Laudatio für Katja Petrowskaja
Vor vier Tagen wussten wir noch nicht, ob es uns noch gibt. Seit einer Viertelstunde wissen wir, der Bachmannpreis lebt und wir sind keine Fiktion. Der Überbringer der Botschaft, Alexander Wrabetz, verdient einen Fikus der Postapokalypse, mit dem die Gewinnerin des Bachmann-Preises 2013 der deutschen Sprache ein großes Geschenk gemacht hat. Ihre Erinnerungsreise zur jiddisch sprechenden Urgroßmutter in Kiew in Zeiten deutscher Okkupation zeigt ungeschützt Herz um gerade dadurch bloßer Sentimentalität zu entgehen. Gute Literaten zeigen im Individuellen das Allgemeine und Allgemein-gültige, das Exemplarische. Die Petrowskaja schafft das. Ihre Schicksale sind menschliche Schicksale, nicht bloß rein individuelle. Zum ersten Mal hab ich bei einer Lesung Menschen aus Rührung weinen sehen. In der russischen Literatur seit Puschkin scheint das menschliche irgendwie weicher, herzlicher, beseelter – mit einem Wort: vollständiger. Also gerade von der Art, wie wir es mit aller Anstrengung einfach nicht hinkriegen. Wobei mit Wollen das sowieso nichts zu machen ist. Aber das ist ein anderes Thema. Die begeisterte Aufnahme des Textes hier in Klagenfurt zeigt, dass allein schon der Ton, unserer deutschen Literatur ein ungestilltes Bedürfnis ist. Der Erzählduktus ist von einer besonderen Leichtigkeit. Das ist für mich wiederum eine sehr russische Weise, literarisch dem Leben zu begegnen. Russische Autoren lieben Wendungen an den Leser: „Überlegen sie mal“, heißt es in Gogols „Tote Seele“. Mäanderende Reflexionen kennt Dostojewski, erlaubt er seinem Raskolnikow. Und das sind halt die Namen die man kennt. Aber dies ist mehr als ein Tribut an die Patriarchen der Neuzeit. Die Urgroßmutter trippelt aus der Zeit, ihre Zeit ist der Zweite Weltkrieg. Wie eine Schuldkröte in deren Panzer Szenen aus dem Trojanischen Krieg eingraviert sind. Wie im Sattel der Aenete, dem ersten Roman deutscher Sprache, entstanden durch französischen Einfluss im 12. Jahrhundert. Ohne Impulse aus der anderssprachigen Literatur gäbe es den deutschen Roman nicht. Die Erzählerin steht wie die schöne Helena auf der Mauer. Im dritten Buch der Ilias Homers, das vielleicht existiert hat. Vielleicht in jener Zeit, die man mit Karl Jaspers als Achsenzeit des Denkens, als eine große Aufbruchszeit für die Menschheits- Geistes und Kulturgeschichte bezeichnete. Die schöne Helena steht auf der Mauer. Konversiert mit uns, Schiffe werden gezählt, bevor sie als Heeresflotte in den Krieg ziehen, damit die Geschichte, die Zeit die Ereignisse aufgehalten werden und wir atmen können. Vielleicht haben sie sich während der Lesung gewünscht: hoffentlich hört sie nicht auf, mit Lesen. Gottseidank tut sie das nicht, Katja Petrowskaja. Freuen wir uns auf nächsten Frühling, freuen wir uns auf „Vielleicht Esther“ bei "Hoffentlich-Noch-Suhrkamp".