Anne-Kathrin Heier (D) Jurydiskussion
Geschrieben in der Ich-Form, wurde Heiers Text auf Vorschlag des Juryvorsitzenden Burkhard Spinnens nach Klagenfurt eingeladen. Ein Streit auf offener Straße ist hier Ausgangspunkt der Reflexion über das Schreiben, die eigenen Süchte und Menschlichkeit an und für sich.
"Gelungen ist das"
Arno Dusini machte den Anfang: „Ich finde das ist ein ernsthafter und konsequenter Text, der in der Tradition Baudelaires und Benjamins von Großstadt, Erkenntnis und Drogenkonsum erzählt und darüber, wie sich das in einem Ich gestalten kann, das dem Urteil einer Familiarisierung entgehen will.“ Der Text funktioniere in einer Art „Logik des Alptraumhaften“, wobei sich am Ende mit dem Haus in den Dünen ein „guter Ausgang“ zeige – was aber trotzdem keine sichere Position sei. „Der Text verhandelt bestehenden Wirklichkeiten auch über das Illusionspotenzial der Literatur und deren Möglichkeiten – gelungen ist das“.
"Am rätselhaftesten ist der Titel"
„Zu den rätselhaften Dingen an diesem Text gehört ja auch der Titel – Ichtys, ein Akronym des Erlösers Jesus Christus und damit eines der zentralsten Symbole für Erlösung innerhalb des Christentums“, begann Hubert Winkels. Darin stecke aber auch „das Ich“. Der Text löse alle Normen auf, versuche sich jedweder Normierung zu entziehen: „Ein rätselhafte Text, ich versuche mich hier nur durchzuarbeiten“. Das Problem sei, dass der Text sich schreibend allen Narratologien entgegen setze und seine eigene Auflösung betreibe, Sprache werde ebenfalls als Zwangsinstrument betrachtet. Durch das Verlassen der Ordnungsgefüge gerate der Text aber in ein Dilemma.
Auch Meike Feßmann gab sich in ihrer Interpretation zwiespältig: „Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, ich fühle mich hier in die Zange genommen.“ Die Süchte und Zwänge, von denen der Text rede, würden sich auf den Leser übertragen. „Jeder Satz rollt sich über einem zusammen. Ich fühle mich wie in einem Filmröllchen gefangen“. Sie sehe zwar die „Kunstfertigkeit“ des Textes ein, dieser sei aber im Detail oft „ungenau“. Präpositionen etwa wären falsch, dabei komme der Text mit einem „ungeheuren Kunstwillen“ daher, was für sie zu einem „Overkill“ führe. „Die Geschichte implodiert darin, aus jedem Teilchen etwas noch bedeutsameres machen zu wollen und räumt dabei den Leser aus dem Weg.“
"Gefundenen Fressen für Germanisten"
„Ja solche Texte sind ein gefundenes Fressen für jeden Germanisten und Kritiker“, begann Daniela Strigl. Sie lese die Geschichte als Großstadt-Genre-Bild einer „Berliner Tristesse“, als „Thriller“ und Millieu-Studie. Der Text führe seinen „Kunstwillen“ als Programm aber auch explizit vor, und das in einer Welt in der alles zerfalle.
Hier unterbrach Feßmann: Der Text sei total exaltiert und wuchere mit seinem Talent zur Exaltiertheit alles zu. Verstiegene Bilder wären das, denen sie nicht immer folgen könne.
Strigl zeigte sich letzten Endes zwar auch „ambivalent“ in ihrer Haltung dem Text gegenüber, bezweifelte aber dennoch, dass man es mit des „Kaisers neuen Kleidern“ zu tun habe.
"Ziemlich schwacher Text"
Wenig zurückhaltend in ihrer Kritik war dann Hildegard Elisabeth Keller: „Ein ziemliches Wagnis, mit einem sprachlich derart schwachen Text zu diesem Wettbewerb zu kommen.“ Eine „zufällige Assemblage“ an Wörtern sei das hier, so Keller in Richtung Winkels, die weder dem Text noch der Autorin gut tue.
