Roman Ehrlich (D) Jurydiskussion

Roman Ehrlich, der von Paul Jandl nach Klagenfurt eingeladen wurde, las den Text "Das kalte Jahr". Seine Auswahl für Klagenfurt gefiel vielen Jury-Kollegen ausnehmend gut, wenn es auch Gegenstimmen gab.

Roman Ehrlich (Bild: Johannes Puch)Roman Ehrlich (Bild: Johannes Puch)

Leben in einer Welt ohne Gestern und Morgen

Die Apokalypse ist vorüber. Doch gab es überhaupt eine? Was es war, das die Welt so kalt gemacht hat, scheint aus dem Bewusstsein der Menschen in Roman Ehrlichs Text wie ausgelöscht. Der Ich-Erzähler nimmt einen kleinen Jungen namens Richard bei sich auf, der nicht über seine Herkunft redet, aber ständig an etwas Hochtechnischem herumbastelt. Eine Rohrbombe vielleicht? Wie in den Tagen zuvor war die Jury in dieser vielstimmigen Diskussion kaum zu bremsen.

Feßmann erschlossen sich Einzelteile des Romans nicht

Meike Feßmann machte den Anfang: „Eine Dystopie (Anmerkung: Anti-Utopie) in ferner Zukunft, es ist kalt und es gibt wenige Indizien, was passiert ist. Es ist eine Schwarz-Weiß-Welt, aus der alle Farben gewichen sind. Der Erzähler hat einen Ersatz-Sohn bei sich aufgenommen, den er irgendwie durch diese Welt bringen muss. Doch diese Einzelteile eines Romans werden mir hier in diesem Ausschnitt nicht klar“. Denn, so Feßmann: Es sei nicht klar erkennbar, worauf der Texte eigentlich hinauslaufe. Eine Versuchsanordnung in der „Tabula-Rasa“ gemacht wurde - doch wo führt das hin?

Winkels: Wir stochern im Nebel

Hubert Winkels fühlte sich an den Wettbewerbs-Text „Schimmernder Dunst über Coby-County“ erinnert – natürlich in dessen negativer Verkehrung. „Dort heile Plastikwelt, hier ist alles negativ und düster. Es gibt keine wirkliche Außenwelt, keine Zeit, keine Uhren.“ Diese „Zeit- und Ortlosigkeit“ sei zugleich Teil des Erzählens. „Wir stochern im Nebel“. Die Geschichte sei an das Kind Richard adressiert, es gehe darum, „wie bekomme ich Orientierung in dieser Welt?“ „Gut durchgespielt sei das“, die Geschichte sei „klug, fein gemacht“, bleibe in der „Immanenz dieser desolaten Situation“ und sei deshalb „überzeugend“.

Daniela Strigl (Bild: Johannes Puch)Daniela Strigl (Bild: Johannes Puch)

Strigl: „So kaufen Bombenbastler ein!“

„Reizvoll beunruhigend“ fand die Geschichte Daniela Strigl. Man habe es natürlich mit der Geschichte einer Apokalypse mit „lauter Einsprengseln einer katastrophalen Vergangenheit“ zu tun. Das Kind Richard sei „Nachfolger“ des Erzählers und habe das Haus in „Besitz genommen“. Die Sorge des Erzählers um dieses „Blechtrommel-Kind“ bekomme etwas Doppeldeutiges, wenn man sich die Einkaufsliste für dessen Basteleien ansehe, so Strigl: „So kaufen Bombenbastler ein!“ „Eine Art erstarrte Eiszeit. Das, was offen bleibt, ist das Plus an der Geschichte. Es braut sich etwas zusammen, das nichts Gutes verheißt“.

