorhandenen komplexen Reflexionen nicht“. Der Text spreche zwar wichtige Fragen an, doch ihn störe dieses „Durchspielen“ aller möglichen Situationen“, von „Glück und Unglück“, „Mitleid und Schuld“. Dass der Text vor allem visuelle Metaphern zur Anwendung kommen lasse, sei zwar ein „Trick“, „doch das müsste genauer sein“. „Auf die Länge des Textes ist das nicht gelungen“.
Feßmann lobt Ruhe und Genauigkeit
Meike Feßmann brachte die gleichen Einwände vor, wollte aber auch über die großen Qualitäten des Textes sprechen. Wenn sie auch das von Winkels bemängelte „Abgrasen“ von Themen bestätigen müsse, sei dem Text die „hohe Sensibilität“ und Genauigkeit nicht abzusprechen. Ihr habe das „Nachempfinden gut gefallen“, das „genaue Beschreiben“ mit der die Mutter ihr eigenes Lebensbild ändern müsse. „Die direkte Ansprache der Mutter an das Kind hat mir zuerst gut gefallen, wobei diese Perspektive natürlich das Problem hat, dass Informationen für den Leser in der Rede an das Kind eingeflochten werden müssen“ – das mache es „etwas unplausibel“ und letztlich zu einem „absurden Diskurs“. „Insgesamt eine sensible Geschichte, an der mir viel gefallen hat, auch im Vortag der Autorin - auf diesem Gefühlstableau aber nicht ganz geglückt“, so Feßmann.
Keller: Beeindruckt von kluger Empathie
Hildegard Elisabeth Keller lobte die „leise kluge Empathie des Textes“, das Eindringen in diese „Schattenexistenz“ einer Familie. Für sie mache die „Du-Form“ Sinn: die Mutter müsse sich in der Situation völlig neu einrichten. Der Text sei auch an das Leben gerichtet, das ihr diese Zumutung beschere. „Mich beeindrucken auch die großen Fragen, die mit der hier beschriebenen Missbildung verbunden sind. Es sei die Frage nach der sogenannten Schuld der Eltern, die Frage nach Gott, der Strafe und Züchtigung Gottes, die hier ebenfalls nicht ausgespart bleibe: im Rahmen älterer theologischer Diskurse seien Kind mit Missbildungen als eine Art "Rute Gottes“ gedeutet worden, so Keller, die von der „emphatischen Art“ des Textes schwer beeindruckt war.
Strigl: Empathie genügt nicht
Daniela Strigl stieg darauf ein und meinte, Empathie sei eine wichtige Zutat für die Literatur, genüge aber leider nicht. Der Grat zwischen Empfindsamkeit und Sentiment werde an manchen Stellen doch „deutlich überschritten“. Das gewählte „Du“ verstärke das Pathos noch zusätzlich. „Die sprachlichen Mittel sind der Tragweite des Geschehens nicht angemessen“. Ihr Einwand gegen den Text sei auch, dass „die Katastrophe“ (der Umstand dass das Kind keine Augen hat) von der Mutter erst am Tag nach der Geburt bemerkt wird.
Feßmann warf ein, das sei doch das Spiel mit dem Fehlen und dem Vorhandensein. Strigl konterte, "Aber das ist doch eine realistische Geschichte, das ist nicht glaubwürdig."
Vater Spinnen klärte über Apgar-Test auf
Burkhard Spinnen wollte zur „Aufklärung“ beitragen und erinnerte sich an die Geburt seiner eigenen Kinder. Es gebe einen 10-Punkte-Test, den der Art durchführe. Am Ende erfahre man dann, wieviel Punkte das eigene Kind bekommen habe. „Aus der Erinnerung daran hat es mir beim Lesen dieses Textes zuerst den Atem verschlagen“. Zwar werde die Wirklichkeit hier "zugerichtet“, und alles laufe in der Realität etwas anders ab. Aber es gebe in der Literaturgeschichte vor allem im 20. Jahrhundert die Richtung, dass Literatur Probleme aufzeige, ohne gleich eine Lösung für alles zu präsentieren. „Der Text macht sich die Aufgabe, eine existenzielle Katastrophe zu heilen – Literatur als Teil der großen Menschheitsapotheke“. Er habe zwar seine „Zweifel“, was den Text anbelange, müsse jedoch zur Kenntnis nehmen, dass es solch „klassische moderne Idyllen“ noch gebe. "Ich reagiere mit Zweifeln, aber das gibt es noch. Ich schlage daraus Hoffnung."
Jandl: Text kann sich nicht entscheiden
Paul Jandl stimmte Burkhard Spinnen in „gewissen Punkten“ zu. Hier werde eine „existenzielle Situation“ geschildert, eine Wirklichkeit, in der man erst zurande kommen müsse. Auch in der Realität würde für solch eine Situation vielleicht eine „dialogische Sprache“ gefunden werden, so Jandl. „Das könnte ein sehr hellsichtiger Text über Blindheit sein, leider ist er es nicht“. Die Sprache bleibe „formelhaft, und sei angesichts des realistischen Kontextes „zu poetisch“. Wenn schon, dann hätte die Autorin diese künstlich überhöhen müssen. „Der Text entscheidet sich nicht für eine sprachliche Tonlage“.
"Grundirritation bei Steiner
Juri Steiner erinnerte an das Paris Hemingways im 20. Jahrhundert: beim Schreiben in der 1. Person habe der Leser immer das Gefühl, der Schreibende habe alles selbst erlebt. Wenn es ein guter Text sei, beginne sich der Leser irgendwann mit dem dargestellten Schicksal zu identifizieren. „Von 200 Texten, die ich im Vorfeld des Ingeborg Bachmannpreises gelesen habe, habe ich auf dieses Einschleichen gewartet, und diese Grundirritation ist bei einem Text eingetreten“. Ein Text über eine Frau als moderner „Hiob ohne Gott“, der sich mit seinem Schicksal aussöhnen muss, ohne dass es den göttlichen Trost noch gebe. „Die Mutter kreiert ein Care-Team, sie nimmt dieses Schicksal an, auch ohne Gott und hat den Mut der Wahrheit ins Gesicht zu sehen“. Die Familie als „kleines Nest“ brauche die Idylle. „Etwas, was ich nicht erleben und fühlen möchte, wurde hier großartig in die Kunst und die Literatur überführt“.
Feßmann: Ohne Gott ist Familie verantwortlich
Meike Feßmann antwortete: Nicht nur Gott fällt aus, die Selbstverantwortung der Eltern werde so gestärkt, dass eine Familie mit einem behinderten Kind selbst daran schuld sei. Früher wären Gott und Schicksal verantwortlich gewesen.