"Keiner hier ist so blöd"
Danach kam es zum Disput zwischen Winkels und Dusini. Dieser wollte etwas einwerfen, während Winkels sprach, dessen Reaktion darauf fiel heftig aus: Er drohte sogar damit, die Gesprächsrunde zu verlassen. „Lassen sie mich ausreden, Herr Dusini – sonst gehe ich. Das können wir hier nicht machen". Winkels bemängelte danach noch den „zitternden Sinn“ und die „Nichtgreifbarkeit“ des Textes, er sei sehr ambivalent, ob die Konstruktion ausreiche. Später sollte Dusini – der an dieser Stelle auf eine Wortmeldung verzichtete – darum bitten, keine Identifikation zwischen Text und Autor vorzunehmen. Man dürfe nur über „Text und Erzählinstanz“ sprechen, die biographischen Umstände müssten außen vor bleiben. Ein Einwurf, der ihm die Kritik Meike Feßmanns eintrug: „Keiner hier ist so blöd“.
"Pseudogenauigkeit" ja - aber sehr wohl Literatur
Daniela Strigl wiedersprach dann Hildegard Elisabeth Keller. Man könne den Text zwar kritisieren, etwa dessen „Pseudogenauigkeit“ an manchen Stellen, dürfe aber nicht sagen: Das sei keine Literatur. „Das geht zu weit.“ Außerdem: „Die Sprache löst sich hier nicht auf, im Gegenteil, sie prunkt. Sonst würde es nicht Ichtys, sondern Fisches Nachtgesang heißen.“
"Leben im 21. Jahrhundert"
Juri Steiner hatte davor damit begonnen, „gerne weiterrätseln“ zu wollen. Die Auflösung von Ich und Sprache sei hier sehr real dargestellt, als "Schlaf der Masse" und "Schlaflosigkeit der Großstadt". "Zwischen zwei und vier ist die Stunde der Idioten“, so Steiner, jener Menschen also, die aus der Disco und den Lokalen kämen und dann etwas kaputtmachen - diese Personen hätten auch für die Polizei kein Profil. „Es sind alle“. Der Text spiele damit auf wunderbare Art und Weise, weil auch die Hauptperson eine andere Identität annehme, die eines Fisches nämlich. „Ich als Leser werde entführt", die Autorin spiele mit der Sprachschule, nehme die Situation "Bachmannpreis" vorweg. "Extrem schön gefügt", halte der Text mit einem guten "Flow" das "Leben im 21. Jahrhundert" fest.
Eine "wunderbare Idee", reagierte Meike Feßmann auf Steiners Erklärung - wenn sie denn durchgeführt worden wäre. Auch sie habe gedacht, der "Dreh" der Geschichte sei: "Die Stadt ist die Erzählerin, und war alles so durch sie hindurchflirrt" - das sei aber nicht so konstruiert.
Menschen zu erschrecken als "Funktion der Kunst"
"Die Wesentliche Funktion der Kunst ist es, Menschen zu erschrecken - laut oder leise", meinte dann Burkhard Spinnen. "Diese impressionistischen Bilder, die heute in jeder Arztpraxis hängen, sind früher von den Leuten mit faulen Äpfeln beworfen worden."
Er suche für Klagenfurt gerne Texte aus, die sich beim Lesen einem "ersten Zugriff" entzögen. Das sei - nachdem er schon lange dabei sei - nicht immer gut gegangen. Manchmal seien diese Texte auch komplett überhört worden. Ihn mache das - denn es gehe ihm um die Begegnungen mit Literatur - ratlos. "Einen Satz zu verstehen und gleichzeitig nicht zu verstehen" sei hier "wie bei Kafka". Denn es sei Aufgabe der Literatur auf etwas aufmerksam zu machen, was man noch nicht kenne. "So spricht das 21. Jahrhundert", vielleicht eine "Marketing-Chefin", daber jedenfalls "mit einem großen und beschädigten Leben dahinter". Das seien "Dinge, die wir so noch nicht gehört haben." "Ich gratuliere sehr zu diesem Text und diesem Vortrag", so Spinnen.
Leser bleibt "im Nebel" stecken
Keller wollte das so noch nicht gelten lassen: Als Leser sei man immerhin Komplize des Textes und müsse darauf reagieren und "einsteigen" können. Das brauche aber "Sätze, die vorstellbar sind". Der Leser bleibe "im Nebel" vieler "Umständlichkeiten" stecken.