Keller sah nur "Umrisse des großen Berges"

Hildegard Elisabeth Keller sagte: „Ich habe keinerlei Zweifel an der Kompetenz Daniela Strigls, mir diese Geschichte aufzuschließen, aber wo sehe ich das im Text?“ Der beschriebene explodierende Vulkan sei Metapher für die Geschichte selbst - auch hier wären überall „Brocken“ verteilt: „Faszinierende Gesteinsarten zwar und Glimmer, der mich an historische Romane erinnert, aber ich sehe hier nur die Umrisse des großen Berges wie auf einer Kinderzeichnung abgebildet. „Ich sehe die Machart und die unterschiedlichen Register gefallen mir: Richard ist der kleine König und zugleich die Magma-Kammer dieses Vulkans, ich würde gern wissen wie es weitergeht, sehe es aber im Text selbst nicht - das ist der Fluch der Bachmann-Preis-Fragmentierung“, so Keller.

Meike Feßmann (Bild: Johannes Puch)Meike Feßmann (Bild: Johannes Puch)

Winkels verteidigte ästhetisches Informationsprinzip

Hier verteidigte Winkels noch einmal: „Das Flimmern und weiße Rauschen ist das ästhetische Informationsprinzip dieses Textes“. Keller fühlte sich an dieser Stelle bemüßigt, den Vergleich mit Coby County zu relativieren: der Text sei doch eher mit den Dorothee Elmigers vergleichbar. Daniela Strigl pflichtete bei: „Habe nur ich so eine böse Fantasie, ich denke sofort an eine Rohrbombe!“ „Ich auch. So sind wir mittlerweile drauf“, schaltete sich Burkhard Spinnen ein.

Jandl: Welt wurde auf Null gestellt

Schließlich war Paul Jandl an der Reihe: „Das ist eine Welt, die auf Null gestellt wurde. Ein postapokalyptisches Szenario. Der Empfang der Welt muss wiederhergestellt werden, was sich an den zu reparierenden Fernsehern zeigt, der Blick nach Außen auf die Welt muss sich ändern.“ Das Kind Richard, eine „fast emblematische Figur“, so Jandl, sei tatsächlich das Zentrum des Textes. „Er geht sicheren Schrittes seines Weges, der Erzähler kann ihm, wie wir, nur folgen“. Und in Hinblick auf Daniela Strigls These von der Rohrbombe: „Was soll in dieser Welt noch zerstört werden?“ Das Kind in dieser „Theodizee“ sei vielmehr eine Art Demiurg, von dem man nicht wissen könne, ob er gut oder böse sei. „Er arbeitet, eine Art Schöpfer-Gott, im Keller, um die Welt wiederherzustellen.“ Das sei eine „große Parabel“, von der man natürlich nur die Einzelteile zu sehen bekomme: „No na, so muss sich auch Gott gefühlt haben“. Gut oder Böse - das sei nicht unterscheidbar und gerade das sei „die treibende Kraft dieses Textes“.

Spinnen: Text holt Postapokalypse aus trivialem Genre heraus

"Intelligent und interessant“, meinte dann auch Burkhard Spinnen. Ein Verdienst des Textes sei es, das Personal und die Themen der Postapokalypse wieder aus dem „trivialen Genre“ herauszuholen. „Neblig und inkohärent“ sei das, wobei er aber gewisse Probleme mit dem Stil habe: „Etwas betulich, in verschachteltem Kanzlei-Deutsch – das Hypotaktische macht mir ein ästhetisches Kribbeln“.

Jandl verteidigte "seinen" Text

Hier protestierte Paul Jandl noch einmal, um den Text auf die richtige Stufe zu heben: Immerhin werde hier mehr Welt sichtbar und gezeigt, als etwa im „Text über den Ladendieb“ (Anmerkung: Joachim Meyerhoff), der von der Jury hochgelobt worden sei. Die Qualität des Textes „runterzutreiben“ aufs „handwerklich gemachte“ sei unangebracht. „Hab ich das den so gesagt?“ schien Spinnen erstaunt und erntete ein lautes „Ja“, auch aus dem Publikum.

Juri Steiner urteilte zum Schluss: Eine Welt wie im „Decamerone“, in der nicht zur Zerstreuung erzählt werde, sondern um sich selbst eine Anleitung zu geben, wie man zurechtkommen könne – auch hier hieß es Thumbs up.